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Castor schottern
Gespannt sahen Cathleen und ich dabei zu, wie Rico den Spucki anleckte und ihn auf die Laterne pappte. Er betrachtete sein Werk lange, als gäbe es darauf sonst etwas zu lesen, dabei stand da nur: Castor schottern. Darüber war das Zeichen für Radioaktivität, und darüber das Datum eines Tages im August. Rico schüttelte den Kopf.
„Das ist irgendwie peinlich“, sagte er. „Total am Thema vorbei.“
Die Nazis hatten Demokratie heißt Volkstod und Mein Kommunismus geht nur national geklebt. Zu Beginn des Abends hatten Rico und Dennis diese Botschaften noch unter Wake up! Nazistrukturen aufdecken verschwinden lassen, doch der Abend war lang gewesen. Inzwischen waren wir zum fünften Mal die nachtleere Mecklenburgstraße runter bis zur IHK und wieder zurück. Die Nazis überklebten unsere Spuckis mit ihren. Kurze Pause. Wir warteten, bis sie wieder weg waren. Dann umgekehrt, Nazistrukturen aufdecken.
„Wenn du mir was sagen willst, kannst du es auch ruhig direkt tun“, sagte Dennis.
Rico zuckte die Schultern. „Du hast gesagt, du bringst Spuckis.“
„Habe ich ja auch.“
„Aber die sind inhaltlich gerade überhaupt nicht relevant.“
„Es waren nunmal die einzigen, die wir noch hatten. Du hättest ja auch welche besorgen können.“
„Wie oft macht ihr das dann eigentlich?“, fragte ich. „Also, die Straße hier so rauf und runter?“
Rico sah mich genauso an wie ein paar Stunden zuvor, als Cathleen mich mit in die WG gebracht hatte. „So oft, wie es eben sein muss.“
Cathleen und ich standen da mit den Händen in den Taschen.
„Aber ist das nicht total mühselig?“, fragte sie.
„Genau.“ Rico, voller Verachtung. „1933 war es auch vielen Leuten zu mühselig, das Maul aufzumachen.“
Ich musste mir Joseph Goebbels im Sportpalast vorstellen, wie er die Frage mit dem Krieg stellte und die Leute darauf die Fäuste in die Luft streckten und riefen: Castor schottern!
„Da kannst du ruhig grinsen“, sagte Rico.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich-“
„Es hat euch auch keiner gezwungen, mitzugehen. Ich dachte, es wäre ganz nett, mindestens zu viert zu sein, nachdem außer Dennis und mir heute keiner Zeit hatte, aber ihr hättet auch Nein sagen und in deinem Zimmer in die Kiste gehen können.“
„Alter!“, entfuhr es Dennis.
Cathleen blinzelte ein paar Mal, als wäre sie gerade aufgewacht.
„Spinnst du?“, sagte sie.
Rico trat gegen eine leere Getränkedose. Das Scheppern hallte zwischen den Häusern wider.
„Tut mir leid“, sagte er, als es wieder still war.
Noch fast zwei Monate musste die Entschuldigung halten. Dann ging Cathleen zurück nach Magdeburg, für die Masterarbeit.
„Oder wollen wir einfach für heute aufhören?“, fragte Dennis, bevor Cathleen etwas sagen konnte. „Und noch ein bisschen an den See?“
„Dann ist morgen alles voll mit Nazi-Parolen“, sagte Rico.
„Glaube ich gar nicht“, meinte Dennis. „Ist gleich halb zwei. Irgendwann müssen die ja auch schlafen. Und morgen ist Wochentag.“
Das überzeugte Rico. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls gingen wir zu seinem Auto und fuhren in Richtung Burgseestraße.
Auf der Fahrt fragte Dennis, warum ich ausgerechnet in Schwerin ein Praktikum machte.
„Habe das Angebot auf einer Internetseite mit Jobs für Geisteswissenschaftler gefunden.“
„Praktikumsschleife.de?“, fragte Rico.
„Witzig“, sagte Cathleen.
„Ich habe Geschichte abgebrochen“, verteidigte sich Rico. „Da darf ich sowas sagen. Das ist wie Rap, wenn sie sich gegenseitig Nigger nennen.“
Wir hatten weder Rap noch irgendwas anderes, nur das Brummen des Motors. Ricos Auto hatte kein Radio. Cathleen sah aus dem Fenster. Dennis sah aus dem Fenster. Rico sah Cathleen an, neben sich auf dem Beifahrersitz. Dann sah er mich an, im Rückspiegel.
Alle paar Meter passierten wir ein anderes schickes Haus am See.
„Hui.“ Cathleen, bei jedem Haus. „Als ich als Kind hier war, fiel hier alles fast zusammen. Sehen schön aus. Sowas könnte ich mir für später auch vorstellen.“
Rico lachte. Es klang gemein. „Die wirst du dir als Übersetzerin nicht leisten können. Da sind nur Rockefellers eingezogen.“
„Vielleicht haben sie auch nur gespart.“
„Nö.“ Rico kratze sich an der Wange. Er kratzte sich oft. Mit seinen Stoppeln schien er nicht recht zufrieden. Wahrscheinlich trug er sie ihretwegen.
„Kennst du die alle persönlich?“, fragte Cathleen.
„Von der Tanke“, sagte Rico. Er jobbte dort. Cathleen hatte es mir erzählt.
„Muss ich nicht kennen, reicht mir so schon. Fahren alle diese affigen Geländewagen. BMW, Mercedes, darunter läuft nichts. Benehmen sich, als hätten sie nicht nur das Haus gekauft, sondern den See gleich dazu. Und das Schloss. Die ganze Stadt. Meckpomm.“ Er kratze sich an der anderen Wange. „So richtig dämliche Wessis halt.“
Wieder diese Stille, wie nach dem Tritt gegen die Dose.
Dennis gähnte laut und nahm seinen Vorschlag mit dem See zurück. Cathleen und ich fanden das gut, weil wir am nächsten Tag arbeiten mussten. Rico sagte nichts. Er drehte einfach um.
Nach der Arbeit kam Cathleen mit zu mir. Wir hatten über Filme geredet und sie wollte sich Barton Fink ausleihen. Torwald war noch bei der Arbeit. Er war Kalibrierer und alt genug für Kinder, die demnächst mit der Schule fertig wurden. Die gab es aber nicht. Torwald lebte allein und vermietete das kleinste Zimmer an Durchreisende wie mich, Praktikanten und ausländische Studierende von der Fachhochschule.
Kurz nach meinem Einzug hatten wir zusammen am Küchentisch gesessen, das erste und einzige Mal. Wir hatten Kaffee getrunken und über all die Vorurteile gesprochen, die es noch immer gab. Während dieser Unterhaltung war plötzlich eine Megaphonstimme hoch zu uns in den dritten Stock gedrungen. Die Botschaft kam so blechern, so scheppernd und verzerrt, dass ich zunächst kein Wort verstand. Torwald übersetzte, und bei genauerem Hinhören erkannte ich es dann auch. Ich hatte gedacht, es wäre das DRK wegen Blutspenden, aber es war die NPD wegen Stimmen. Torwald schien peinlich berührt, auch wenn er lachte.
Danach hatten wir nicht mehr viel miteinander geredet. Er ging nicht gern ins Kino und ich konnte mit dem Kalibrieren nichts anfangen. Außerdem war der Sommer sehr heiß. Ich lief oft mit freiem Oberkörper durch die Wohnung. Torwald fand das eklig.
Die Einrichtung in meinem schmalen Zimmer war spartanisch, aber nagelneu. Torwald hatte investiert. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Regal, alles aus hellem Holz. Auf dem Tisch mein Laptop, auf dem ich Filme sah. Im Regal DVDs und Bücher, die mir die Gedanken daran vertrieben, dass ich mich langsam um mein nächstes Praktikum bemühen musste. Auf dem Bett gerade jetzt eine getragene Unterhose, die mich nicht störte, weil ich Cathleen nicht haben wollte. Sie grinste. Ich nahm die Unterhose und warf sie im Badezimmer in den Wäschekorb.
Als ich das Bad verließ, kam Torwald heim. Er riss die Tür auf und schrie eine Begrüßung, so wie er das immer machte. Als hätte die GSG 9 den Haustürschlüssel.
„MOIN!“
„Hallo.“
Er stürmte keuchend zur Toilette und schmiss die Tür zu. Drehte den Schlüssel im Schloss. Es klang panisch.
Ich ging ins Zimmer. Cathleen betrachtete die Rücken der Bücher im Regal.
„Ist dein Mitbewohner nach Hause gekommen?“
„Ja.“
"Kommt der immer so laut rein?"
„Ja.“
Sie drehte die DVD-Hülle in ihren Händen und studierte die Rückseite, wo die Zusammenfassung stand. Ihre Augen bewegten sich nicht. Sie sah wieder auf.
„Wir haben nochmal gesprochen“, sagte sie. „Wegen gestern.“
Ich zuckte die Schultern. „Castor schottern ist doch okay. Hauptsache, man kann den Nazi-Scheiß nicht mehr lesen.“
Als hätte mich das interessiert. Cathleen lachte auf eine Art, bei der ich unsicher wurde. Sie war seit der Schule Wettbewerbe im Schmetterlingsstil geschwommen. Ihre Schultern waren viel zu breit, aber ihr Gesicht war hübsch und der Rest ihres Körpers ganz normal.
„Ach“, sagte Cathleen. „Wie man sich in das Thema so verrennen kann, verstehe ich sowieso nicht. Wo ich herkomme, gibt's auch Nazis. Die ignoriere ich und gut ist. Ich meinte Rico, was er gesagt hat. Im Auto. Hat dich das getroffen?“
„Wegen Wessi?“
Sie nickte. „Ich soll dir Entschuldigung sagen. Er meinte, man denkt da nicht drüber nach, weil es fast nie vorkommt. Als wenn ein Zwanzigjähriger ein Hörgerät hat, und dann macht einer einen Witz über Schwerhörige, weil das einfach so selten ist. Also, so hat Rico es erklärt. Er meinte, er hätte das mit dem Wessi gerade gesagt, da sei ihm durch den Kopf geschossen, dass du auch einer bist, und da habe es ihm total leid getan.“
Ich dachte an Ricos Blick im Rückspiegel. „Echt?“
Cathleen drehte die DVD und betrachtete das Cover. Ich mochte es nicht, weil sie von den diversen Plakatmotiven das meines Erachtens langweiligste genommen hatten, zwei Szenenfotos jeweils von John Turturro und John Goodman nebeneinander gestellt.
„Ich glaube, es waren erstmal alle irgendwie ziemlich erschrocken“, sagte Cathleen. „Ich jedenfalls. Dennis glaube ich. Und Rico auch. Das hat er heute morgen gesagt, und ich hatte nicht das Gefühl, dass er lügt.“
Schultern hin oder her: Mir fiel ein, wie ich Cathleen fragen konnte, ob sie mit mir schlafen wollte, ohne die Schande der direkten Zurückweisung zu riskieren.
„Er steht auf dich.“ Ich sah Stolz in ihrem Blick aufflackern.
„Ja, ich weiß.“
„Und er denkt, du stehst auf mich.“
„Kann sein. Muss aber nicht. Wenn ich jemanden mag, bin ich auch auf jede andere eifersüchtig, egal, ob er die geil findet oder nicht.“
„Erzählst du ihm, dass du nach der Arbeit hier warst?“
„Nein. Er denkt, ich bin direkt nach Hause. Das würde ihm sonst weh tun, glaube ich. Und das völlig unnötig.“
„Klar. Er kann ja nicht wissen, dass hier nichts passiert ist.“
„Nee. Er kann ja nicht hellsehen.“
Auf der Leinwand wäre es damit vollbracht gewesen. Ich wiederhole „Nichts passiert“, und Cathleen schließt die Augen und haucht „Absolut nichts“ und öffnet erwartungsvoll den Mund. Wir küssen uns und landen auf Torwalds hellem Holzbett, das eigentlich nur für eine Person gedacht ist. Cathleen zieht ihr T-Shirt aus, und wie durch ein Wunder sind ihre Schultern darunter so normal wie der Rest von ihr, als wäre sie noch nie im Leben im Schwimmbad gewesen. Hinterher liegen wir nebeneinander und lächeln die Zimmerdecke an. Dann hören wir draußen die Megaphonstimme, die brüllt „Frei, sozial und national!“, und wir lachen darüber, wie verrückt und wunderbar alles ist, wenn man sich liebt oder zumindest gerade gefickt hat.
Stattdessen bedankte Cathleen sich für den Film, den sie am Wochenende bei einer Freundin sehen wollte. Es war Freitag und sie musste los, sie wollte nicht zu spät ankommen.
Als sie fort war, ging ich ins Badezimmer. Torwald war eben erst fertig geworden. Ich versprühte Deo und Haarspray, bevor ich onanierte. Zurück im Zimmer fuhr ich den Laptop hoch. Ich tippte praktikumsschleife.de ein. Die Seite gab es aber nicht.