Chancenloses Wunder
Wir sitzen zusammen auf der Parkbank und schauen ihr zu, wie sie in der lauen Frühlingsluft auf dem Spielplatz tobt. Blitzschnell steigt sie die Treppe der Rutschbahn hoch. Hinter ihr eine handvoll johlende Kinder, die dankbar auf ihre Spielidee eingegangen sind. Obwohl ihr die deutsche Sprache noch nicht sehr geläufig ist, findet sie schnell Freunde. Ihre Fröhlichkeit und ihr Temperament stecken an. Jetzt läuft sie mit geröteten Wangen auf uns zu. Ihre schwarzen Kirschenaugen glänzen. Der Wind spielt mit ihren braunen Locken, die sich der Bändigung des Haarbandes erfolgreich widersetzen.
Wild umarmt sie Aisha, ihre Mutter, drückt ihr schnell einen dicken Kuss auf die Wange und setzt sogleich ihren Lauf fort, um ihren Verfolgern zu entkommen. Dicht gefolgt von der schreienden Meute, dreht sie eine Runde um die Parkbank. Dann geht die Jagd weiter in Richtung Sandkasten. Dort bleibt sie erschöpft stehen. Langsam wird ihr das Spiel zu anstrengend. Sie ringt nach Luft, während ihre Spielkameraden sie umkreisen. „Wir haben dich, du Diebin!“ schreien die Kinder vergnügt. „Jetzt stecken wir dich ins Gefängnis!“ „Papa, hilf mir!“ kreischt sie in unsere Richtung. Murat steht auf und eilt leichtfüßig in ihre Richtung. Er hebt seine Tochter mit seinen starken Händen hoch und wirbelt sie lachend im Kreis herum. Dann schaut er stolz zu uns herüber, während er sie in den Armen hält und sie sich schutzsuchend an seine Schultern kuschelt.
So sehe ich sie vor mir, wenn ich an sie denken muss. In meinen Träumen sehe ich sie in einem Meer aus Tränen treiben - ziellos und leblos. Manchmal sitzt sie auf einem Regenbogen und schaut mich an. Ihr Gesicht ist blass und ausdruckslos. Ich blicke zum Nachthimmel und suche den hellsten Stern, suche sie. Vielleicht sieht sie meine Verzweiflung und vielleicht hört sie mein Flehen um Verzeihung.
Ich bin mir sicher, dass sie ein Mädchen geworden wäre. Sie wäre einfach wunderbar gewesen. Von ihrer Mutter hätte sie die Sturheit, aber auch die Intelligenz und die Schönheit geerbt. Ihr Vater hätte ihr seinen Gerechtigkeitssinn und den Enthusiasmus weitergegeben. Dafür, dass sie in sehr einfachen Verhältnissen aufwachsen würde, wäre sie mit einer Überdosis Liebe entschädigt worden.
Es hätte einfach wundervoll werden können mit ihr, wenn sie eine Chance gehabt hätte. Wenn ich, die einzige Bezugsperson des Paares außerhalb der Familie, die beiden hätte überzeugen können. Wenn ich meine Verantwortung nicht auf den Arzt abgewälzt hätte, von dem ich erwartete, dass er die beiden auf die körperlichen aber auch psychischen Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs hinweisen würde. Wenn ich nicht fälschlicherweise angenommen hätte, dass er sie zu einer Beratungsstelle schicken würde, wo man sie hinsichtlich der finanziellen Bedenken beruhigt hätte. Wenn die beiden mehr Vertrauen in ihre Familien gehabt hätten. Wenn sie gewusst hätten, dass die Menschen ihr Kind in seiner Einzigartigkeit einfach lieben mussten. Wenn sie davon überzeugt gewesen wären, dass auch diejenigen, welche anfangs schockiert sein würden, dass das Baby drei Monate vor der Hochzeit seiner Eltern entstanden ist, bald über diese Schande hinwegkommen würden. Oder wenn sie genug Selbstvertrauen gehabt hätten, es mit ihrer Liebe auch alleine schaffen zu können.
Stattdessen haben wir sie umgebracht. Wir alle, ihre eigenen Eltern, der Arzt und ich. Wir haben ein Leben zerstört, bevor es sich uns in seiner Herrlichkeit offenbaren konnte. Jetzt bezahlen wir die Strafe für unsere Überheblichkeit. Ich leide mit meiner Freundin Aisha, wenn sie sich mit aschfahlem Gesicht vom Anblick spielender Kinder abwendet und wenn sie sich vorzeitig wegen Kopfschmerzen entschuldigt und nach Hause eilt, wo sie ihren Tränen freien Lauf lassen kann. Ihr helles, ansteckendes Lachen habe ich seither nicht wieder gehört. Vergeblich suche ich nach dem Strahlen in Aishas Gesicht, mit dem sie mich früher verzaubert hat und das mich jeweils alle meine Sorgen vergessen ließ. Darüber gesprochen haben wir nie, aber wenn sich unsere Blicke treffen, verbinden sich unser Schmerz und unsere Sehnsucht nach schwarzen Kirschenaugen.