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Cashmere
Sie zog den Prospekt mit den anderen Briefen aus dem Briefkasten. Er war ein bisschen aufgeweicht vom Regen, der durch den löchrigen Deckel getropft war. Wir müssten mal einen neuen kaufen, dachte sie. Immer, wenn die Post nass war, fiel es ihr wieder ein. Und jedes Mal schob sie den Gedanken daran zur Seite. Unter 17 Euro war keiner zu bekommen. Ganz schön teuer. Sie mussten rechnen.
Nach der Tasse Kaffee sah sie sich den Prospekt genauer an. Strauss hatte die Cashmere-Pullover erneut heruntergesetzt. Nun kosteten sie statt 69 nur 59 Euro. Sie würde sich die mal ansehen.
Sie räumte den Kaffeetisch ab. Auf dem Couchtisch waren noch die kalten Zigarettenstummel und die Weinflasche. Auch die räumte sie weg. Er schlief noch, sie ließ ihn schlafen.
Strauss würde um zehn öffnen. Sie machte sich fertig, zog die Stiefel und eine Regenjacke an, holte das Fahrrad aus dem Schuppen.
Auf dem Weg ins Zentrum kam sie am Friedhof vorbei. Ob die Primeln schon verwelkt sind? Sie hatte sie zwar erst vor zwei Tagen frisch auf das Grab gestellt, doch es würde nichts schaden, noch einmal nachzusehen.
Das kleine Grab lag zwischen den anderen kleinen Gräbern. Der Wacholder, den sie vor 27 Jahren als junges Pflänzchen darauf gepflanzt hatten, war inzwischen sehr groß geworden. Er war so groß, dass das Grab wie eine Umrandung nur für ihn aussah. Das kleine weiße Schildchen war kaum noch zu erkennen. Er war gerade 9 Monate alt gewesen, als er von dem Sofa fiel, auf das sie ihn zum Schlafen gelegt hatte. Gehirnblutungen. Es war ihr erstes Kind gewesen. Hätte sie besser aufpassen sollen ? Hätte sie nicht aus dem Zimmer gehen sollen?
Vor zwei Jahren hatte die Friedhofsleitung sie gefragt, ob sie das Grab einebnen lassen wolle. Sie konnte nicht.
Die Primeln, die unter dem Wacholder kaum Platz hatten, waren noch frisch. Unschlüssig, was sie nun noch machen konnte, stand sie vor dem Grab.
Sie löste sich und ging zum Fahrradständer. Es war jetzt kurz vor zehn. Strauss würde gleich öffnen. Nur 59 Euro, das war ein echtes Schnäppchen. Auch noch in Lila. Oder hatte sie schon einen in Lila? Ach, egal, vielleicht gab es morgen keinen mehr. Es war eine einmalige Gelegenheit.
Sie stellte ihr Fahrrad zurück in den Schuppen, nahm die Strauss-Tüte und ging ins Haus. Er war aufgewacht und saß vor dem Fernseher. Die beiden neuen Pullover legte sie noch eingepackt in den Schrank. Nachdem sie den Raum verlassen hatte und er hörte, dass sie oben war, stand er auf, nahm die Tüte mit den Pullovern aus dem Schrank und trug sie in sein Auto. Er würde sie am Nachmittag zurückbringen.