Mitglied
- Beitritt
- 20.07.2015
- Beiträge
- 12
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Chalowud
Jenny wachte plötzlich auf. Da war es schon wieder. Das Geräusch. Dieses Mal war sie sicher – das war kein Traum. Sie schaute auf ihr Handy, fast 3 Uhr morgens. „Ich muss zumindest noch ein paar Stunden schlafen!“ dachte sie verzweifelt. Noch eine schlaflose Nacht und sie könnte tatsächlich ihren Job verlieren. Sie war so unaufmerksam und durcheinander in der letzten Zeit. Zwar war das kein Traumjob, aber ihn zu kündigen, konnte sie sich nicht leisten.
„Da! Schon wieder! Was ist das?“ Es klang wie … Schnaufen. Ja, sie hörte es definitiv. Jemand hatte sich in der Dunkelheit versteckt. Oder vielleicht etwas? Auf einmal erinnerte sie sich an alle Horrorfilme, die sie je gesehen hatte, und zitterte bei der Vorstellung, dass es etwas Ähnliches sein könnte. Sie wollte sich umdrehen und das Licht anschalten, aber konnte sich vor Angst gar nicht bewegen. „Mist! Warum musste ich die Rollläden so dicht schließen?!“ Sie hörte, wie es sich näherte, und erstarrte vor Panik. Das Schnaufen war jetzt sehr nah. Sie konnte es praktisch auf ihrer Haut spüren. Sie wollte ihr Bein, das unbedeckt war, wieder unter der Decke verstecken, als etwas sie genau an dem Bein packte und Richtung Bettende zog. Sie schrie, als sie unter die Bettdecke rutschte, aber plötzlich verschwand das Bett unter ihr, und sie fiel in die Dunkelheit.
Jenny landete auf etwas Weichem und Feuchtem und blieb seltsamerweise unverletzt. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sie war, dafür aber eine Menge panischer Angst. Sie berührte den Boden um sich herum, es fühlte sich wie Gras an. "Es ist okay", beruhigte sie sich, "es geht mir gut." Sie sah sich um und konnte erkennen, dass sie im Wald war; es war dunkel und still. Zu still. Da hörte sie wieder das bekannte Schnaufen. Wer oder was auch immer sie hierher geschleppt hatte, war auch da! Sie schaute sich noch mal um, aber konnte es nicht sehen. Sie fühlte jedoch, dass es hier war, dass es auf einen passenden Moment wartete, um sie anzugreifen. Plötzlich sah sie ein schwaches Licht in der Ferne. „Ich muss dorthin kommen“, entschied sie. Sie sprang auf und lief so schnell sie konnte auf das Licht hinzu.
Der Waldboden war zwar mit Laub bedeckt, aber hin und wieder trat sie auf etwas Hartes und Stacheliges, was ihren nackten Füßen sehr wehtat. Sie wurde nicht langsamer. Die Äste der Bäume und Büsche schlugen ihr ins Gesicht und rissen ihr Nachthemd. Sie hielt nicht an. Sie fühlte, dass es sie verfolgte und dicht hinter ihr blieb.
Bald sah Jenny eine Hütte, woher dieses schwache Licht stammte. Sie rannte hin und trommelte an die Tür. Unter dem Druck ihrer Fäuste gab die Tür nach; Jenny huschte blitzschnell hinein und warf die Tür hinter sich zu.
Die Hütte war leer. Nur die Kerzen brannten an den Wänden. Sie war sehr enttäuscht und konnte fast heulen. „Und was jetzt?“ Die Angst breitete sich wieder auf. Kaum hatte sie das gedacht, als die Tür aufsprang und eine Ziege purzelte herein. Sie schlug drei Purzelbäume und verwandelte sich in einen Mann.
Jenny glotzte mit weit aufgerissenen Augen den Ziege-Mann an und zitterte. Unter normalen Umständen würde sie ihn sogar attraktiv finden: dunkle Haare und Augen, groß, schlank und sehr gut aussehend, er konnte definitiv die weiblichen Blicke fangen. Aber in jenem Moment war sie natürlich weit davon entfernt, über seine Reize nachzudenken. Sie starrte ihn nur an und wunderte sich, was nun passieren würde.
„Ziemlich unfreundlich, die Tür vor meine Nase zuzuschlagen“, blökte der Mann. Dann räusperte er sich und fügte in einer tiefen Männerstimme hinzu: „Nicht wahr?“
Jenny hörte auf zu zittern und war jetzt mehr neugierig, als ängstlich.
„Entschuldigung“, murmelte sie.
„Setz dich“, befahl der Mann.
„Es gibt keine Stühle.“
„Und was ist das?“
Jenny schaute in die Richtung, in die er mit dem Finger zeigte, und sah einen Stuhl, der, wie aus dem Nichts, in der Mitte der Hütte erschien. Sie setzte sich hin.
„Wo bin ich hier?“ fragte sie.
„In meiner Hütte.“
„Wer bist du denn?“
„Mein Name ist Chalowud, ich bin ein Dämon... Dämon der verlorenen Träume, der vergessenen Hoffnungen. Ich ernähre mich von der Frust und dem Kummer der Menschen, die ihre Chancen verpasst haben.“
Jenny zuckte auf.
„Ist dir kalt?“ fragte der Dämon.
Jenny nickte abwesend, obwohl sie selbst nicht wusste, ob ihr kalt war oder sie von der Irrealität und Absurdität der Geschehnisse zitterte.
Chalowud schwang mit der Hand und, genauso wie der Stuhl vorher, ein Kamin erschien in der Hütte. Er schnippte mit den Fingern und das Feuer flammte auf.
„Etwas zu trinken?“ Der Dämon kam näher und sie sah ein Schnapsglas in seiner Hand, das er ihr reichte. Sie trank es ohne zu zögern – was hätte es denn für einen Sinn? Es war etwas furchtbar Starkes, ihre ganze Speiseröhre brannte, aber sie fühlte sich tatsächlich besser. Das Zimmer wurde sehr schnell warm; die Wärme des Feuers und dieses seltsames Getränks half Jenny sogar, sich ein bisschen zu entspannen.
Chalowud stand immer noch sehr nah, und Jenny bemerkte, dass seine unnatürlich helle, fast schon weiße Haut einen extremen Kontrast zu seinen schwarzen Haaren und Augen bildete.
„Aber seine Augen sind doch gar nicht schwarz“, dachte Jenny benebelt, „sie sind grün. Obwohl nein, sie sind schwarz…“ Sie fühlte sich angetrunken; sie schaute in seine Augen und erschreckte sich – sie waren leer. Kein Gefühl, kein Leben war drin zu sehen, nur angsteinflößende, überwältigende, alles absorbierende schwarze Leere. Das Gefühl der Angetrunkenheit verschwand genauso schnell, wie es kam.
„Warum bin ich hier?“
„Machst du Witze?“ der Dämon brach in Gelächter aus. „Du bist doch eine perfekte Mahlzeit!“
„Ich? Warum? Ich bin erfüllt, habe einen guten Job und einen…“
„…netten Freund. Bla bla bla“, unterbrach der Dämon und wurde plötzlich sauer: „Wen willst du hier verarschen? Mich etwa? Wer hasst seinen Chef? Wer verabscheut seinen Job? Wer ist so miserabel und unglücklich, dass er nachts nicht schlafen kann? Wer hat seinen Traum für einen stabilen Monatslohn verkauft? Wer hat seine Pinsel, Leinwände und komplette Malausrüstung unter einem Haufen nutzlosen Kram im Abstellraum versteckt? Du hast keine Ahnung, wie viele Ausreden ich über die Jahrhunderte gehört hatte. Aber deine ist am wenigsten kreativ. Und das von einer Künstlerin. Na gut, einer möchte-gern Künstlerin. Wenn du schon deinem Gewissen den Mund mit Ausreden vollstopfen willst, dann musst du dir was Besseres einfallen lassen.“
Er beruhigte sich wieder und fuhr fort: „Ich könnte ein Buch darüber schreiben, wie die Menschen sich belügen. Wie sie in der Routine versinken und alleine bei dem Gedanken, ihre Komfortzone verlassen zu müssen, die Schweißausbrüche bekommen. Angst vor Veränderungen, Angst alleine zu sein, kämpfen zu müssen, Angst zu versagen. Weiß du aber, wovor ihr euch alle in Wirklichkeit fürchtet? Eurem wahren Ich zu begegnen, zu erfahren, was ihr wert seid!
Also lebt ihr unzufrieden, von dem Frust von innen gefressen, meckert über euer erbärmliches Leben und wartet, bis es sich bessert, ohne dass ihr etwas dafür tun müsst. Ihr schlüpft so gerne in die Opferrolle. Und ich nutze das so gerne aus, denn je mehr ihr leidet, desto stärker werde ich.“
„Das ist grausam!“
„Oh, entschuldige“, spottete er. „Was erwartest du von mir? Ich bin ein Dämon!“
Er lachte wieder, sehr zufrieden mit sich selbst.
„Mir ist egal, was in den menschlichen Köpfen geschieht und warum. Ich will bloß meine Nahrung haben. Und von dir erwarte ich eine große und leckere Portion Frust. Du warst gut und hättest was erreichen können. Solche wie du bieten die besten Mahlzeiten. Bald wirst du so depressiv und unglücklich, dass du alles verlieren wirst, sogar dein Leben.“
„Man stirbt nicht vor Unglück.“
„Da irrst du dich, meine Liebe. Natürlich stirbt man vor Unglück. Warum denkst du sterben die Menschen? Vor Herzinfarkt?“ Und wieder dieses höhnische Lachen. Die Vorfreude auf ihr Leiden ließ seine leeren grünschillernden Augen abscheulich funkeln.
„Du bist widerlich!“
„Ah-ah! Stopp! Es ist Zeit für dich zu gehen! Aber wir sehen uns bald!“ Plötzlich sperrte er den Mund angelweit auf und gab einen schrillen, durchdringenden, sehr unangenehmen Laut von sich. Er kam immer
näher und wurde immer lauter, bis Jenny seinen Schrei mit ihrem ganzen Körper spürte. Sie kniff die Augen zu und bedeckte die Ohren.
Jenny wachte plötzlich auf. Neben ihrem Bett schrillte der Wecker. Sie drehte sich im Bett um und machte ihn aus, aber es klingelte in ihren Ohren weiter. Sie schüttelte den Kopf: „Was für ein Traum!“ Sie fühlte sich schrecklich, völlig erschöpft, so, als ob sie die ganze Nacht unterwegs war. Sie zwang sich aus dem Bett und machte sich für die Arbeit fertig.
Ausgerechnet heute gab es viel Stress. Und sie konnte sich vor Müdigkeit gar nicht konzentrieren. Auch der Chef war äußerst mies gelaunt und ließ seine Mitarbeiter es den ganzen Tag spüren. Als sie endlich wieder zuhause war, fühlte sie sich krank und verkroch sich ins Bett. Sie konnte nur für ein paar Stunden ausschalten, dann war sie wieder wach.
Mit jedem Tag wurde es schlimmer. Nach drei Wochen musste sie sich krank melden. Sie konnte am Telefon hören, wie der Chef vor Wut mit den Zähnen knirschte, aber ihr war es jetzt egal.
Sie dachte viel über ihren seltsamen Traum nach. Der Dämon hatte Recht, alles, was er sagte, stimmte. Sie hatte schon vergessen, wie gerne sie eigentlich malte. Sie träumte davon, eine erfolgreiche Künstlerin zu werden, Ausstellungen in verschiedenen Ländern zu haben, mit ihrer Kunst die Menschenseelen berühren und die Welt ändern. Aber träumt nicht jeder von etwas Ähnlichem? Träumt nicht fast jedes Mädchen davon, eines Tages eine Sängerin oder Schauspielerin zu werden? Meistens bleibt es aber nur beim Träumen. Meistens werden sie nicht wahr.
Sie wollte Kunst studieren, warum hatte sie das nicht gemacht? Hatte sie Angst vorm Versagen? Hatte sie sich nicht getraut? Oder an sich nicht geglaubt? Oder hatte sie wirklich Angst, ihrem wahren Ich zu begegnen?
Sie hatte sich damals versprochen, das Malen nie aufzugeben. Aber wann hatte sie denn zum letzten Mal was gemalt? Sie konnte sich nicht erinnern; wie sie sich auch nicht erinnern konnte, wann sie ihre Malsachen im Abstellraum abgelegt hatte. Sie wusste noch, dass sie immer wieder Gewissensbisse hatte, weil sie sich keine Zeit fürs Malen nahm. Aber sie lernte, sie zu ignorieren, und sie ließen mit der Zeit nach.
Nur die leichte Traurigkeit war geblieben, die beim Gedanken ans Malen hochkam. Jenny mochte das nicht, also hatte sie so wenig wie möglich daran gedacht. Wann sie sich letztendlich damit abgefunden hatte, auch wenn das eher unbewusst war, das Malen komplett aufzugeben, wusste sie nicht. Aber das Gefühl, etwas verloren zu haben, hatte sie schon lange nicht mehr.
Sie hatte versagt. Sie fühlte sich völlig wertlos. Das, was sie vielleicht besonders machte, hatte sie aufgegeben. Jetzt war sie eine von vielen Spezialisten, die täglich die Erniedrigungen des selbstverliebten und arroganten Chefs ertragen mussten. Und es gab niemanden, den sie dafür verantwortlich machen konnte, das war alleine ihre Entscheidung.
Sie ging zum Abstellraum und holte ihre Malausrüstung. Die verstaubten Sachen anzusehen, tat sehr weh. Es gab einen Grund, warum sie genau da lagen, versteckt unter dem nutzlosen Kram. Sie hatte sich selbst betrogen. Sie hatte vergessen, wie es sich anfühlte; jetzt fühlte sie nichts mehr.
Sie versteckte sich unter ihrer Decke und weinte tagelang. Sie konnte keine Kraft finden, um weiter zu leben. Sie sah keinen Sinn mehr.
Dann träumte sie wieder von Chalowud in seiner Hütte. Er tanzte und sang. Plötzlich drehte er sich zu ihr und lachte. Er rieb sich zufrieden die Hände und lobte sie: „Du machst es sehr gut, Jenny! Sehr gut!“ Sie wachte sehr wütend auf. So schnell würde sie sich nicht geschlagen geben. „Es kann nicht sein, dass es so endet! Es kann nicht sein! Ich will es nicht.“
Sie schüttelte die Traurigkeit und Regungslosigkeit der letzten Wochen ab und putzte ihre Wohnung, die schon langsam wie ein Saustall aussah. Die ungewohnte Anstrengung machte sie schnell müde, aber die seelische Zufriedenheit, endlich wieder die Kontrolle über ihr Leben zu erlangen, glich das aus.
Sie saß in ihrer strahlend sauberen Küche, trank Kaffee und rauchte. Was wird sie jetzt machen, wie wird es weiter gehen? Sie wusste es nicht. Aber es gab Dinge, über die sie sich sicher war, und sie mussten so schnell, wie möglich erledigt werden.
Sie kündigte ihren Job und ihre viel zu große für sie alleine Drei-Zimmer-Wohnung und zog in ein Studio- Apartment um. Jetzt hatte sie endlich Zeit und nötige Ruhe, um wieder zu sich selbst zu finden.
Erst nach einigen Monaten konnte sie wieder malen. Sie fühlte es wieder und das gab ihr Hoffnung. Sie wusste nicht, was die Zukunft bringt, aber sie lernte, ihr Leben endlich zu genießen.
Die Zeit verging und Jenny konnte sogar die kleinen Erfolge feiern. Das erste Bild, das sie in ihrem neuen Leben malte und worauf sie sehr stolz war, hing nun in einer Galerie und genoss eine Menge Aufmerksamkeit. Man redete über Jenny, sie war „eine vielversprechende Newcomerin“.
An einem Wochenende kam Jenny spät nach Hause. Sie war mit ihren Freunden aus und war zwar ziemlich müde, aber dennoch sehr zufrieden. „So füllt sich das also an, wenn man erfüllt ist“, dachte sie, als sie sich ins Bett legte. Sie gähnte und streckte sich und in wenigen Minuten hatte sie schon fest geschlafen.
Sie wachte im Wald auf. Diesmal hatte sie keine Angst. Sie ging langsam zu der bereits ihr bekannten Hütte. Chalowud saß am Tisch und schien kleiner zu sein, als sie ihn in Erinnerung hatte.
„Ach, Jenny, meine alte Bekannte, komm doch rein. Ich habe auf dich gewartet.“
„Ich bleibe aber nicht lange. Ich wollte dir bloß sagen, dass du dich geirrt hast! Das Leben hat auch für dich Überraschungen übrig. Ich bin erfüllt! Ich bin glücklich! Und ich werde dich nie wieder sehen!“
Der Dämon lachte und seine Augen funkelten:
„Oh, Jenny, Jenny. Du bist so rührend in deiner Naivität! Denkst du wirklich, dass irgendetwas, was mit dir passiert ist, eine Überraschung für mich war? Ursprünglich wollte ich mich an deinen Gefühlen ernähren, das ist wahr, aber dann habe ich mir was Besseres überlegt. Letzte Zeit ist es für mich schwieriger geworden, an die frustrierten Menschen heranzukommen – so gut habt ihr gelernt, eure Gefühle zu unterdrücken.
Nun wird sich das ändern. Dank dir! Und dank deinem Bild! Übrigens super gemalt, ich sehe darin richtig gut aus, meine Augen kommen ganz schön zur Geltung. Aber denkst du, hättest du so ein Meisterwerk ohne meine Hilfe geschafft? Oh, Jenny, es tut mir so leid, dich enttäuschen zu müssen.
Wie auch immer, dein Bild ist in der Öffentlichkeit und das ist genau das, was ich wollte. Es wird alle Versager, wie magisch, anziehen, und ich werde bald stärker sein, als je zuvor! Du dachtest, du hattest mich besiegt, meine liebe Jenny, und dass du mich nie wieder sehen musst? Wie hast du dich geirrt, oh wie hast du dich geirrt!“