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Chance verspielt
Ich blickte mitten in den Lauf einer Heckler & Koch USP als mir der Arsch auf Grundeis ging. Warum ich mir das Modell der halbautomatischen Handfeuerwaffe gemerkt hatte, war mir ein Rätsel und erschien mir unpassender denn je. Es passte weder zu mir, denn ich konnte Waffen nichts abgewinnen, noch zu meiner Situation. Viele Menschen mit Nahtoderfahrungen berichten, dass sich das Leben wie im Schnelldurchlauf vor dem eigenen geistigen Auge abspiele. Bei mir handelte es sich lediglich um meinen letzten Tag. Dieser hatte eigentlich ganz gut angefangen und bis zum letzten Augenblick nicht erahnen lassen, dass mein Leben ein so unerwartet, abrupt und schmerzhaftes Ende nehmen würde.
Der Wecker rappelte fröhlich auf dem Nachttisch neben meinem Bett. Nur einen Wimpernschlag später kratzte der übergewichtige Kater an der Schlafzimmertür, um mir mitzuteilen, dass auch er den Wecker gehört hatte und genau wusste, dass es Zeit für mich war, aufzustehen. Schwungvoll drehte ich mich auf die Seite, streckte dabei den linken Arm aus und ließ diesen auf den Deckel des Weckers fallen, damit er verstummte. Inzwischen hatte der Kater sein Klagelied angestimmt und versuchte mich davon zu überzeugen, dass er den gnadenlosen Hungertod erliege, wenn ich ihm nicht sofort seinen Napf mit Futter füllte. Schlaftrunken enthedderte ich mich aus meiner Bettdecke, stolperte in Richtung Schlafzimmertür und friemelte im Vorübergehen das Smartphone vom Ladekabel ab. Fingerprintscanner sei Dank konnte ich das Handy blind entsperren und Homesmart sei Dank röchelte die Kaffeemaschine los, noch ehe ich die Schafzimmertür erreicht hatte. Das Klagelied des Katers war inzwischen zu seinem Höhepunkt angelangt und ließ nun auch die Herzen sämtlicher Katzenhasser erweichen. Bei The Voice of Germany Cats hätte er jetzt sicher einen Vierer-Buzzer erreicht. Ich öffnete die Tür, stolperte über den Kater - weil sein zweitgrößtes Talent darin bestand, im Wege zu stehen – und trottete in die Küche. Routiniert goss ich mir Kaffee in die Tasse und dem Kater Futter in den Napf. An schlechten Tagen kann es hierbei jedoch noch zu Verwechslungen kommen. Doch wie gesagt, der Tag fing eigentlich ganz gut an.
Der Fairtrade Kaffee schmeckte köstlich und ließ mich nun auch geistig erwachen, während ich in meinem Handy die Facebookneuigkeiten durchstöberte und mich über einige Aluhutkommentare lustig machte. Mein digitaler Kalender erinnerte mich daran, dass ich noch zur Reinigung musste, um meinen Anzug für heute Abend abzuholen. Demnach war es Zeit für mein Badritual, welches exakt eine Stunde in Anspruch nahm und schließlich war ich bereit für die Welt da draußen.
Es war ein herrlicher Herbsttag, wie aus einem Bilderbuch. Die Sonne strahlte durch das bunte Blätterdach der Bäume und hellte selbst dem letzten Morgenmuffel die Laune auf. Den Vögeln war es noch zu warm, um den Flug gen Süden anzutreten.
Da ich noch ein paar Besorgungen für das alltägliche Leben tätigen musste, ging ich, auf dem Weg zur Reinigung, vorher noch in den lokalen Kleinladen meines Vertrauens. Ausgerechnet hier traf ich meinen Rivalen an. Sein Zahnpasta-Werbelächeln zog sich bis zu seinen Ohren hin. Insgesamt sah er aus wie die erwachsene Version von Draco Malfoy. Eine Hackfresse zum Reinschlagen. Mit seinem Aussehen schien er wie geschaffen für den Auftrag, den ich heute Abend an Land ziehen wollte. In meiner Branche konnte er damit schon gut punkten. Doch Aussehen allein sollte nicht ausschlaggebend sein. Ich hatte andere Stärken, mit denen ich überzeugen wollte. Deshalb war ich im Geiste den Plan noch einmal durchgegangen. Ich hatte mir jede Position, jeden Weg, den ich zurücklegen musste, genau eingeprägt. Die Abläufe saßen und sollten reibungslos vonstatten gehen. „Guten Morgen!“, flötete er mir fröhlich entgegen, während er sich Milch in seinen Café to go goss.
„Morgen“, antwortete ich wortkarg und hoffte, dass damit das Gespräch beendet war.
„Und? Bereit für heute Abend?“, fragte er weiter. Er schien wohl eher die Taktik anzuwenden, sich mit seinen Konkurrenten anzufreunden. Das ließ ihn gleich sympathischer wirken, aber das war doch bloß ein mieser Trick. Man freundet sich mit seinem Rivalen an, damit er einen ins Herz schloss und nicht mehr ganz die Ellbogen ausfuhr. Ich blieb bei meinen knappen Antworten, da ich sowieso nicht gut in Smalltalk war. „Ja“.
„Und? Hast du sie?“
Ich blickte ihn irritiert an: „Was?“
Seine Augen wanderten ziellos hin und her: „Na...“,
und da dämmerte mir, was er meinte, „Ja, klar, die brauchen wir ja heute.“
„Darf ich mal sehen?“
Ich schaute ihn skeptisch an: „Nee, nich hier.“
Er nickte: „Ah ja verstehe ich. Na ich sehe sie ja heute Abend, nicht wahr? Also bis dann.“
Damit verließ er den Laden und ich konnte mich meinem Alltagseinkauf widmen. Der alte Schulle hinter der Kasse fragte mich gleich verschwörerisch: „Ist es etwa heute Abend soweit?“
Ich fragte mich, ob er das aus meinem Gespräch mit dem erwachsenen Draco-Malfoy-Verschnitt geschlossen hatte oder ob irgendjemand sich wieder das Maul über mich zerrissen hatte. Niemand in meinem Bekanntenkreis sollte von heute Abend erfahren. Nicht, bevor die Entscheidung gefallen war und das sollte heute Abend erst der Fall sein. Deshalb lächelte ich süffisant: „Du wirst es morgen erfahren.“ Schulle nickte grinsend, nannte den Preis für die Waren und dann wechselte das Geld seinen Besitzer.
Die Zeit verging wie im Flug und langsam machte sich die Nervösität bemerkbar. Dennoch klappte alles wie am Schnürchen. Ich hatte mich eben bestens vorbereitet. Jede Position nahm ich korrekt ein, jeder Handgriff saß und auf die Sekunde genau lief ich die vorgegebenen Wege ab und dann...sah ich mitten in den Lauf der Heckler & Koch USP, einer halbautomatischen Handfeuerwaffe. Sie wurde speziell für militärische und behördenspezifische Aufgaben konzipiert. Die modifizierte Browningverriegelung mit patentiertem Puffersystem verminderte den Rückstoß beim Abschuss, sagte zumindest die Produktbeschreibung. Das wusste ich, weil ich diese Waffe online bestellt hatte. Es war schon faszinierend wie leicht man an eine echte Waffe gelangte. Doch das war momentan nicht relevant. Ein ohrenbetäubender Schuss erklang. Ich fiel zu Boden wie ein nasser Sack. Dann ging das Licht aus. Für einen kurzen Augenblick war alles schwarz. Nichts war zu sehen oder zu hören. Ich spürte nur das Blut, das mein weißes Hemd durchtränkte. Langsam blendete der Scheinwerfer auf. Ich lag mitten in seinem Kegel. Der Lichtkegel wuchs und wuchs. Inzwischen beleuchtete er auch meine Kollegin, welche die Heckler & Koch USP immer noch in der ausgestreckten Hand hielt. Das Kunstblut war bis zu ihrem weißen Kleid gespritzt. Der Vorhang senkte sich. Morgen würde in diesem Moment tosender Applaus von den Sitzen und Rängen ausbrechen. Tosender Applaus, in den sich schallendes Gelächter mischte. Doch dieser Applaus und auch das Gelächter würden nicht mir und meiner schauspielerischen Glanzleistung gelten. Ich hatte es versaut. In jenem Augenblick, als ich in den Lauf der Heckler & Koch USP blickte, hatte ich drei Sekunden Zeit zu reagieren. Drei Sekunden bis das Tonband einen waschechten Schuss abspielte. Drei Sekunden, in denen mir Schweiß aus allen Poren rann. Drei Sekunden für einen simplen Satz, der mir nicht einfallen wollte. Drei Sekunden, in denen ich fluchte, dass ich alles akribisch durchgegangen war, nur meinen einen Satz hatte ich nicht wiederholt. Das gesamte Stück lebte von diesem einen Satz. Es war, als hätten wir anderthalb Stunden einen Witz ohne Pointe erzählt. Nein, die Aussicht auf diese Rolle hatte ich, im wahrsten Sinne des Wortes, verspielt und mit ihr, die Chance auf ein Stipendium für die Schauspielschule.