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Chamäleon
„Wieso Szene?“, rufe ich in den Hörer. „Ich mach doch keine Szene. Ich frage sie nur, ob sie mich liebt!“
Meine Schwester findet mein Vorhaben vorschnell und unüberlegt. Das bringt mich auf die Palme, denn wenn es überhaupt eines gibt, was ich in den letzten Wochen getan habe, dann das hier: rumüberlegen.
Ich hab Annas SMS wie lateinische Texte analysiert. Ich bin Gesprächsfetzen nachgehangen wie Poker-Profis verlorenen Händen. Ich bin nachts mit nichts als Kopfhörern bewaffnet die Karl-Marx-Straße auf und ab spaziert und habe die Liebe hinterfragt.
„Bleib cool“, sagt meine Schwester. „Ist doch gar nichts passiert. Vielleicht machen wir einen Plan?“
In ihre Stimme hat sich etwas Mütterliches geschlichen, so als wäre ich 13 Jahre alt und auf dem Weg zum Zahnarzt, um mir die Weisheitszähne ziehen zu lassen.
Warum versteht mich keiner?
„Ich hab doch einen Plan“, sage ich wütend. „Ich sage ihr, was ich für sie empfinde, und frage sie, was sie für mich empfindet. Man könnte das auch Klärung nennen. Ich finde das total vernünftig.“
Meine Schwester seufzt leise in den Hörer, und es killt mich fast, dieses Seufzen.
„Mir zerreißt es gleich die Brust“, sage ich, „ich versteh's einfach nicht.“
„Was verstehst du nicht?“
„Alles. Ich fühle mich, als wäre ich die ganze Zeit im freien Fall, als wäre ich aus einem Flugzeug gesprungen.“
Für einen Moment ist es still im Hörer, und ich bin mir sicher, dass wir uns beide die Landung vorstellen.
„Ich bin gleich da“, sage ich, als die U8 am Kottbusser Tor stehen bleibt, „ich muss auflegen.“
Meine Schwester seufzt erneut. „Viel Glück.“
In der kalten Jahreszeit verleibt sich Berlin gewissermaßen selbst ein. Die Energie in der Hauptstadt geht nicht gegen Null, sie liegt im Minus-Bereich. Man kann dann förmlich spüren, wie sich Seelen in Dark-Rooms verlieren, wie Künstler aller Art sich den Kopf zermartern, wie bierbäuchige CSU-Abgeordnete Krisensitzungen in den Tiefen des Bundestags abhalten.
Und dann kommt der Frühling und alles ist anders. Die Energie explodiert in die andere Richtung, Kunst wird ausgestellt, Menschen strömen auf die Straßen, die CSU macht Urlaub in Bayern, und alles ist okay.
An einem solchen Frühlingstag habe ich Anna kennengelernt. In eben jenem Café, am Paul-Linke-Ufer, in dem wir uns gleich wieder treffen werden.
Ich ging damals zur Bar, um mir ein Bier zu bestellen. Sie trug schwarze Jeans, ein grünes Top und las Tschick.
Und weil ich das Buch so mag und sie so schön fand, sagte ich: „Schönes Buch!“
Sie drehte den Kopf und sah mich mit grünen Augen an. „Danke.“
Ich war überrumpelt von ihrem Anblick.
„Du hast das Buch auch gelesen?“, half sie mir auf die Sprünge.
„Ja“, sagte ich. „Gefällt mir voll. Bist du alleine hier?“
„Ich warte auf einen Freund.“
„Das sage ich auch immer, wenn ich irgendwo alleine bin.“
Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich warte wirklich auf einen Freund. “
„Ja, und genau das sage ich dann auch immer. Weißt du, was das Coole an Wolfgang Herrendorf ist? Er schreibt sehr exakt, aber er ist sich nicht zu schade, auch mal uncool zu schreiben. Damit nimmt er's wiederum nicht so genau. Er ist irgendwie, wie sagt man denn da … unprätentiös.“
„Hmm …“
„Findest du nicht?“
„Unprätentiös trifft's nicht ganz.“
„Doch, klar, unprätentiös trifft's voll.“
„Nein, nicht ganz.“
Als Anna reinkommt spüre ich ein Ziehen in der Brust, einen Anflug von Euphorie, die hochsteigen will. Heute trägt sie Weiß. Weiße Hose, weißes Top. Ich finde, das passt. Anna hat etwas von einem Schwan - mit einem gebrochenen Flügel.
„Hi!“, sagt sie. Ich stehe auf, und sie umarmt mich flüchtig. Kein Kuss.
Dann bestellt sie einen Minztee und beginnt zu erzählen. Von einer Party am See. Coole Leute werden da sein, coole Musik wird aufgelegt.
Vor zwei Wochen haben wir uns am gleichen See geküsst.
„Wie lange kennen wir uns jetzt?“, frage ich.
„Drei? Vier? Fünf Monate?“ Sie grinst und zuckt die Achseln – und es tut so weh.
Wie kann sie diese Frage so schlecht behandeln? Und mich gleichzeitig so süß ansehen?
Schon ist sie beim nächsten Thema, mit heiterer Stimme. „Die Doku war wirklich interessant, vor allem die Szenen in Nord-Korea. Wusstest du, dass Werner Herzog …“
Ich kann gar nicht sagen, wie scheißegal mir Werner Herzog in diesem Moment ist.
Warum merkt sie das nicht? Meine Gedanken waren doch immer ein offenes Buch für sie.
„Anna, können wir reden?“
„Reden wir nicht?“
„Was ist das hier zwischen uns?“
„Was meinst du?“
Scheiße, ist das schwer. Mich verlässt jetzt schon der Mut.
Im Übrigen: Sie hat mich zu diesem Treffen eingeladen.
„Vor zwei Wochen waren wir uns noch so nahe. Und jetzt ist irgendwas anders. Ich versteh's nicht.“
„Alex, ich hab dir doch gesagt, dass meine letzte Beziehung sehr schwierig war. Ich brauche Zeit.“
Der Ex-Freund, der sie misshandelt hat. Der Studienabbruch. Die schwierigen Eltern. Wir haben uns alles erzählt und verstanden uns so gut.
Verzweifelt fasse ich mir an die Stirn.
„Du brauchst nicht wütend werden“, sagt sie und verzieht das Gesicht, als hätte ich ihr wehgetan. Der gebrochene Flügel kommt nun zum Vorschein. Normalerweise tröste ich sie, wenn das passiert, doch nun schüttele ich den Kopf. „Und ich dachte, ich bin derjenige, der ungern über Gefühle redet. Das meintest du doch, oder? Und dennoch: mit dir konnte ich reden.“
„Du hast mir sehr viel erzählt, das stimmt.“ Etwas Giftiges blitzt plötzlich in ihren Augen auf, und für einen Moment bin ich sprachlos.
„Was hab ich denn falsch gemacht?“, frage ich.
„Was habe ich denn falsch gemacht?“
„Gar nichts, Anna, ich möchte nur wissen, was zwischen uns läuft. Ich mag dich offenbar - muss ich das jetzt ausbuchstabieren?“
„Alex, wenn du willst, dass ich gehe …“ Sie greift nach ihrer Handtasche, und ich kann immer noch nicht verstehen, was hier passiert.
Bin ich verrückt geworden?
„Seh ich so aus, als würde ich wollen, dass du gehst? Ich will doch nur …“ Warum fällt es mir so schwer? „Wir schreiben uns jeden Tag, Anna, wir treffen uns mehrmals die Woche, wir umarmen uns und küssen uns und sind füreinander da.“
Doch je mehr ich sage, desto schlimmer wird’s. Vor meinen Augen verwandelt sich mein verletzter Schwan in etwas Giftiges. „Willst du, dass ich gehe?“, fragt sie.
„Nein, Anna, das will ich nicht! Ich will, dass du bleibst!“
Ihre Augen werden rot, die Muskeln spannen sich an.
„Dann sag's mir halt, Anna! Ich will es hören! Dass wir nur Freunde sind. Dass wir niemals ein Paar werden. Kein Küssen, keine Liebe, kein gar nichts! Ich muss es hören!“
„Wir werden nie ein Paar, Alex! Nie!“
Ihre Worte reißen ein Loch in meinen Bauch. Bis zu diesem Augenblick dachte ich wirklich, sie sei mein Mädchen.
Draußen geht Berlin weiter. Die Sonne scheint auf den Kanal, die Menschen quatschen fröhlich.
Renn weg, denke ich, hau ab. Doch kaum habe ich diesen Gedanken gefasst, ist Anna wieder der Schwan. Sie hat den Blick gesenkt und leidet vor sich hin, als wäre sie in einem Käfig gefangen. Blut fließt aus ihrem Flügel und färbt die Federn rot. Es ist ein schrecklicher Anblick, einer, den man kaum aushalten kann.
Siehst du das Blut denn gar nicht, Anna? Warum lässt du zu, dass es dein Gefieder zerstört?
Ich will sie fragen, was los ist. Ich will ihr helfen. Ich will sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass alles gut wird.
Aber das habe ich schon so oft, und ich kann einfach nicht mehr.
Anna nimmt ihre Handtasche, steht auf und geht.
Und wieder stehe ich am Kotti. Ich vermeide Blickkontakt mit allen, kämpfe mit den Tränen und warte auf die U8.
Meine Schwester ruft an. „Wie lief's?“
„Bin ich eigentlich verrückt? Wenn es so ist, sag's mir bitte.“
Sie seufzt. „Du bist nur unglücklich verliebt.“
„Es macht alles keinen Sinn.“
„Es macht nicht immer alles einen Sinn.“
„Das hier ist was anderes.“
„Es fühlt sich nur so an.“
„Nein, es ist was anderes.“
Spät am Abend, als ich schon im Bett liege, bekomm ich eine SMS von Anna: ein Link zu einem Text aus Wolfgang Hernndorfs Blog. Kein Kommentar, kein Emoticon, kein wie geht’s? - nur der Link.
Ich blicke lange aufs Handy, atme bewusst durch.
Wir werden nie ein Paar, rufe ich mir Anna Worte wieder in den Sinn, niemals!
Dann klicke ich drauf.