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Carlos Feuer
Herr Schmidt zerrte Carlo am Arm auf die Bühne der Aula. Er zog den Ellenbogen bis über den Kopf des Jungen, was bewirkte, dass Carlo humpelte. Es sah aus, als hätte der Vorgeführte zwei unterschiedlich lange Beine.
Die Aula war so voll wie sonst nur bei der Einschulung, mit dem Unterschied, dass das Publikum stand und keine Eltern anwesend waren. Das Geflüster, voller Vermutungen über den Grund der unangekündigten Vollversammlung, war verstummt, als Herr Schmidt die Bühne betreten hatte. Ein paar von Carlos Opfern unterbrachen gemeinsam mit ihren Freunden die Stille durch gehässiges Gelächter, bis der Blick des Direktors sie traf. Schließlich war es so leise, als stünde die Schule seit Jahrzehnten leer, als wären wir alle nur Geister. Da wir es erst ein paar Tage zuvor im Religionsunterricht durchgenommen hatten, musste ich mir vorstellen, wie Herr Schmidt fragte, ob er uns lieber den hier oder den Barabbas freigeben solle.
„Wir haben seit ein paar Tagen jemanden bei uns, der uns allen von Anfang an viel Ärger bereitet hat, Schülern und Lehrern gleichermaßen“, sagte Herr Schmidt, dessen Stimme ganz ohne Mikrofon die Aula ausfüllte. Damals habe ich gedacht, diese Stimme wäre der Grund, warum die Lehrer ihn zu ihrem Anführer gewählt hatten. Die Stimme und seine dicke Brille, oben drauf das lichte, weißstichige Haar, Zeugnis seiner Erfahrung und Altersweisheit.
Herr Schmidt ließ kurz zustimmendes Gemurmel erblühen und fuhr dann fort: „Der seine Deutschlehrerin eine blöde Kuh nannte, weil sie ihn verständlicherweise gefragt hat, wie es denn sein könne, dass er in der dritten Klasse kaum das Alphabet aufsagen kann.“
Eines von Carlos wilden Augen konnte ich erkennen, das andere verdeckten seine fast kinnlangen feuerfarbenen Haare. Normalerweise pustete er sie alle paar Sekunden aus dem Gesicht, eine Unart, die seine Eltern ihm wahrscheinlich längst ausgetrieben hätten, wäre er in unserem Dorf aufgewachsen. Allerdings hätte er dann wahrscheinlich auch gar nicht erst so eine Mädchenfrisur tragen dürfen.
Carlo war keiner von uns, er war aus überhaupt keinem Dorf, oder besser, er war heute aus diesem und in der Woche darauf aus einem anderen Dorf. Er war ein Zirkuskind, zu Gast in der Stadt mit all den Clowns und versklavten Tieren. „Halt dich bloß von dem fern“, sagten meine Eltern, wenn ich von Carlo erzählte, also sagten sie es oft, denn es gab viel von Carlo zu erzählen.
Der Zirkusjunge pustete sich die orangeroten Schlieren nicht aus dem Gesicht, er bewegte sich überhaupt nicht, jedenfalls nicht aus eigenem Antrieb heraus. Seine Arme, seine Beine und sein Kopf wackelten leblos, wenn Schmidt ihn schüttelte. Es war, als hielte der Direktor eine Puppe. Auch Carlos erkennbares Auge war so tot wie die Blicke der Porzellanfiguren, die unsere Mütter auf die Sofas in den Wohnzimmern setzten.
„Ganz abgesehen davon, dass er ein bisschen alt für die dritte Klasse ist“, sagte Herr Schmidt. Gelächter, der Direktor genoss den Erfolg seines Scherzes, ein sehr feines Lächeln auf dem Gesicht. Tatsächlich war Carlo nicht nur für die dritte Klasse zu alt, sondern für die gesamte Grundschule. Er war selbst schon ein Lehrer. In der Pause brachte er uns Worte bei, für die wir Hausarrest bekamen.
Herr Schmidt hob die Hand. Stille. „Es handelt sich um einen Schüler, der eine Pause nicht ohne Rauferei herumbringen kann“, sagte er.
Mich selbst hatte es auch mal fast erwischt. Carlo und ich waren im Gedränge auf den Fluren an den Schultern zusammengestoßen. Er blieb stehen und stierte mich durch den Feuerschleier seiner Haare an. Als er sie aus dem Gesicht blies, roch ich seinen Atem. Den Gestank darin erkannte ich sofort. Einer meiner Milchzähne im Unterkiefer hatte einfach nicht ausfallen wollen. Der Zahnarzt zog ihn, als er begonnen hatte zu faulen.
Glücklicherweise waren weder Carlo noch ich stark genug, dem Sog der in Richtung ihrer Klassenräume wabernden Massen zu widerstehen. Immer, wenn ich mich umdrehte, sah ich, dass Carlo mir hinterherstarrte, ohne in die Richtung zu sehen, in die ihn die Strömung seiner Mitschüler trug. Wahrscheinlich kam ich in jenem Moment auf seine Liste, aber bevor er mich abhaken konnte, wurde er nun selbst abgehakt.
Weniger Glück hatte Sebastian Römer gehabt. Carlo hatte ihn in den Schwitzkasten genommen, bis er geschrien hatte „Lass los, du Wichser!“, bis er gequiekt hatte wie ein Ferkel, bis er geweint und schließlich nur noch geröchelt hatte.
Das Mitgefühl für Sebastian Römer hielt sich aber in Grenzen. Er war körperlich ein Sechstklässler und hatte bei neunundneunzig Prozent der Schwitzkästen, an denen er beteiligt war, den aktiven Part innegehabt. Mein Freund Tobias sah viel fern, am Wochenende auch noch spät abends, und er sagte, genau deshalb habe Carlo sich Sebastian Römer vorgeknöpft, das sei in den Gefängnisfilmen auch immer so. Wenn der größere Fisch den kleineren frisst, dann waren wir alle Heringe, Sebastian Römer war ein besonders großer und stattlicher Hering, Carlo war ein fieser Riesenhecht und Herr Schmidt der Weiße Hai.
„Ich habe mit vielen eurer Eltern in den vergangenen Tagen telefoniert“, sagte Herr Schmidt. „Und ich hätte mich vielleicht nicht dazu entschlossen, das vor euch allen hier auszutragen, wenn der junge Mann heute Morgen nicht den Vogel abgeschossen hätte.“ Ab der junge Mann führte die Carlo-Puppe von Schmidt gelenkt einen spastischen Tanz auf. Es sah aus, als füge er ihr Stromstöße zu.
Tobias stand ein paar Reihen vor mir. Er drehte sich um und sah mich vorwurfsvoll an. Der einzige Gefängnisfilm, den ich kannte, war Lock up mit Sylvester Stallone. Mein Bruder hatte den auf Video. Als wir ihn heimlich geschaut hatten, hatte Tobias sich fast das gesamte Finale hindurch die Augen zugehalten. Das gab er aber nie zu.
„Da hat jemand in der Umkleidekabine gezündelt“, sagte Herr Schmidt. „Überall liegt verbranntes Papier herum. Wir schließen die Halle auch außerhalb der Sportstunden nicht ab, weil das nicht nötig gewesen ist, bevor wir dich aufgenommen haben.“ Schmidt wandte sich vom Publikum ab und Carlo zu. Er zog ihn zu sich heran, sodass der Zirkusjunge auf Zehenspitzen trippelte wie ein Balletttänzer. Der Blick war weiter starr geradeaus gerichtet, die Haare mussten Nase und Lippen kitzeln, und doch unternahm Carlo keinen Versuch, zu pusten.
„Du hättest die ganze Schule in Brand stecken können!“ Das Echo dieses geschrienen Satzes hallte durch die Aula. Erneutes Geflüster hatte sich abzuzeichnen begonnen. Jetzt, auf Herrn Schmidts Wutausbruch hin, waren wir wieder Geister. Als die Ersten kicherten, dachte ich, sie seien wahnsinnig geworden. In diesem Moment Herrn Schmidts Aufmerksamkeit zu erregen war, als würde man einen zähnefletschenden Hund mit Steinen bewerfen. Ohne Zaun dazwischen.
Schließlich fiel mein Blick auf den dunklen Fleck, der sich im Schritt von Carlos Hose ausbreitete. Herr Schmidt ließ sein Opfer los und glotzte verwirrt zu den anderen Lehrern. Ich stand mit den Händen in den Taschen da und lachte, ließ mich mit der Mehrheit treiben, so wie ich mich zuvor von ihr aus der Reichweite von Carlos starken Schwitzkastenarmen hatte tragen lassen. Tobias sah mich an, als wollte er lieber nichts sehen, als sähe er Lock Up. Mit dem Fingernagel kratzte ich über die Reibefläche der Packung Streichölzer in meiner Tasche.