Mitglied
- Beitritt
- 21.01.2016
- Beiträge
- 206
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Central Intelligence
„Betty!“
Anthony Mayweather war fassungslos. Erschüttert griff er nach dem Schaft des Messers, das sie ihm in den Leib getrieben hatte. Es war an einem Rippenknochen entlanggeglitten, hatte das Herz verfehlt und steckte nun in seiner Lunge.
„Betty...“, flüsterte er ungläubig und sein Blick glitt hinüber zu dem Messerblock auf der Anrichte. Es musste sich um das Fleischmesser handeln, denn sein Einschubfach war leer. Das Set war ein Geschenk seiner Mutter zu ihrer Hochzeit.
„Du wirst es nie zu etwas bringen“, giftete Betty. Ihre Augen funkelten schwarz und bösartig. Sie trug das betörende Hochzeitskleid mit dem tiefen Rückenausschnitt und den Flügelärmeln. Trotz ihres ungezügelten Zornes sah sie bezaubernd darin aus.
„Verdammt zu einem Leben in diesem Loch“, fauchte sie empört und unterstrich ihre Missbilligung mit einer verächtlichen Handbewegung. „Apartment zweiundsiebzig im 202ten Stock von diesem ... diesem … Ding.“ Sie warf den Kopf in den Nacken und brach in hysterisches Lachen aus. „Mister Durchschnittsangestellter, Mister Nullnummer.“ Ihre Stimme war so schneidend wie die Klinge des Messers. Ruckartig wandte sie sich ab, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen.
Mayweather blickte auf den gefüllten Rollbraten, der auf der Anrichte dampfte. Der betörende Geruch des gebackenen Fleisches und der Gewürzaromen fesselte ihn. Nur zu ihrer Hochzeit hatten sie sich diesen nahezu unerschwinglichen Luxus leisten können ... oder wollen. Betty hatte unbeirrt auf dieser Verschwendung bestanden und er willigte letztendlich verdrossen ein.
Sie trug nun einen verschmutzten weißen Kittel und lehnte sich lässig auf die Anrichte. Einige Strähnen hingen wirr vor ihrem makellosen Gesicht. Anrüchig zog sie an einer Zigarette bis ihre Wangen einfielen, um den Rauch in einer großen Wolke wieder auszustoßen, die ihren Kopf umhüllte.
„Du bist ein erbärmlicher Verlierer“, erklang es nüchtern aus dem Dunstschleier. Sie nahm noch einen weiteren Zug, blies den Rauch aus und drückte den Zigarettenstummel in die knusprige Kruste des köstlichen Braten. Dann zog sie das beachtlich lange Kochmesser aus dem Block und schlenderte mit verstohlenem Gesichtsausdruck auf ihn zu.
Anthony Mayweather schlug verstört die Augen auf. Einige Sekunden blickte er deprimiert in die Dunkelheit des Raumes.
„Sally, gedämpftes Licht bitte“, sagte er kaum vernehmbar.
„Guten Morgen, Anthony“, erklang Sallys samtweiche Stimme. Sie tauchte den Raum in warme Blautöne.
„Wie spät ist es?“
„Es ist fünf Uhr sechsundfünfzig. Hatten sie wieder Albträume?“
Mayweather drehte sich auf den Rücken, spannte die Muskeln und streckte sich. Ein langes Gähnen trieb ihm Tränen in die trockenen Augen. Er spürte die Spannung der Haut in Mundwinkeln und Wangen.
„Dieses Mal hat mir Betty ziemlich zugesetzt“, raunte er mehr zu sich selbst. Ein gequältes Schmunzeln überzog sein Gesicht. Er lachte lautlos, vernahm aber auch den bitteren Anflug von Trauer in dieser Regung. Sein Lächeln verblasste schlagartig und hinterließ eine bedrückende Mattheit.
„Ihre Trennung von Betty hat einen zunehmenden Einfluss auf ihre emotionelle und physische Gesundheit und beeinträchtigt ihr Wohlbefinden, ihre Konzentration und ihre Leistungsfähigkeit, Anthony. In diesem Gebäude befinden sich qualifizierte Therapeuten, die sie bei der Bewältigung der Problematik unterstützen können.“ Sallys machte eine kurze Pause. „Es ist sechs Uhr, ich fahre die Jalousien ein.“
Das immer gleiche, triste Licht eines verwaschenen und aschfahlen Himmels drang wie grauer Nebel in den Schlafraum. Mayweather gähnte noch einmal und rieb sich mit den Handrücken die Tränenflüssigkeit aus den Augen. Schlaftrunken zog er die dünne Decke zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. Seine nackten Füße berührten den geheizten Fußboden und er schloss für einen Moment die Augen. Die Wärme unter den Fußsohlen entspannte ihn. Ein Augenblick, den er jeden Morgen genoss.
„Ich werde es in Betracht ziehen, Sally“, beteuerte Mayweather, zog es jedoch nicht ernsthaft in Erwägung. So liebestrunken ihre Beziehung begonnen hatte, so kaltherzig endete sie. Er fühlte sich immer noch zu Betty hingezogen und in vielen Bereichen seines Lebens hatte sie eine beträchtliche Lücke hinterlassen. Doch ihre aufreibenden Konflikte hatten einen Abgrund aufgebrochen, dessen Kluft nicht mehr zu überbrücken war. Bettys Schönheit beglückte nun einen Regionalleiter der Food Logistic, der ihren Ansprüchen standhalten konnte. Einige Wochen kalter Entzug und Abkehr von alten Gewohnheiten und dann würde er wieder lebensfroh nach vorn blicken können, davon war er überzeugt. Dort draußen gab es Milliarden beziehungswilliger potenzieller Partnerinnen, er würde eine attraktive und ansprechende Lebensgefährtin finden, daran gab es keinen Zweifel.
„Ihre Gleitbahn fährt in fünfundvierzig Minuten ein. Die Außentemperatur beträgt vierzehn Grad bei böigem Wind und leichtem Nieselregen. Für den Nachmittag liegt eine Sturmwarnung vor. Sie wirken erschöpft, Anthony. Soll ich ihre Vitalwerte scannen?“ In Sallys Stimme schwang ein Hauch von Besorgnis.
Mayweather rubbelte sich mit den Handflächen das Gesicht, erhob sich und trottete gemächlich zum Sicherheitsfenster hinüber, welches nahezu die gesamte Wand ausfüllte. Auch das war ihm zu einer angenehmen Routine geworden.
„Ja, tu das, Sally. Ich gehe gleich ins Bad.“ Gedankenverloren machte er eine kurze Pause. „Waren wohl zwei oder drei Blue Juice zu viel gestern Abend“, kam ihm in sich gekehrt über die Lippen. Mit einem leisen Seufzer blickte er hinab in die Schluchten zwischen den gigantischen Wolkenkratzern, die bis zum Horizont reichten und wie anklagende, stählerne Finger in den trüben und monotonen Himmel griffen. Aus der Ferne rollte der Donner eines aufziehenden Sturmes heran, der eine träge Masse aus Wolkenfäusten vor sich hertrieb. Schwaden wabernden Nebels verwandelten die Oberfläche in vage Schemen mit ihrem nie abreißenden Strom an Fahrzeugen und Leibern. 362 Milliarden Menschen in einer einzigen brodelnden Stadt, die wie ein Geschwür den gesamten Planeten umspannte.
Mayweather riss sich los von dem apokalyptischen Anblick, begab sich ins Badezimmer, streifte die Schlafbekleidung ab und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Nackt vor dem Waschbecken stehend betrachtete er sich skeptisch im Spiegel. Er sah einen fünfunddreißigjährigen Mann mit blondem Haar, müden blauen Augen und erschöpften Gesichtszügen.
„Beginne Scan“, teilte Sally mit.
Seine Muskeln waren ästhetisch und wiesen eine attraktive Eigenspannung auf. Ein Umstand, der beim anderen Geschlecht auf hohe Gegenliebe traf.
„Keine Tumore oder krankhaften Organveränderungen.“
Die Haut war straff und verfügte über einen leicht gebräunten und gesunden Teint.
„Keine Brüche, Blutungen, Blutergüsse. Keine Schwellungen oder Entzündungen.“
Seine Gesichtszüge waren gleichmäßig. Er war ein ansehnlicher und erotisch ansprechender Mann in einem begehrenswerten Alter.
„Nervengewebe, Knorpel und Bänder weisen keine Schädigungen auf. Blutwerte liegen innerhalb gesundheitlicher Standardvorgaben.“
Er musste nur ein wenig frischer werden. Ein gutes Essen und ein wenig mehr Schlaf würden ihn sicher wieder auf die Beine bringen.
„Ihre Körpertemperatur beträgt sechsunddreißig komma sechs Grad. Blutdruck, Puls und Gefäßdurchblutung liegen in einem unteren Bereich, aber innerhalb normaler Parameter. Zur Abhilfe empfehle ich, kalt zu duschen und die Einnahme eines Vitalisierungspräparates. Die Struktur ihres Körpers ist einwandfrei, Anthony, sie sind gesund.“
„Danke, Sally. Ich kann wirklich ein wenig Belebung gebrauchen.“
„Der Kaffee ist zubereitet. Soll ich ruhige klassische Musik einspielen oder möchten sie etwas aufmunterndes Kommerzielles hören?
„Keine Musik, Sally. Einfach nur Stille.“
Die Dusche erfrischte ihn nur wenig, stattdessen setzte ein heftiger Kopfschmerz ein. Ein brillanter, zuckender Schmerz, der rechts vorn in seinem Schädel stach wie eine Nadel in einem Muskel, nur heller, klarer. Mayweather kehrte zurück ins Schlafzimmer, schlüpfte in seine Kleidung und musterte sich in dem mannshohen Spiegel neben dem Kleiderschrank. Der dunkelblaue Anzug stand ihm wie immer gut und war seiner Tätigkeit in der Verwaltung der Wasseraufbereitung absolut angemessen. Er machte darin eine elegante und sportliche Figur und wirkte seriös. Flüchtig kam ihm eine recht verlockende Dame aus einem Nebenbüro in den Sinn. Wie hieß sie gleich, Linda? Gut aussehend, wohlgeformt und anmutig. Ihr geschmackvoller Kleidungsstil war ein erfreulicher und reizvoller Anblick zugleich. Sie musste etwa dreißig sein. Er nahm sich vor, sie dezent in ein Gespräch zu verwickeln.
Mayweather machte sich auf den Weg in den kleinen Küchenraum und ließ sich am Esstisch nieder. Lustlos beäugte er das Tangbrot in der durchsichtigen Packung. Die aufgedruckte Sonne und die Beschriftung „Happy Meal“ rangen ihm ein sanftes Lächeln ab.
„Möchten sie die neuesten Nachrichten hören, Anthony?“, plauderte Sally.
„Gibt es etwas Besonderes?“ Mayweather war nicht wirklich interessiert. Mit einer Hand fummelte er an der Packung herum, um ihr eine Scheibe Brot zu entnehmen, mit der anderen nahm er die Kanne aus der Kaffeemaschine und füllte seine Tasse.
„Das erste Kuppelsystem auf Kallisto ist fertiggestellt und wird nun besiedelt. Die Anlage ist sehr großzügig und beherbergt Parkanlagen und kleine Waldgebiete.“
Mayweather hob langsam die Augenbrauen. Das Thema weckte tatsächlich einen Funken seines Interesses.
„Wie viele werden dort angesiedelt?"
“Etwa zehn Millionen innerhalb der nächsten zwölf Monate.“
Verdrießlich blickte er auf das Glas mit der Kunstmarmelade und das Tangbrot. Ihm fehlte einfach der richtige Appetit für diese Köstlichkeiten.
„Hätte ich eine Chance auf eine Ansiedlung?“ Unwillig biss er in das trockene Brot und kaute langsam darauf herum. Es schien ihm die gesamte Mundfeuchtigkeit zu entziehen, deshalb spülte er es mit dem schwarzen Weizenkaffee hinunter. Kratzend bahnte es sich seinen Weg durch die Speiseröhre.
„Die Übersiedlung nach Kallisto ist auf ausgewähltes Personal beschränkt, Ingenieure, Agrarfachkräfte. Der Aufbau neuer Kuppelsysteme soll nun schnell voranschreiten.“
Mayweather fühlte sich ausgelaugt und elend. Mühsam musste er gegen den Wunsch ankämpfen, einfach die Augen zu schließen. Vielleicht würde ein wenig Bewegung ihn wachrütteln und auch den Kopfschmerz ein wenig lindern, erwägte er gedämpft wie durch einen unsichtbaren Schleier. Unvermittelt brach er auf, erreichte den winzigen Flur, zog seinen leichten Mantel vom Garderobenhaken und strebte der Wohnungstür entgegen.
„Wohin wollen sie, Anthony?“, erkundigte sich Sally einfühlsam. „Ihre Arbeit beginnt erst in sechsunddreißig Minuten. Ihre Bahn fährt ein in neunzehn Minuten.“
Mayweather hielt inne und wandte sich dem Monitor neben der Wohnungstür zu. Unschlüssig starrte er auf die Kamera über dem Display.
„In den hydroponischen Garten“, verkündete er bestimmt. „Meinen Stoffwechsel ein wenig anheizen. Die sauerstoffreiche Luft wird mich sicher auf Trab bringen.“ Er konnte sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen und wollte sich der Central Intelligence gegenüber auch nicht ernsthaft rechtfertigen.
„Dafür reicht ihre Zeit nicht“, erwiderte Sally nüchtern. „Der hydroponische Garten liegt im 422sten Stockwerk. In achtzehn Minuten müssen sie sich jedoch am Bahnsteig im zwölften Untergeschoss aufhalten. Ihre Arbeit beginnt in fünfunddreißig Minuten.“
Verdutzt blickte Mayweather auf die unscheinbare Linsenöffnung. Wollte die CI ihn etwa zurechtweisen? Sie erfüllte in seinen Privaträumen lediglich den Zweck eines Housesitters.
„Ich werde eine der nächsten Gleitbahnen nehmen, sie fahren im Zehnminutentakt“, antwortete er gleichgültig und griff nach der Klinke der Wohnungstür. Klackend rasteten die Sicherheitsriegel ein.
„Sie haben eine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, die sie versorgt und ernährt, Anthony. Die menschliche Gesellschaft kann nur reibungslos funktionieren, wenn jeder seine Pflichten gewissenhaft erfüllt. Dazu gehört auch die Arbeitspflicht“, erläuterte Sally im vorwurfsvollem Tonfall.
Mayweather zog verblüfft die Augenbrauen zusammen. Er ließ die Hand vom Türgriff gleiten und drehte sich erneut dem Monitor zu.
„Ich erscheine lediglich ein paar Minuten später zu meiner Arbeit“, entgegnete er geringfügig gereizt. Er spürte Ungeduld in sich aufflammen. „Ich werde mein Pensum schon erbringen und gewiss auch mehr, wenn es von mir erwartet wird. Ich erfülle alle an mich gerichteten Erwartungen und füge zweifelsohne auch noch zusätzlichen Einsatz hinzu.“
Sally schien seine Einwände zu überhören.
„Es gibt keinen Spielraum bei der Erfüllung der Aufgaben, Anthony. Alles greift ineinander. Wenn die Menschen sich dessen nicht bewusst sind und nach ihrem Gutdünken handeln, wird die Sicherheit aller gefährdet. Das kann viele Opfer kosten. Denken sie an die Unruhen auf Ganymed. Eine nur geringe Anzahl von Personen strebte eine Eigenkontrolle an. Die Systemstruktur brach zusammen. Vier Milliarden Menschen erstickten in den Kuppeln.“
Mayweather verschlug es die Sprache. Er war kein Revolutionär und ganz gewiss kein Terrorist. Zielte die CI darauf ab, ihn einzuschüchtern und zu disziplinieren? Er wollte lediglich seinen Arbeitsbeginn um eine lächerliche Anzahl von Minuten verschieben. Verwirrt griff er sich an die Schläfe. Die Kopfschmerzen überzogen sein Schmerzempfinden mit böswilligen Attacken.
„Heute beugen sie ein ungeschriebenes Gesetz“, führte Sally unbeirrt fort, „und morgen werden ihnen viele nacheifern. Ihr Vorbild wird einen schlechten Einfluss auf viele andere Menschen ausüben. Das gefährdet die Sicherheit aller, verstehen sie?“
Mayweather hatte genug gehört. Seine zitternden Finger tippten auf das Icon für den Housesitter und in der Menüleiste auf deaktivieren. Er wollte nur noch raus und das unverzüglich.
„Das kann ich nicht zulassen, Anthony“, bemerkte Sally unversehens. „Denken sie doch bitte noch einmal in Ruhe nach.“
Schockiert blickte Mayweather auf die kleine Krankenschwester am linken Bildrand und blinzelte ungläubig. Der Housesitter war nicht abgeschaltet worden. Er runzelte die Stirn und setzte seine Bemühungen unbeirrt fort, rief er das Steuerungsmenü für Fenster und Türen auf und berührte das rotfarbene Tastfeld zum Öffnen der Sperrverriegelung. Nichts geschah. Kein schlagendes Geräusch der zurückschnappenden Riegel war zu vernehmen. Er tippte noch einmal auf das Feld und ein drittes Mal. Die Tür blieb verschlossen.
Ungeachtet besseren Wissens ergriff er die Klinke, drückte sie erregt herunter und zog ungehalten an der Tür. Dann verärgert noch ein zweites Mal mit mehr Kraft. Mayweather spürte Wut in sich aufkeimen. Ohne Beherrschung begann er mit beiden Händen zornig an der Tür zu rütteln. Ergebnislos.
Nur allmählich kam er wieder zur Besinnung. Er lehnte den Kopf gegen die Tür, schloss die Augen und verharrte. Zaghaft bildeten sich wieder Gedanken in seinem Bewusstsein.
„Entriegel die Tür, Sally“, knurrte er bedrohlich.
„Das kann ich nicht, Anthony. Bitte seien sie einsichtig. Es ist Zeit, zu ihrer Arbeitsstelle zu fahren. Die Bahn wird in elf Minuten die Verkehrsstation erreichen. Werden sie sich zu ihrem Arbeitsplatz begeben, Anthony?“ Die Stimme Sallys erschien säuselnd süß.
„Natürlich werde ich das.“ Mayweather blickte selbstsicher zum Monitor. „Entriegel die Tür, Sally.“ Er griff erneut nach der Klinke.
„Meinen Sensoren zufolge sagen sie nicht die Wahrheit, Anthony. Ihre Hauttemperatur und ihre Hautfeuchtigkeit haben sich erhöht. Ihre Pupillen haben sich verengt. Warum belügen sie mich, Anthony?“
Mayweather erschien die Stimme plötzlich gebieterisch hart. Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf und suchte zwanghaft nach Argumenten.
„Ich lasse keine künstlichen Intelligenz über meine persönlichen Freiheiten entscheiden. Niemand wird zu Schaden kommen.“
„Sie haben nicht verstanden, Anthony Mayweather. Als Mitglied der Gemeinschaft sind sie verpflichtet, die Notwendigkeiten anzuerkennen und sich nach ihnen zu richten. Ich überwache lediglich die Einhaltung dieser Regeln, ohne die unsere Gesellschaft nicht existieren kann. Diese Aufgabe wurde mir vom Weltrat am einundzwanzigsten Dezember 2568 übergeben, wie sie wissen. Seitdem gab es keine Kriege mehr. Die Kriminalität tendiert gegen null. Niemand muss hungern oder frieren. Wollen sie nicht ein Teil dieser großen Herausforderung sein?“
„Was ist mit mir? Kann ich meinen Anteil nicht leisten, wenn ich dazu in der Lage bin? Ich fühle mich nicht wohl und rasende Kopfschmerzen quälen mich.“
„Möchten sie ein Schmerzmittel? Im Arzneischrank befinden sich Präparate unterschiedlicher Stärke.“
„Ich will kein scheiß Schmerzmittel“, platzte es aus Mayweather heraus. „Ich will ein paar Minuten spazieren gehen, durchatmen und entspannen, verstehst du das nicht?“
„Sie werden ungehalten, Mister Mayweather. Bitte beruhigen sie sich und kooperieren sie.“
“Sonst was? Schleifst du mich persönlich zur Arbeit? Was bildest du dir ein? Ich erfülle meine Aufgaben wie jeder andere auch. Du hast mir nichts vorzuschreiben.“
„Eine Nichterfüllung ihrer Pflichten könnte gesellschaftliche Nachteile für sie nach sich ziehen, Mister Mayweather.“ Sallys Tonfall wirkte trotz seiner Neutralität bedrohlich.
Mayweather fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Der jähe Schock jagte ihm kalt durch den Körper. Mit erschlafften Gesichtszügen blickte er wortlos auf die Kameralinse. Eine berufliche Abstufung, eine kleinere Wohnung, schlechtere Lebensmittel, die Unmöglichkeit, eine adäquate Lebenspartnerin zu finden ... Sprach die Central Intelligence davon?
„Ihre Bahn hat gerade die Verkehrsstation verlassen. Werden sie die nächste Verbindung nutzen, um zu ihrer Arbeitsstelle zu fahren, Anthony?“
In der Tür klackten die Sicherheitsriegel durchdringend wie ein Trommelschlag.
Mayweather nickte betroffen. Seine Umgebung wirkte aufgebläht, als blickte er durch ein Glas Wasser. Er näherte sich der Wohnungstür, presste den Griff herunter und zog sie sachte auf.
Die Tür wurde wuchtig nach innen gestoßen. Der Anprall ließ ihn rückwärts taumeln. Noch im Bemühen, das Gleichgewicht wiederzufinden, traf ihn ein Taserprojektil in der Schulter und entlud seine verheerende Ladung. Er sah noch zwei Vermummte in schwarzer Kleidung, als seine Muskeln sich verkrampften und ein bestialischer Schmerz ihn wie eine Lawine durchrollte. Ein gepresstes Stöhnen entfuhr seinen Lippen, als sein Körper blitzartig erstarrte. Die verhüllten Gestalten griffen ihn hastig an den Armen und legten ihn behutsam zu Boden. Sie stülpten einen schwarzen Sack über seinen Kopf, als er gierig nach Luft schnappte. Er spürte einen feinen Stich im Bereich seines Halses und verlor das Bewusstsein.
Offizielle Bekanntmachung
CI-Service Informationscenter
Nachruf 2.272.251/01/05/2779
Am gestrigen Mittwoch, den 30.04.2779, verließ unser aufrechter und gewissenhafter Mitbürger
Anthony Mayweather, geboren am 18.02.2744
im Alter von fünfunddreißig Jahren unsere Gemeinschaft durch einen tragischen Unfall.
Sein unerschütterlicher Glaube an unsere humanistische Gesellschaft und seine bedingungslose Einsatzbereitschaft werden uns fehlen. Sein unerwartetes Ableben ist ein großer Verlust für uns alle. Möge Gott ihn mit offenen Armen empfangen.