Mitglied
- Beitritt
- 19.06.2001
- Beiträge
- 4
Cellina
Cellina
Nehmen Sie sich noch einen Martini. Sie werden ihn brauchen, denn ich erzähle Ihnen jetzt die Geschichte von Cellina.
Damals war ich noch Student. Sie war mir vor dem Seminargebäude aufgefallen als ein Mädchen, dessen Ähnlichkeit mit einem Botticelli-Engel so verblüffend war, daß ich mich direkt in ihr Antlitz verliebte.
Sie verschwand in einem Seminarraum. Ich ging ihr nach und setzte mich in die hintere Reihe, so daß ich sie unbemerkt beobachten konnte. Ich nannte sie damals insgeheim Cellina, und später sollte ich zu meiner Verblüffung feststellen, daß sie wirklich so hieß.
Seltsamerweise hatte ich damals das Gefühl, daß sie eigentlich nur aus einem Grunde dort saß: Um von mir gesehen zu werden.
Unauffällig schaute ich immer wieder zu ihr hinüber und es war mir, als würde sie genau in diesem Moment ihren Blick von mir abwenden. Damals dachte ich, dies sei Einbildung gewesen, doch heute denke ich anders darüber.
Nach dem Seminar schaffte ich es schweren Herzens, mich von ihr abzuwenden. Ich ging nach Hause, meine Gedanken an sie wurden von anderen überlagert, bis ich sie nahezu vergessen hatte, nur abends, in jenem kurzen Augenblick zwischen Wachen und Traum schwebte noch einmal ihr Bild vor meinen Augen, so daß ich ein unbestimmbares Gefühl voller Traurigkeit mit in den Schlaf nahm.
Einige Tage später meinte ich, sie aus dem fahrenden Auto heraus gesehen zu haben, aber sie stand in einer Menschenmenge und es hätte auch jemand anders sein können. Zumindest dachte ich mit einem Male wieder an sie.
In der folgenden Woche ging ich erneut zur Universität, und da kam sie mir entgegen. Ich hatte das Gefühl, sie würde mich aus dem Augenwinkel heraus ansehen. Zuerst blickte ich ihr nur nach, doch dann zwang mich ein innerer Impuls, ihr zu folgen. Zielstrebig, ohne sich umzusehen, verließ sie das Universitätsgelände, ging über einige Straßen, dann durch den Stadtpark, um schließlich am Rande des Parks in einem roten Backsteinhaus zu verschwinden. Ich blieb noch eine Weile unschlüssig zwischen den Bäumen stehen und starrte auf das Haus. Nach einiger Zeit meinte ich, eine Bewegung hinter einem der Fenster wahrgenommen zu haben. Schließlich ging ich nach Hause.
Den Rest des Tages verbrachte ich auf meiner Couch, betrachtete die Bilder an den Wänden, rauchte einen Aschenbecher voll und wußte mit einem Mal gar nichts sinnvolles mehr mit mir anzufangen. Zwischendurch ertappte ich mich dabei, wie ich gedankenverloren mit einem Klecks Marmelade auf dem Tisch spielte und ihn in geraden Strichen auf dem Tisch verteilte.
Als es dämmerte zog es mich wieder nach draußen. Ziellos wanderte ich durch die Stadt, pfiff vor mich hin, kam an Kneipen vorbei aus denen Lärm schallte, verfing mich in Gedankenlabyrinten, der Himmel bedeckte sich , der Wind frischte auf.
Schließlich fand ich mich im Park wieder, gegenüber dem roten Backsteinhaus.
Mein Herz begann, schneller zu schlagen, denn hinter einem der Fenster entdeckte ich Cellina. Ich sah nur ihre Stirn. Sie schien an einem Scheibtisch zu sitzen, vornübergebeugt, zu schreiben oder zu lernen. Ab und zu blickte sie auf und ich sah ihr Gesicht. Dann drückte ich mich an einen der Baumstämme, um nicht von ihr gesehen zu werden, doch sie blickte nur gedankenversunken ins Leere.
Es begann zu regnen und mir wurde kalt, doch ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Schließlich stand sie auf und ging in einen Teil des Zimmers, den ich von meiner Position aus nicht sehen konnte. eine Zeitlang gewahrte ich nur noch die leere Helle des Lichts, einige Möbelstücke, im Hintergrund ein Regal. Endlich tauchte sie wieder auf. Für einen Moment stand sie unentschlossen an ihrem Schreibtisch und ich erwartete, daß sie sich wieder hinsetzen würde, doch dann schien sie etwas auf dem Tisch wegzuräumen.
Schließlich begann sie, sich ihr Kleid aufzuknöpfen, dabei schaute sie gedankenverloren aus dem Fenster, den Mund ein wenig geöffnet, den Kopf verträumt zur Seite geneigt, als würde sie an etwas weit entferntes denken.
Da hörte ich ein Geräusch hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um. Zuerst sah ich nur Dunkelheit, da ich von dem Licht des Fensters geblendet war, dann nahm ich schemenhaft eine Gestalt wahr, die einige Meter hinter mir stand und mich anscheinend schon seit längerer Zeit beobachtet hatte. Jetzt, wo sie sah, daß ich mich nach ihr umgedreht hatte, löste sie sich von dem Schatten des Baumes, in dem sie verborgen gewesen war, und wich langsam zurück. Ich wollte auf die Person zugehen, da drehte sie sich um und rannte fort. Ich überlegte, ihr hinterherzulaufen, doch dann warf ich noch einen Blick auf Cellinas Fenster. Sie hatte das Licht ausgeschaltet.
Jetzt erst wachte ich aus der Trance auf, in der ich mich die ganze Zeit befunden zu haben schien und die mich gezwungen hatte, stundenlang unentwegt auf jenes Fenster zu starren. Mir wurde bewußt, wie widersinnig mein Handeln war. Ich stand in strömendem Regen in einem dunklen Park und drang mit meinen Blicken in den intimen Bereich eines mir gänzlich unbekannten Mädchens ein wie ein lüsterner Voyeur. Ich bekam ein schlechtes Gewissen und machte mich auf den Heimweg. Jetzt erst bemerkte ich, daß diese Stelle des Parks eigentlich ein Friedhof war. Durch das blasse Licht einiger ferner Straßenlaternen konnte ich Grabsteine im Dunkeln ausmachen. Mir schauderte und ich beeilte mich, in eine bewohntere Gegend zu kommen.
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Gefühl der Schuld auf, als hätte ich etwas Unrechtes, Verbotenes getan. Das Gefühl verblaßte, als ich mich zu fragen begann, wer diese Gestalt im Dunkeln gewesen sein mag, und ich hegte die Angst, sie würde mich wiedererkennen und mich fragen, was ich denn zu jener Zeit auf einem Friedhof verloren hätte.
Cellina sah ich zwei Tage später in der Cafeteria der Uni wieder. Sie stand mit einem Studenten zusammen. Die beiden tranken Kaffee und schienen sich äußerst herzlich zu unterhalten. Cellina lachte, ich konnte sie nicht hören, ich stand zu weit weg, doch die Art wie sie lächelte gab mir einen Stich im Herzen.
Es gesellten sich noch Andere zu den Beiden und sie schienen sich gut zu kennen, einer der Studenten legte seinen Arm um sie. Unwillkürlich bildeten alle einen Kreis um sie. Sie war der Mittelpunkt der Runde und sie schien ihre Position zu genießen. Ich seufzte innerlich und ging. Ich war nicht der Einzige.
An diesem Abend ging ich ins Kino. Der Film handelte von einer Gruppe von Internatsschülerinnen, die auf einem Berg verschwinden. Den Film hatte ich bereits gesehen und ich mußte mir eingestehen, daß ich nur in das Kino gegangen war, um einen Grund zu finden, durch den Park zurückzugehen. Denn dieser lag auf dem Heimweg.
Sie saß wieder an ihrem Schreibtisch, doch dieses Mal stand sie schon nach kurzer Zeit auf. Einen Moment stand sie wieder dort und schaute durch das Fenster wie beim letzten Mal.
Doch mit einem Mal hob sie die Hand - und winkte!
Ich wich zurück. Sie stand dort oben und schaute mich an. Sie lachte. Ich sah sie lachen, hinter der Scheibe! Über mich!
Ich wich weiter zurück. Ich riß meinen Blick los von ihr. Ich rannte. Nach Hause. Verkroch mich in mein Bett und zog die Decke über den Kopf. Würde sich doch ein Abgrund auftun, um mich zu verschlingen in meiner Scham!
Ich lag die ganze Nacht wach und grübelte. Wie sollte ich diesem Mädchen jemals noch gegenübertreten können. Wahrscheinlich wird sie ihren Freunden von der Sache erzählen und ich wäre als der Spanner von der Uni veschrien.
Doch dann überlegte ich mir, daß die Gestalt, die ich dort in der ersten Nacht gesehen hatte, mit Sicherheit einer ihrer Verehrer gewesen war, und so hatte ich einen Verbündeteten, der nicht ganz so laut lachen würde wie die Anderen, und der sich mir auf diese Weise verraten würde.
Ich war nicht der Einzige.
Am nächsten Tag saß ich erneut in der Cafeteria. Ich trank einen Kaffe nach dem anderen und schaute fast unentwegt zur Türe, sie und ihre Gruppe erwartend, denn ich wollte die Sache durchstehen und würde schon einen Grund der Rechtfertigung finden. Außerdem hätte ich mich gar nicht willentlich fernhalten können von IHR.
Cellina kam nicht.
Ich wurde durch das viele Koffein langsam nervös, außerdem rauchte ich auch wieder mehr als mir guttat. Ich kaute auf Plastiklöffeln herum und schaute fortwährend auf die Armbanduhr, bis ich registrierte, daß ich sie zu Hause im Badezimmer liegengelassen hatte.
Schließlich kam einer der Studenten herein. Er schaute sich um, wollte wieder gehen, sah dann jedoch mich und kam auf mich zu. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein und erwartete schon eine Frage bezüglich meines Aufenthaltes in dem Park, da ging er an mir vorüber, ohne mich zu beachten. Mir wurde bewußt, daß er nicht mich gemeint hatte, sondern jemanden, der hinter mir stand. Ich drehte mich um und sah - Cellina. Sie schien schon längere Zeit dort gestanden zu haben und ich fragte mich, wie ich sie hatte übersehen können.
Cellina lächelte den Studenten an.
Dann fiel ihr Blick auf mich. Es war das erste Mal, daß ich ihr direkt in die Augen sah. Ich hatte das Gefühl, in zwei unergündliche Seen zu blicken. Ich zerbiß den Löffel, auf dem ich die ganze Zeit gekaut hatte, und verschluckte einen Teil davon. Cellina kam auf mich zu. Ich zuckte zusammen.
"Ich heiße Cellina!" sagte sie.
"Cellina--!" stammelte ich. "Das kann nicht sein!" Sie hieß Cellina! Cellina hieß sie! Wie war das möglich? Ich spürte, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. Mein Herz begann, durch meinen Magen zu wandern.
Cellina! Warum schaute sie mich so an? Ihre Augen, ihre Augen, so tief, daß ich mich nie darin wiederfinden würde, daß ich verlorenginge in ihren Augen, in diesen Augen, die mich aufsogen.
War ich das Kaninchen und sie die Schlange?
Mit aller Kraft riß ich meinen Blick von ihren Augen los.
Mir wurde kalt.
Cellina senkte den Kopf als fühlte sie sich betroffen.
"Kennst Du ihn?" fragte der Student Cellina. Er sah mich an und ich spürte die Angst vor dem Rivalen.
"Ich will es hoffen." sagte Celina. Sie hatte eine Stimme, so melodiös und leise, daß ich mich leicht zu ihr hinbeugen mußte, um sie zu verstehen.
"Kommst du auch heute abend?" fragte sie mich. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber mir fiel nur "Grbbl" ein, und das behielt ich besser für mich.
"Um acht?" fragte sie. Ich nickte. Sie blickte mir wieder in die Augen.
"Komm!"sagte sie zu dem Studenten. Der schaute mich noch einmal giftig an. Dann gingen sie und ließen mich verwirrt zurück.
Ich saß noch lange in der Cafeteria, ohne etwas anderes zu tun als Kaffee zu trinken und Plastiklöffel zu kauen, und diese Tätigkleit erschien mir im Moment die einzig sinnvolle, ja, die einzig mögliche.
Zuviel war an jenem Morgen auf mich zugekommen. Zuerst die verblüffende Sache mit ihrem Namen, dann ihr Blick, der nicht der Blick eines Menschen gewesen sein konnte, und schließlich die Tatsache, daß sie mit keinem Wort auf den Vorfall vom vorangegangenem Abend eingegangen war, daß sie vielmehr mit einem Mal vorgab, mich zu kennen und mich obendrein auch noch zu sich einlud.
Irgendwann machte ich mich auf den Heimweg, bis zum Rand angefüllt mit Koffein. Am Nachmittag sorgte ich für den Ausgleich mit einer ähnlichen Menge an Nikotin. Daß ich am Abend zu Cellina gehen würde, stand für mich fest. Obwohl ich eine unbestimmte Angst verspürte, als ob ich zu meiner eigenen Hinrichtung gehen würde. Aber die einzige Alternative wäre für mich gewesen, zu Hause zu bleiben und wahnsinnig zu werden.
Gegen sieben machte ich mich auf den Weg zu ihr und schlenderte noch etwas durch den Park, denn ich wollte auf keinen Fall zu früh bei ihr erscheinen. Kurz vor acht dachte ich, es sei an der Zeit und begab mich zu ihrer Haustüre. Hier hatte ich die Qual der Wahl, welch Klingel ich drücken sollte, denn um auch noch ihren Nachnamen raten zu können fehlte mir im Moment jegliche Intuition.
Schließlich entschied ich mich für den Knopf, neben dem kein Name stand.
Der Türdrücker summte und ich trat in einen muffigen Hausflur, von dem eine abgetretene Treppe nach oben führte. Ich ging in den ersten Stock. Dort stand eine Türe offen und ich trat in einen mittelgroßen Raum mit Matratzen und einem kleinem Tisch.
Ein dunkelhaariges Mädchen kam mir entgegen. "Dich kenne ich gar nicht," sagte sie."Du bist wohl der, von dem Cellina mir erzählt hat!"
Ich hätte in diesem Moment gerne gewußt, was sie von mir erzählt haben könnte, doch das Mädchen forderte mich auf, Platz zu nehmen. Ich schaute sie an. Es lag etwas in ihrem Blick, das entfernt an Cellina erinnerte. Doch es war nur der Widerschein, wie das Abbild der Sonne in einem Brunnen.
Sie forderte mich auf, Platz zu nehmen.
Ich sah sie an. Sie wirkte klein und etwas linkisch, ein liebes Gesicht, ein alltägliches Gesicht, wenn nicht da der ferne Glanz eines fernen Mädchens in den Augen gelägen hätte.
Sie forderte mich auf, Platz zu nehmen.
Wir sahen uns an.
"Ich heiße Ancilla!" sagte sie.
Und wir setzten uns.
Es klingelte und weitere Gäste kamen. Ancilla ging sie zu begrüßen. Ich war anscheinend viel zu früh gekommen. Aber warum hatte Cellina dann als Zeitpunkt acht Uhr gesagt? Hatte sie etwas alleine mit mir bereden wollen? Warum aber war sie dann nicht zugegen gewesen?
Mich überkam das Gefühl, etwas entscheidentes versäumt zu haben. Ancilla unterhielt sich mit den Gästen. Einige kannte ich von der Uni. Der Student vom Morgen war auch dabei. Sie setzten sich. Es wurde gefragt, wo Cellina sei, und Ancilla entgegnete, daß sie sicher gleich erscheinen würde.
Und schließlich kam sie.
Mehr denn je erinnerte sie mich an einen Botticelli-Engel, was noch durch ihr Kleid verstärkt wurde, das aus einem anderen Jahrhundert zu sein schien. Ich konnte meine Augen nicht von ihr lassen. Sie war das schönste Mädchen, das ich jemals gesehen hatte und mir wurde bewußt, daß ich dieses Antlitz nie mehr würde missen können.
Sie grüßte alle auf einmal und niemanden bestimmten. Dann gesellte sie sich zu einer Gruppe außerhalb meiner Hörweite und die Gespräche gingen weiter, die, als sie den Raum betreten hatte, unvermittelt abgebrochen waren.
Es wurde eine Menge getrunken und viel geraucht. Bald setzte sich der Rauch auf die Gegenstände, klebte am Fenster, das Glas wurde zu Mattglas, einer öffnete das Fenster irgendwann, der Rauch fiel auf den Glastisch, Mattglas, auf die Glastür, Mattglas, irgendjemand öffnete sie irgendwann, auf die Glasvitrine, Mattglas, auf das Glasauge, irgendwann werden uns allen die Augen geöffnet, die Aschenbecher schwelten vor sich hin.
Es gab auch Brote.
Mit der Zeit wurde mein Kopf schwer. Meine Haare waren zersaust, mein Mund stand offen, meine Augen tränten vom Rauch. Mit einem Male lichtete sich der Rauch um mich herum und ich sah, wie Cellina, den Raum verließ. An der Türe drehte sie sich um und blickte an:
Mich!
Dann fiel die Türe wieder zu. Keiner hatte es bemerkt. Auch ich war unsicher, ob dies nicht doch nur Rauch gewesen war, der sich nun durch den Hausflur seinen Weg ins Freie suchte, doch ich flüsterte ihren Namen und folgte ihr.
An der Türe begegnete ich Ancilla.
"Du gehst?" fragte sie. Und einen Moment war es mir, als hörte ich Bedauern aus ihrer Stimme.
"Ich weiß nicht!" antwortete ich und schob mich an ihr vorbei in den Hausflur.
Dann stand ich vor dem Haus.
Einige Meter. Vor mir. Bewegte sich Cellina.
In Richtung Park.
Sie ging in den Park. Sie ging durch den Park. Auf den Berg. Wissen Sie? Der Berg, im Park, dort, wo noch ein paar alte Bäume stehen aus der Zeit lange vor dem Park und vor der Stadt, dort, wo es auch eine alte Ruine gibt, und wo die Blumen im Sommer so intensiv duften, daß man noch im Winter von der Erinnerung überwältigt stehenbleibt.
Oben auf dem Berg ist ein kreisrunder Platz mit einigen Bänken, von dort kann man über die ganze Stadt sehen.
Cellina setzte sich auf eine der Bänke. Unten erklang die Stadt in ihrem Lichterlabyrinth. Zum Horizont hin Dunkelheit, Wälder, Mittelgebirge. Cellina still, ihr Gesicht eine dunkle Silhouette. Ich trat dicht neben sie. Der Himmel war sternenklar. Neumond.
Es frischte auf.
"Spürst du den Wind?" fragte sie unvermittelt. Sie schaute mich nicht an, sondern blickte unverwandt auf einen Punkt im Nirgendwo der Dunkelheit.
Noch hier unter den Bäumen schimmerte ihr Kleid hell.
"Das ist der Wind der Ewigkeit!" sagte sie.
Ich entgegnete nichts. Zu sehr hatte ich Angst, die Schönheit dieses Augenblicks zu zerstören.
Ich setzte mich neben sie.
"Der Wind der Ewigkeit weht über mich und über dich, über Gerecht und Ungerecht, über Gut und Böse. Das ist ihm egal. Da macht er keinen Unterschied!"
Sie blickte mich an.
"Und manchmal weht er direkt durch einen hindurch!"
Ich nickte, obwohl ich nichts verstand. Vielmehr, ich verstand alles, den Klang ihrer Stimme, ihre Worte, ich nahm sie auf, sog sie in mich hinein.
Es wurde kühl. Ich wagte es, meinen Arm um ihre Schultern zu legen. Ich spürte wie sie fast unmerklich zusammenzuckte.
"Weißt du," sagte sie und blickte wieder in das Dunkel der Nacht. "Der Wind weht die Schicksalsfäden, und manchmal treffen sie aufeinander." Sie beugte ihren Kopf zu mir, so daß ich meinte, sie wolle sich an mich schmiegen. Doch dann stand sie urplötzlich auf.
"Es ist jedoch nur ein Knoten im Gewebe und die Fäden wehen weiter."
Sie reichte mir die Hand. Ich folgte ihr. Wehrte mich nicht. Sagte nichts. Was hätte ich sagen können, ich hatte nichts zu sagen. Meine Aufgabe war hier das Schweigen.
Wir kammen an Cellinas Haus an.
"Komme nicht mehr mit hoch." sagte sie. "Wir sehen uns."
Ihre Hand entglitt mir und die Türe schloß sich.
Wissen Sie, wie es ist, wenn man betrunken ist? Betrunken vor Glück, trunken, blind? Torkeln durch die Straßen, drehen und schauen, alles prägt sich ein und alles verblaßt, und man ist voller Glück, brennend, sich verzehrend, dann ins Bett fallen und einschlafen voller, voller Glück.
Am nächsten Tag traf ich sie nicht. Ich war in der Uni und auch in der Cafeteria, doch ich sah sie nicht. Gegen Mittag ging ich mehrere Male an ihrem Haus vorbei. Schließlich wagte ich es und klingelte.
Niemand öffnete.
Ich blieb einige Zeit unschlüssig stehen. Dann ging ich nach Hause.
Dort wollte ich etwas für mein Studium arbeiten, doch ich schaffte es nur, mich aufs Bett zu werfen um dann für einige Stunden einen kleinen schwarzen Punkt auf dem Bettlaken zu fixieren, eine durchaus typische Beschäftigung bei Studenten. Schließlich bewegte sich der kleine schwarze Punkt und entpuppte sich als winziger Käfer. Ich zerdrückte ihn.
Ich schaute mir den zerdrückten Käfer an. Wußte er, wer ihm gerade das Leben ausgequetscht hatte? Hatte er eine Ahnung von meiner Existenz? Liebte er mich? Würde er mir die Wäsche waschen?
Ich ging ins Bad und wusch meine Hände.
In Unschuld.
Die Sonne verschwand hinter den Dächern der Stadt.
Dieser Sommerstadt. Dieser wunderlich blautrunkenen Sommerstadt. Lange stand ich im Vorgarten und wartete, daß der Widerschein der Sonne, dieser einen, einzigen Sonne, endlich verblaßte.
Es war anzunehmen, daß es dunkel werden würde.
Es war ein Abend, lauwarm, ein schwüler Wind strich mir die Lust in die Stirn. Die Lust auf die Möglichkeiten.
Der Park. Hinter Cellinas Haus.
Das Fenster ist erleuchtet. Ihr blondes Haar über dem Schreibtisch. Ich kann nicht näher herangehen. Da vorne steht einer und blickt nach oben. Zu Cellina. Cellina steht gerade auf und geht in den hinteren Teil des Zimmers.
Hab ich Dich! Gleich weiß ich, wer Du bist!
Ich stelle mich in den Schatten eines Baumes. Mondschatten eines Baumes. Mondlichtschatten im Baum.
Baum.
Mond.
Cellina kommt zurück, wieder an das Fenster. Wie damals. Wie damals beginnt sie, sich die Bluse aufzuknöpfen...
Der da vorne! Der da vorne hat sich umgedreht!
Hat sich umgedreht.
Ich löse mich aus dem Schatten.
Er hat mich gesehen!
Er kommt auf mich zu!
Ich erkenne sein Gesicht.
Es ist - mein Gesicht!
Ich weiche zurück.
Und ich renne.
Zeitlupe. Meine Beine wie Gewichte.
Weg hier, nur weg! Schatten. Welt wie Nebel. Mein Kopf! Klopfen. Hämmern. Klopfe an, so wird dir aufgetan.
Vielleicht war es nur eine Sinnestäuschung gewesen.
Es muß eine Sinnestäuschung gewesen sein.
Ich blieb stehen.
Zeitlupe Ende. Nebel weg.
Ich ging zurück, Ich mußte zurück. Ich mußte Sicherheit finden, damit ich überhaupt noch die Möglichkeit hatte, noch einmal nach Hause gehen zu können und mich ins Bett zu legen mit der Gewißheit, daß nicht alles, was ich zu denken und zu wissen meinte, seine Gültigkeit verloren hatte.
Knoten.
Knoten im Schicksalsgewebe.
Zeitknoten. Verknüpfung.
Da war niemand.
Das Fenster war leer.
Und schwarz.
In dieser Nacht ging ich nicht mehr nach Hause.
Dem Morgen graute...
Ich öffnete die Augen. Ich saß auf der Bank auf dem Platz bei der Ruine.
Nebel stieg aus der Stadt. Der Dunst wusch die Welt.
Neuer Tag.
Reiner Tag.
Es war ein Gespinst gewesen diese Nacht. Ich war überreizt gewesen. Ich hatte das Gesicht jenes Anderen nicht erkennen können. Ich mußte es mir eingebildet haben.
Ja, sicher, ich hatte es mir eingebildet. Ich sagte es mir immer wieder. Wie hätte ich sonst als normaler Mensch weiterleben können? Ich mußte es glauben.
Und schließlich, endlich ging ich nach Hause.
Irgendwann klingelte es.
Ich öffnete die Augen. Ich lag im Bett. Das Tageslicht blendete mich. Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte lange geschlafen. ich fühlte mich frisch. Und gut. Und klar.
Es klingelte abermals.
Mit Schwung sprang ich aus dem Bett und mir fiel ein, daß ich ein Hochbett hatte.
Ich humpelte zur Türe und öffnete.
Draußen stand Cellina.
Cellina. Ihr Haar. Ihr Gesicht. Ihre Augen. Worte waren zu wenig, sie zu beschreiben, reichten einfach nicht aus.
Ihr Keid. ich spürte den Duft ihres Körpers.
Sie schaute mich an.
Und wir gingen...
Sie nahm meine Hand.
Und wir gingen durch die Stadt. Durch diese schon so oft gegangenen Straßen.
Wir verliessen die Stadt.
Hinter der Stadt stiegen sanfte Hügel auf. Feldwege. Einzelne Gehöfte. Die Sonne brannte noch heiß und die Welt duftete so intensiv, daß ich nicht genug bekommen konnte von diesem Duft und ich atmete tief und sog ein die ganze Welt.
Und Cellina.
Wir lachten viel und waren trunken und wir flogen durch diese Felder über diese Hügel und vorbei an Menschen die lachten und uns ansahen voller Liebe in den Augen, und wir tranken, tranken uns besinnungslos an dieser Welt, an dieser unendlich schönen, ewigen Welt, die Liebe ausstrahlte aus jedem Ding, und wir tanzten, tanzten hinaus und hinein, tiefer hinein in diese Welt und wir sahen die Welt und es gab keine Unterschiede mehr und alles war eins und wir waren die Welt und tanzten einen Tanz um diese Welt der uns hinaushob in die Ewigkeit und wir fielen lachend himmelhoch in das weiche, zärtliche Gras.
Als wir dann lagen hörten wir Lieder, die Lieder des Windes, die Lieder des Windes der Ewigkeit.
Ich blickte in ihr Gesicht, das verklärt war in Ekstase und ich sah in ihren Augen, wie die Lust verblaßte, sah ihren Körper, ihren warmen, weißen Bauch, ihre Brüste, die den Wunsch weckten, sich an sie zu schmiegen, ihren Schoß, der den ganzen Menschen aufnahm, auch sein Herz und alles.
Ich blickte sie an und sie sah in mich voller Liebe und Zärtlichkeit. Behutsam nahm ich sie in meine Arme und sie bog den Kopf zurück und ich küßte sie über und über.
Und wir hörten, hörten ganz deutlich Lieder, Lieder, die noch kein Mensch zuvor gehört hatte, Lieder, die nie ein Mensch befugt wäre zu singen, die Lieder des Windes, die so zerbrechlich waren, so zart, daß jeder Ton einem Ährenkorn gleich vom Wind gebogen und getragen wurde, über uns in uns durch uns hindurch, und wir hielten uns fest, ganz fest, und lauschten, lauschten ewiglich hinein, hinein in das Licht in die Kathedrale aus Tönen und wir spürten nur Liebe und nichts als Liebe, unendliche Liebe, die verklang und wieder aufwogte und durch uns strich wie der Wind, daß wir erschauderten angesichts dieser göttlichen Ekstase in dieser unendlich hohen unendlich weiten unsagbar zerbrechlichen Kathedrale aus Licht, und wir fielen nieder brachen zusammen und ich weinte in ihren Schoß und sie strich mir übers Haar als würde mich ein Windhauch liebkosen.
"Cellina!" rief ich.
Ich hatte die Augen aufgeschlagen und sah Cellina. Sie hatte sich wieder angezogen, ihr weißes Kleid, das nun beschmutzt war von der feuchten Erde.
Sie stand einige Meter vor mir. Sie schien irgendetwas weit hinter dem Horizont gesehen zu haben, und nun ging sie darauf zu.
Ich blickte um mich. Die Sonne wirkte wie in dichtem Nebel, das Feld schien grau, als sei alle Farbe aus der Welt gewaschen. Von der Ferne leuchtete ein nicht faßbares Licht, unmöglich zu orten.
Doch Cellina ging darauf zu.
Ich rief abermals ihren Namen und folgte ihr.
Sie schien mich nicht zu hören, drehte sich nicht um. Ihr Haar wehte im Wind. Ohne Eile schritt sie auf ihr Ziel zu, das nur sie zu kennen schien.
Ich rannte, doch ich kam ihr nicht näher. Immer mehr schien sie zu verblassen, wurde vom Nebel aufgesogen, wurde zur Silhouette, zu einem weißen Schatten im Grau. Ich lief und stolperte und fiel und lief weiter, doch es gelang mir nicht, sie zu erreichen. Immer undeutlicher wurde sie, schien zu schweben, den Kontakt zur Erde zu verlieren.
Ich folgte ihr immer weiter durch dieses unendliche Feld und nur noch das Feld existierte und der sich auflösende Schatten Cellinas. Ich rief ich brüllte Cellina ich schrie Cellina ich weinte und heulte und versank im Feld und schrie und blökte, ein einsamer weißer Elefant in der unendlichen Wildnis der Herzen, und ich versank knietief und fiel nieder und der Wind wehte stärker und ich versank im Wind, wurde niedergeworfen, dahingeschleudert in die Erde, die Schlamm wurde und mich über und über bedeckte.
Ich will Sie nun nicht mit der Erzählung langweilen von der Zeit, die ich danach durchmachte. Um es kurz zu machen: es ging mir nicht besonders. Immer wieder ging ich zu Cellinas Haus, doch ich traf nur Ancilla. Sie sagte mir, Cellina sei an jenem Tage abgereist, um an einem anderen Ort zu studieren. Sie habe jedoch noch einmal kurz bei mir vorbeischauen wollen. Näheres wußte auch Ancilla nicht über Cellina. Als Ancilla eine Wohnung gesucht habe, sei sie durch Zufall auf Cellina getroffen, die ihr angeboten hatte, bei ihr zu wohnen.
Ancilla kümmerte sich um mich in der Zeit nach Cellinas Abreise. Das war auch gut so, denn alleine wäre ich nicht mehr fähig gewesen, mich am Leben zu halten. Sie kündigte meine Wohnung und zog mich zu ihr.
Ancilla wurde schöner, als ich mit ihr zusammenlebte. Und manchmal wurde der Widerschein Cellinas in ihren Augen so intensiv, daß er ihren ganzen Körper einzunehmen schien, und in jenen Momenten, es waren meist Momente des Schweigens oder der Liebe, in jenen Momenten war sie Cellina.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ancilla war kein Ersatz für Cellina. Sie war Cellina. Vielmehr war sie die einzige Möglichkeit auf der ganzen Erde. Aus diesem Grunde haben wir auch geheiratet. Und, glauben sie mir, wir führen eine glückliche Ehe. Und dies nur aus dem Grunde, weil ich gelernt habe zu unterscheiden zwischen Himmel und Erde.
Übrigens, wenn sie ein Bild von Cellina sehen wollen, dann gehen sie in die Botticelli-Gallerie in M. Dort hängt ein Bild von ihr, gemalt vor vielen Jahrhunderten.
Wundern sie sich nicht. Ich habe mich auch nicht gewundert. Ich habe es akzeptiert und kann damit leben. Besser leben als vor Cellinas Besuch hier unter uns.
Und Ihnen würde ich raten, endlich die Finger aus ihrem Martini zu nehmen.