Cecstasy
Eine Symbiose aus Angst und Unsterblichkeit elektrisierte jede Pore in Ecos Körper.
„Geil.“
So kommentierte er dieses besondere Gefühl, das er noch nie zuvor gespürt hatte. Sein Weg bis an die Spitze war mühsam gewesen. Eco blickte in den Himmel. Das gleißende Licht der Sonne blendete seine weit geöffneten Pupillen.
Zögerlich trat er mit dem rechten Fuß nach vorne. Er atmete tief ein, ehe er sich traute, den linken nachzuziehen.
Nun stand er an der Stelle, an der sich keiner vor ihm hin getraut hatte. Vorsichtig blickte er nach unten.
Staub. Dreck. Angst. Endlichkeit. Erkenntnisse. All das lag direkt unter ihm.
Für einen langen Moment verloren Ecos Augen sich in der Tiefe des Abgrundes. Sein Herz feuerte so stark, dass die Salven im Hintergrund gänzlich in seiner Wahrnehmung verstummten.
Er spürte den frischen Wind, der seine Haare zum Wehen brachte. Dabei hatte er sich vor einer Woche den Kopf kahl geschoren. Doch diesen Fehler ignorierte Eco gekonnt. Er versuchte, den besonderen Moment zu genießen und atmete tief ein.
Kein Basejump und kein Kunstflug konnten damit konkurrieren. Eco erinnerte sich, wie er eine Woche zuvor in einer noch größeren Höhe auf den Burj Khalifa geklettert war und wie er auf dessen Spitze aus dem Stand einen Salto gemacht hatte. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre in die Tiefe gestürzt.
Er war der Erste. Keinem anderen zuvor war dieses Kunststück gelungen. Alle bewunderten Eco dafür. Das war sein Antrieb. Fame. Dieses Gefühl etwas in dieser Welt darzustellen; eine Bedeutung zu haben. Doch diese Anerkennung war schnell wieder verbraucht. Eco brauchte den nächsten Kick. Es musste mehr sein. Es muss immer mehr sein. Aber das hier, das war noch gewaltiger. Die eine Stufe, die über allem stand.
Als Eco seinen Selfie-Stick zückte und sich selbst sowie das Panorama des völlig zerbombten Homs im Hintergrund filmte, detonierte etwas unmittelbar unterhalb des zerstörten Hochhauses, auf dem er sich befand.
Eco schrie.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Plötzlich merkte Eco, wie der Boden unter seinen Füßen Stück für Stück bröckelte. Er blickte sich um. Verschwommen hörte er die Schreie der letzten Zivilisten der Stadt.
Sein Herz raste immer mehr. Der Grund auf dem er stand, krachte zusammen. Mit letzter Kraft hielt er sich an einem abgerissenen Stromkabel fest. Er blickte nach unten. Menschen schrien um Hilfe. Kinder suchten ihre Eltern. Soldaten starben.
***
Für Eco aber war alles nur ein Spiel, nicht real. Schlimme Konsequenzen befürchtete er nicht. Gerade als er sich nach oben ziehen konnte, schlug eine Tomahawk-Rakete in das unterste Stockwerk des Hochhauses ein.
„Mist. Game over. Aber krasse Grafik… Das ist also Krieg“, dachte sich Eco.
„Nochmal!“, rief er während er mit einem Lächeln in seinem Gesicht in die Tiefe stürzte.
***
Nervös zog Hauptkommissar Legrand an seiner E-Zigarre, während eine kleine schwarze Entertainmentbox der Firma Mississippi die Erlebnisse sowie das verschriftlichte Gefühlsprotokoll von Eco1994 aus dem Kriegssimulationsspiel an die Beamerwand projizierte.
Legrand hatte erst vor zwei Tagen seinen neuen Job im Pariser Kommissariat begonnen und schien mit der Situation leicht überfordert.
„Ok. Das reicht. Wir müssen dich leider mitnehmen, Alessia. Du bist unsere Blackbox. Schließlich warst du mit dem Opfer online verbunden“, sagte Legrands Assistent Ben Ahmid zu der weiblichen Computerstimme, die sich unmittelbar nach dieser Aussage sofort selbst deaktivierte und herunterfuhr.
„Hallo? Alessia? Hallo?!“ Ben Ahmid brüllte vor Wut. „Verdammter Mist!“
„Leute, die nehmen wir mit ins technische Labor. Wir müssen wissen, was mit dem Teilnehmer hier passiert ist und wer ihm das Spiel verkauft…“, sagte Legrand.
Der anwesende Gerichtsmediziner unterbrach ihn plötzlich.
„Herr Legrand, schauen Sie hier. Ich kenne die Ursache: Exitus durch unumkehrbaren Hirnfunktionsausfall. Schuld ist nicht das illegale Spiel mit dem Namen Homs, sondern eher dieser primitiv verarbeitete Plagiatschip hier. Made in China, wie ich es vermutet hatte. Dieses Teil hatte einen Kurzschluss und hat die Synapsen von unserem Spieler Eco1994 im wahrsten Sinne des Wortes durchbrennen lassen.“ Der Gerichtsmediziner betrachtete den Chip in seinen Händen näher. „Das ist schon das dritte Todesopfer durch Cecstasy in diesem Monat“, sagte er.
„Cecstasy?“, fragte Legrand.
„Das ist die Kurzform von Cyber Ecstasy. So heißt dieser neue illegale Chip. Die Konsumenten suchen den ultimativen virtuellen Nervenkitzel. Und durch effektive Hirnstimuli können sie durch das Programm in jede Welt hinein transportiert werden. Es fühlt sich an, als erlebten sie ihre Abenteuer in der Realität. Das ist der neueste Kick. Bunte Pillchen braucht man dafür nicht mehr, nur eine VR-Brille. Und die Chips werden direkt in das Gehirn eingepflanzt. Bei gut gemachten Produkten kann man im Spiel auch problemlos sterben. Aber wehe der Chip ist dilettantisch konstruiert wie der hier…“, erklärte Ben Ahmid.
„Und wie lange ist Cecstasy schon im Umlauf?“, fragte Legrand.
„Erst seit wenigen Monaten. Es hat harmlos angefangen. Bungee-Sprünge, die ersten aufregenden Sexerlebnisse, eine exzessive Koksnacht. Jede Form von Ektase konnte von den Usern heruntergeladen werden, solange sie sich schon einen Chip einpflanzen haben lassen. Aber mittlerweile werden durch Cecstasy auch verbotene Kriegsspiele detailecht simuliert. Das Opfer letzte Woche wurde von einem SS-Soldaten per Kopfschuss niedergestreckt. Auch da ist wieder ein Chip durchgebrannt. Fast das identische Muster; nur war das Opfer dort gerade mal 14 Jahre alt“, erklärte Ben Ahmid.
„Echt pervers und geschmacklos…“, kommentierte Legrand. „Und Eco stand wohl auf modernere Kriegsware.“
„So sieht’s aus. Und er passt genau ins Kundenschema“, ergänzte Ben Ahmid.
„Ich sehe es“, sagte Kommissar Legrand, während er sich den leblosen Körper des jungen Mannes mit den kahlgeschorenen Haaren anschaute. Eine VR-Brille verdeckte sein Gesicht.
„Stark übergewichtig, unsportlich, alleinlebend und eigentlich bemitleidenswert“, ergänzte er.
„Leider konnte er sich wohl nur dieses Billigzeug und die OP leisten... Dabei gehörte er online zu den besten Spielern mit vielen realen Fans, auch wenn durch seinen Spielavatar wohl keiner wusste, wie unser Antoine Ecolet in Wirklichkeit aussah“, erwiderte Ben Ahmid.
Danach zeigte Ben Ahmid ein Foto des 14-jährigen Jungen, der eine Woche zuvor verstorben war. Angewidert nahm Legrand einen Zug von seiner E-Zigarre.
„Wie teuer ist eigentlich so ein Chip? Wenn ich das hier alles sehe, könnte ich auch einen gebrauchen, um mir eine schönere Welt vorzustellen.“