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- 15.03.2008
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Carla und Tin
Carla wälzt sich im zerwühlten Bett unruhig von einer Seite auf die andere und erwacht mit einem leisen Schrei. Sie tastet nach dem Schalter, kurz darauf erhellt sich das kleine Zimmer. Sie hört ihr Herz klopfen, spürt es wie einen gigantischen Blutegel, der sich in ihrem Inneren windet und jede Vernunft aussaugt, dann, als ihr Blick sich an dem Bild gegenüber ihres Bettes beruhigt und erste Gedanken aus dem Chaos übermächtigen Alpdrucks heraus wachsen, steht sie auf, schaltet den Computer an und klickt, bis eine bestimmte Musik den Raum erfüllt.
Carla setzt sich an den Schreibtisch, vor sich die Dächer der nächtlichen Stadt, unter ihnen die Fassaden, wenige Fenster sind erleuchtet. Sie dreht sich eine Zigarette, raucht schnell und widerwillig, scannt die städtische Nacht, sucht nach optischer Information, die ihr Erträumtes überdecken könnte. Doch die durch das lidlose innere Auge eingespeisten Eindrücke archaischer Traumwelt, die sich in ihr immer noch wölbt und pickelt, lassen sich von ihrer eigentlichen Unwirklichkeit nicht überzeugen.
Sie wägt Möglichkeiten ab, entscheidet und zieht sich flink an, um das Zimmer zu verlassen.
Die Straße vor ihrer Tür ist mittlerweile fast eisfrei, aber mit frischem Schnee bedeckt. Darüber leuchten die Neonschilder billiger Kneipen. Ein Bauzaun grenzt drei Viertel des Koggenplatzes ein.
Nachtschwärmer ziehen herum. Schwule, die ihre Orientierung plakativ zur Schau stellen; besoffene Migrantenkids, die in einem seltsamen Sprachgemisch kauderwelschen; Sextouristen, die ihre glattrasierten Gesichter den Nutten entgegen geilen.
Aus den Augenwinkeln sieht sie ein Kind, das im schwachen Schein einer Nachtlampe friedlich in seinem hölzernen Bettchen liegt, vielleicht vergaß der Vater, die Vorhänge zuzuziehen.
Carla lächelt kurz, geht schnell vorüber, setzt die Kapuze auf, wartet an Ampeln, geht über Straßen. Auf einer Brücke bleibt sie stehen, lehnt sich gegen ein Geländer und sieht zu dem jetzt leeren Platz, auf dem sich am Tag die Sehnsüchtigsten rumtreiben und ihren Geschäften nachgehen. In ihrem Rücken das weite Rund der Bahnhofshalle.
Sie fokussiert den Platz, an dem sie vor vielen Jahren das letzte mal war, wo sich ein Teil ihres ersten Lebens abgespielt hat. Die Bilder von damals bedrängen sie, die Worte bedrängen sie stets aufs neue, mal mehr, mal weniger stark. Ein innerer Monolog, der ihre Biographie stets aufs Neue erklären will, als könnte man, wenn man nur lange genug sucht, eine Erklärung finden, die einen befriedigt.
Sie kam an diesen Ort, weil er für sie alles beinhaltet, was ihr erstes Leben ausgemacht hat, dort strömen ihre Erinnerungen zusammen wie die Getriebenen am Tag, die aus allen Teilen der Metropolregion hierher kommen. Diese Erinnerungen, ihre Dämonen, führen auf dem jetzt leeren Platz ihr Vergangenheitstheater auf, spielen eine Szene nach der anderen, jedes mal ein wenig anders als beim letzten Mal, und führen Carla in endlosen Varianten vor, dass es nur ein Leben gibt und das alles, was geschehen war, zu ihr gehört bis der letzte Vorhang fällt.
Stunden vergehen, die Kälte kriecht unter ihren dicken Mantel, sie beginnt zu zittern und zwingt sich, auszuhalten. Es ist noch nicht genug, denkt sie. Erst als sich der Nachthimmel um kaum wahrnehmbare Nuancen erhellt, beendet sie ihre Dämonenschau. Carla spürt nichts mehr, vielleicht ist das, was sie in sich trägt, in der Kälte gefroren oder von Müdigkeit betäubt. Das Theater ist vorbei, sie kann nach Hause gehen und darauf hoffen, für eine Weile von ihrem Alp befreit zu werden, der sich tage- und nächtelang über ihr Leben stülpt, wenn er sich einmal festgesetzt hat.
In ihrer Wohnung angekommen, kippt sie das Fenster und legt sich angezogen aufs Bett. Als sie einschläft, ist es draußen hell.
Das ganze Land: Felder, Wälder und die längs der Gleise liegenden Städte, sind unter einer Schneedecke verborgen. Sie verhüllt das kultivierte Land wie Christo vor Tagen den Reichstag. Rehe äsen in Rudeln von zehn bis fünfzehn Tieren, zwei Vögel reißen Fleischstücke aus Aas. Ein Hase, vom Lärm des Zuges aufgeschreckt, flieht zu den nahen Bäumen.
Tin blickt immer wieder hoch, von seinem Notebook auf die Landschaft, findet nichts von Interesse und fragt sich, warum er immer wieder hinschaut. Im Norden Deutschlands scheint es ständig zu regnen, jetzt ist es schweinekalt, denkt er, da fällt der Niederschlag eben als Schnee und weißt die Landschaft.
Für ihn ist es nur eine Bildergalerie, die mit ziemlich hoher Geschwindigkeit vom Start- zum Zielbahnhof an ihm vorbeisaust. Landschaftsbilder mochte er noch nie und das Alleinstellungsmerkmal der Wirklichkeit zählt für ihn nicht. Er kann sie nicht anfassen - das Draußen liegt ebenso wie der Film, den er sich bis eben anschaute, hinter einer Scheibe. Und für ihn ist dieses Draußen eindeutig weniger wirklich als die Geschichte, die er nun liest.
Den Rest der Fahrt vertieft er sich in das Buch. Ein deutscher Großschriftsteller der Gegenwart beschreibt in ein zersprungenes Pferd die tragische Geschichte eines erfolgreichen und warmherzigen Dressurpferdes, das am Ruhm zerbricht und alkoholabhängig wird. Der Höhepunkt der Geschichte besteht in der minutiösen Schilderung eines einzigen Abends am Roulettetisch, an dem der Hengst nach anfänglichen Erfolgen Stute, Fohlen und den luxuriösen Stall verspielt.
In der Stadt angekommen, verlässt er den Zug, in dem er fast allein saß, geht über den Störtebekerdamm, rutscht auf einer frisch gefrorenen Pfütze fast aus, flucht, starrt ungläubig auf den Minirock einer jungen Frau, die ihr Geschlecht verkauft und hält einen Moment inne, als schneidender Wind einen Nebel aus Schneepartikeln über die Straße wirbelt. Schön, denkt er und eilt weiter.
Zehn Minuten später steht er in seiner Wohnung unter der Dusche, schiebt den Temperaturregler nach links bis die Haut zu brennen beginnt und zwingt sich lange Sekunden auszuhalten. Krebsrot steigt er aus der engen Kabine, wickelt ein Handtuch um die Hüfte und huscht über den Flur seiner WG. Er trifft den Vietnamesen aus dem Nachbarzimmer, der seit dreizehn Jahren in Deutschland lebt ohne einfachstes Deutsch zu sprechen, grüßt ihn mit einem knappen Nicken und schließt die Zimmertür hinter sich.
Tin zieht frische Sachen an und packt die Reisetasche aus – fünf Minuten, mehr braucht er nicht. Er sieht aus dem Fenster, sieht die Verwehungen auf dem Hinterhof und den von einer dünnen Schneeschicht wie von Patina bedeckten Sperrmüll seiner Nachbarn: Fernseher, Monitor und ein Bücherstapel.
Dann verlässt er sein Zimmer, die Wohnung, das Haus, und geht los, um irgendetwas zu erleben.
Beim Türken isst er eine Lahmacun und trinkt schwarzen Tee, verfolgt das Basketballspiel zweier amerikanischer Mannschaften, bis es ihn ermüdet und er Tele anruft.
Sie verabreden, sich um zwei am Bunker zu treffen. Tele begeistert sich für die heute auflegenden Detroiter DJ-Heroen. Tin sagt „ja ja, bis dann“, und legt selbst auf. Er geht in ein Cafe, trinkt mehrere Espressi und blättert in Zeitschriften. Er zählt die toten Fliegen auf einer Zuckertorte. Dann geht er ins Kino und sieht sich einen Film an.
In dem schlägt eine Frau ihrem Mann so heftig mit einem Gegenstand auf den Hoden, dass er ohnmächtig wird. Dann bohrt sie ein Loch durch seine Wade, holt einen Schleifstein, durch dessen Mitte eine Stange ragt, treibt die Stange durch das aufgebohrte Loch und befestigt den Klotz mit einer riesigen Mutter. Als der Mann aufwacht, masturbiert sie ihn bis Blut spritzt. In einer späteren Szene, Großaufnahme, schneidet sie sich die Klitoris ab. Es tauchen sprechende Tiere auf und letztendlich besiegt der Mann die Frau und verbrennt sie auf einem Scheiterhaufen.
Tin verlässt das Kino, fährt U-Bahn, steigt am Hauptbahnhof aus, um noch ein Stück zu Fuß zu gehen, sieht eine einsame Gestalt in der Mitte der Eisenbahnbrücke stehen, die sich auf ein Geländer stützt, folgt menschenleeren Schleichwegen, bis er am Bunker ankommt und die Fassade hinaufsieht.
Ein viergeschossiger, gesichtsloser Altbau, dessen Etagen bis auf eine tot sind und dessen blinde Fenstern von nichts als deutschem Ordnungswahn erzählen. Die eine Etage jedoch strotzt vor Leben, in ihr durchschneiden rote Lichtgaben die Nacht, Blitze stroboskopieren die Tanzenden. Vor dem Eingang wacht der unvermeidliche Türsteher: Sven der Schreckliche nennen sie ihn wegen seiner Unberechenbarkeit und Macht.
Die abgefucktesten Punks kommen heute rein, aber aufgeschnöselte Szenetypen lässt er eiskalt abblitzen. Das hat keine Methode, beim nächsten Mal kann es genau anders herum sein. Tin und Tele haben aber heute Glück oder ihr Style passt ihm, er lässt sie passieren.
Verdammte Sonne, denkt Carla. Sie öffnet die Augen und sieht eine verdächtig hoch am Himmel stehende leuchtendgelbe Kugel. 13:44 Uhr. Sie legt das Handy beiseite und rollt sich aus dem Bett, eine Weile auf dem Teppichboden liegend, hört sie den Geräuschen zu, die aus der Küche kommen und gibt ihnen Namen.
Er telefoniert, denkt sie, außerdem kocht er, dem Geruch nach wahrscheinlich Buletten. Ich bin hungrig, stellt sie fest.
Carla geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank, nimmt sich einen Joghurt, geht zurück in ihr Zimmer, schaltet das Radio an und löffelt geistesabwesend, während die Nachrichten Skandale, Kriegsnachrichten und politische Rhetorik wiederkäuen.
Carla sitzt am Schreibtisch vor dem Fenster, grübelt über den beschissenen grauen Himmel und warum sie eigentlich in eine Stadt gezogen ist, wo 105% der Tage von diesem Firmament erdrückt zu werden scheinen, einem Himmel, der eine Farbe wie dreckiges Spülwasser hat, unter dessen irritierenden Wolkenformationen Vögel häufiger als anderswo gegen Fensterscheiben fliegen und sich das Genick brechen, wo die Wolken aussehen, als wären sie von einem bulimischen Petrus schon mal gegessen worden.
Sie grübelt und grübelt, erfindet zur Abwechslung Worte, die aus langen Konsonantenreihen und wenigen dunklen Vokalen bestehen und schreibt sie auf, schreibt stundenlang neuerfundene Worte mit riesigen Lettern auf reinweißes Papier, und hängt mit ihnen die Breite der Fensterfront ab.
Dann sitzt sie wieder an ihrem Schreibtisch, das Geplapper ihres Mitbewohners ist außer den enervierenden Beats des mittlerweile sicher hörgeschädigten Technojüngers ein Stockwerk tiefer das einzige, was in ihrem Kopf stattfindet. Das letzte hässliche Tageslicht, das ohnehin nur noch durch die schmalen Ritzen zwischen den Wortplakaten dringt, wird durch eine jahreszeittypisch frühe Dunkelheit abgelöst.
Als Carla im Dunkeln sitzt, überlegt sie, worüber sich nachzudenken lohnte - nichts fällt ihr ein, aber ihr fällt auf, dass sie nicht mehr hungrig ist und im Dunkeln sitzt und sie schaltet das Licht an - sie mag dieses künstliche Licht noch weniger, als das abgestandene Licht des grauen Tages, der zu einer verregneten Nacht wurde. Aber sie will die frischerfunden Wörter sehen. Nach einer Weile murmelt sie diese und beginnt sich unwillkürlich im Rhythmus der eigenen Sprache zu bewegen, ohne diesen Vorgang bewusst zu erleben, ohne die Laute wahrzunehmen.
Sie horcht in ihr Inneres hinein, fühlt mit geschicktem Griff nach den Stellen, die ihr immer zu Schmerzen zufügen, die ihre letzten Tage mit dummer, sinnloser Vergangenheit beschwerten und findet nichts. Wie erwartet, denkt sie, die Abgründe sind ausgeleuchtet, die Dämonen haben sich zurück gezogen und warten auf eine Gelegenheit, mir neue Schmerzen zufügen zu können, warten darauf, dass ich meinen Blick auf das falsche Funkeln des Alltags richte und sie im geheimen, ohne von meiner Aufmerksamkeit verbrannt zu werden, aufs Neue fett und stark werden können, bis die Dämpfe, die aus ihrer grobporigen Haut wie aus Erdspalten dringen, mein Leben wieder vergiften werden, gerade dann, wenn ich glaube, einen Takt gefunden zu haben, in dem ich ein paar Schritte gehen kann.
Sonntag, stellt sie dann mit einem Blick auf den Abreißkalender fest, morgen früh werde ich zur Arbeit gehen und all das Unvermeidliche tun, womit man sich als Mensch im Zuge seiner in die Intimsphäre eindringenden Beziehungen abzugeben gezwungen ist. Sie beschließt, auf dem Stuhl, vor den Wortplakaten, sitzen zu bleiben, das Nichts zu genießen, und nicht über seine Endlichkeit nachzudenken.
Fünf oder sechs Stunden später spürt sie ein unangenehmes Ziehen im Rücken, das sich zu einem Schmerz auswächst, ein körperlicher Schmerz, den sie in seiner Einfachheit schätzt, der die Stunden ohne psychische Belastung dehnt wie ein Zaubertrick.
Dann, als Müdigkeit sie zu dominieren beginnt, legt Carla Hose, Hemd und frische Unterwäsche für den nächsten Tag griffbereit über einen Stuhl, zieht sich aus und legt sich ins Bett. Sie sieht auf die digitale Zeitanzeige des Radioweckers bis sie einschläft.
Tin wacht auf. Das erste was er sieht ist ein stilisierter Nachthimmel: In der Mitte eine rote Sonne, die von vielen kleinen Sternen umgeben ist, die wiederum von einem doppelten Kreis begrenzt werden, in dessen Fläche Sternzeichen angeordnet sind. Er kennt diesen Himmel nicht.
Wo auch immer, wer auch immer, denkt er, ich will nichts sehen, hören oder sagen. Tin schlägt vorsichtig die Bettdecke auf, sucht seine Klamotten zusammen, schleicht auf den Flur und zieht sich dort leise an.
Er schließt die Tür von außen, rennt die Treppen hinunter und die Straße entlang bis er um die nächste Ecke biegt. Dort bleibt er stehen, klopft seinen Mantel ab, durchsucht die Taschen, stellt eine Inventarliste auf, vergleicht sie mit dem, was er eigentlich haben sollte, hat das Gefühl etwas fehlt, ohne herausfinden zu können, was es ist, verzieht ärgerlich den Mund und geht weiter, sich zuredend, dass das, was er verloren hat, nicht wichtig sein könne.
In der gesichtslosen Filiale einer Bäckereikette bestellt er einen Kaffee, trinkt und betrachtet die Blechkolonne, die sich durch den wolkenverhangenen Vormittag schiebt.
Sein Gesicht reflektiert auf der Fensterscheibe, es fühlt sich fremd an, obwohl es aussieht wie immer, fühlt es sich an, als wäre es nicht seins. Ein seltsames Gefühl, unangenehm, als stände er hinter sich und sähe den eigenen Bewegungen zu.
Dass Tin dieses Gefühl hat, wird ihm erst bewusst, als er mit der Hand schon ein paar Sekunden Nase, Mund und Stirn befühlt und drückt. Vielleicht durch den Druck auf die Haut, durch die körperliche Empfindung, wird er sich bewusst, es ist sein Gesicht, das er mit fahrigen Bewegungen befingert hat. Es ist ihm peinlich, er nimmt die Hände herunter, legt sie um die dampfende Kaffeetasse, die Carla auf den Tisch stellte, als wolle er sich an diesem nasskalten Morgen an der heißen Flüssigkeit wärmen.
„Mein Schatz, mein Schatz“, flüstert er, „ich habe dich verloren, verloren und kann nicht wieder glücklich sein, bis ich dich gefunden habe.“
„Was ist denn dein Schatz, Kumpel“, fragt Carla.
Tin zuckt zusammen, fasst sich, behauptet, dass es keinen Schatz gäbe, und er nur so vor sich her gebrabbelt habe.
„Unsinn, es gab diesen Schatz für jeden von uns, und jeder oder fast jeder hat ihn verloren – das ist nicht so besonders wie du zu denken scheinst“, antwortet Carla.
Tin zuckt die Schultern. Carla lächelt nicht, nickt ihm kurz zu und kümmert sich wieder um ihre anderen Aufgaben: Sie holt frischgebackene Brötchen aus dem Ofen, reinigt die Kaffeemaschine und bedient Gäste, zumeist einsilbige Gestalten, die Kaffee trinken und ein belegtes Brötchen essen.
Tin trinkt den fast kalten Kaffee mit mehreren großen Schlucken und geht nach Hause.
Als er vor der beigen Mietkaserne steht, kriecht sein müder Blick die Hauswand empor, folgt dem grauen Weg der Fugen. Vorbei an den schmutzigen Fenstern unbehauster Zimmer, an nikotingelben Gardinen und dem löchrigen Plastik der Balkonverkleidung, bis zu seinem Zimmerfenster im zweiten Obergeschoss.
Blitzartig fällt ihn das Gefühl an, er sei ein selten dämlicher Charakter unter der Sonne - warum hier leben?, fragt er sich. Er schüttelt den Kopf, als wolle er gleichsam diese Frage verneinen und sie aus dem Hirnkasten schleudern.
Ein Geräusch erregt seine Aufmerksamkeit. Tin dreht sich um, sieht ein Crackmädchen vor der vergitterten Tür der Hilfeeinrichtung stehen und klingeln, wenige Meter weiter parkt ein amerikanischer Straßenkreuzer und die Alte sieht er auch, die guckt wie immer aus einem Fenster des Nachbarhauses, auf ein Kissen gestützt.
Aus Richtung Koggenplatz trägt der Wind den harten Ruf einer Krähe heran, wirbelt eine schwarze Plastiktüte auf und drapiert sie über zwei Äste, es wirkt, als wäre zwischen ihnen ein dunkler Vogel gefangen, der die Flügel ausbreitet ohne fliegen zu können.
Tin hat den Eindruck, als wolle die Szenerie zu ihm sprechen, als wolle sie ihn an etwas erinnern, vielleicht an den Grund seines Hierseins. Tin denkt scharf nach, aber nein, er kommt nicht darauf.
Er schließt das Gitter vor dem Hausaufgang auf, danach die Haustür, geht die Treppen hoch, schließt die Tür zu seinem Hausflur auf, geht bis zur Wohnungstür, die er aufschließt, dann zur Zimmertür, die er aufschließt, dann in sein Zimmer hinein.
Tin zieht sich aus, zumindest die Schuhe zieht er aus, nachdem er schon im Bett lag und feststellte, dass er nicht müde genug ist, um mit Schuhen einzuschlafen, zieht er die Schuhe aus, öffnet noch das Fenster, steckt sich eine selbstgedrehte Zigarette an und drückt sie aus, als er beginnende Übelkeit spürt. Irgendwann dreht er das Gesicht zur Wand und schläft ein.
Viele Stunden später erwacht er. Tin blickt erschreckt an die Decke - vielleicht träumte er von dem letzten Morgen - aber er beruhigt sich schnell wieder: hier ist kein verkitschter Sternenhimmel, nur die fleckige Tapete.
Er steht auf, zieht sich aus, duscht, zieht sich an, isst Frühstück, trinkt Kaffee. Es ist ungefähr 21 Uhr. Er fühlt sich ganz seltsam mit sich im Einklang, fühlt sich wie in einer warmen Wolldecke eingehüllt. Tin liest ein paar Seiten, hört Musik, schreibt frei assoziierte Gedanken auf, greift aus jedem ein Schlagwort heraus und setzt sie mithilfe von Pfeilen und Linien in Beziehungen zueinander.
Er meint überraschende Zusammenhänge zwischen einigen Denkern der Antike, industriell hergestellter Marmelade, Steinschlossflinten und dem Entenschnabeltier zu finden.
Als er mit diesen Listen nicht recht weiterkommt, baut er aus Büchern Türme und bewirft sie mit herumstehenden Tassen, bis sie einstürzen, stellt dann noch eine Liste auf, die heißt: warum ich nicht erfolgreich bin, eine kurze Übersicht. Bei der Erstellung dieser Liste fällt ihm soviel ein, dass er auch die Rückseite beschreiben muss. Nach kurzer Überlegung schreibt er eine weitere Liste, die er mit: warum ich nicht erfolgreich sein will betitelt.
Um Mitternacht geht er außer Haus. Nach fünf Minuten Fußweg ist er beim Bahnhof, dort setzt er sich in seinem Hausanzug, einem billigen, nicht atmungsaktiven Jogginganzug, in den McDonalds, trinkt Kaffee und isst Burger, bis er kein Geld mehr hat.
Dann liest er in dem frisch übersetzten Mammutwerk eines amerikanischen Schriftstellers, der sich vor nicht allzu langer Zeit das Leben nahm, indem er sich erhängte, als seine Freundin mit dem Hund spazieren war, wie der Verlag in einem schmalen Begleitband informiert.
Aber für dieses Buch scheint heute nicht der Tag zu sein, vielleicht sollte er erst mal die Geschichte des ruinierten Dressurpferdes verdauen, die Erzählung nahm ihn mehr mit, als er sich eingestehen will.
Tin legt das Buch von der Schwere eines Ziegelsteins in seinen Rucksack und geht los, verlässt den Fresstempel, weil er unruhig wird, ereignishungrig, denkt er, es könnte aber ebenso gut eine rein chemische Reaktion auf drei Becher Kaffee sein.
Diese Nacht ist erstaunlich mild, es fällt kein Regen, die Luft riecht schon ein bisschen nach Frühling, was in aufreizendem Widerspruch zu der dünnen Schneedecke liegt.
Er spaziert durch ausgestorben wirkende Straßen. Nur die ein oder andere verhuschte Gestalt eilt zwischen beleuchteten Schaufenstern die Straße entlang, mit extraordinären Kopfhörern, die über Kapuze oder Basecap gestülpt sind. Sie wirken auf ihn wie Schatten und ziehen fast unbemerkt von sich selbst und anderen durch die Stadt, eigentlich nicht vorhanden, genauso wenig wie Tin freilich, der seine Nichtvorhandenheit so gut kennt, dass er sie personifizieren könnte.
Unwillkürlich schlägt Tin den Weg durch die einsame Düsternis zwischen den himmelhohen Bürotürmen ein, einer besonders unbelebten Stadtlandschaft, die er schnell durcheilt, er geht über eine unbefahrene Straße, hinter der sich Fluss und Stadthafen verbergen.
Tin sieht zu, wie kleine Wellen auf Schiffe und Kaimauern treffen, steigt auf die Mauer und ruft „hineinwerfen müsste ich mich! Gleich jetzt!“
Tin hört nicht die eiligen Schritte, nicht den Ruf der jungen Frau. Er nimmt erst wieder wahr, was passiert, als er von der Mauer gezerrt wird und auf den Rücken fällt.
Er rappelt sich schnellstmöglich auf und geht vorsichtig rückwärts, die Retterin argwöhnisch im Auge behaltend. „Sie sind ja verrückt!“, ruft er, „ich hätt mir den Kopf aufschlagen können!“
„Ich bin verrückt? Wer stand auf dem Kai und drohte sich ins Meer zu werfen? Das waren ja wohl sie!“
„Schauspieler“, entgegnet Tin, „ich habe geprobt.“
Sie sieht ihn zweifelnd an. Er kneift die Augen zusammen und fixiert sie.
„Sie sind das“, sagt er dann, „die Bäckerin – sie folgen mir!“
Carla lacht. „Das ist meine Laufstrecke“, sagt sie, „aber stimmt, jetzt erkenne ich sie ebenfalls – der Mann von heute morgen...“
„gestern morgen“, unterbricht Tin. Er tippt auf seine Armbanduhr.
„...der seinen Schatz sucht. Genau, deswegen wollten sie bestimmt ins Meer springen – dort unten liegt wahrscheinlich ein Piratenschiff mit genug Schatz für zwei. Zeigen sie mir wo“, fordert Carla, „ich helfe ihnen auch tragen.“ Sie lehnt sich über die Mauer und sieht auf den dunklen Wasserspiegel.
„Da ist kein Schatz, außer sie meinen das Meer an sich. Aber diesen Schatz kann man nicht mit den Augen sehen.“
„Schade“, sagt Carla, „tut mir wirklich leid für uns, kleiner Prinz.“
Sie zwinkert ihm zu. Tin rollt die Augen.
„Hör mal, es ist nett mit dir zu plaudern, aber ich muss weiter“, sagt sie und läuft weiter, „bis bald vielleicht“, ruft sie, nachdem sie schon ein paar Schritte lief, als wäre es ihr spontan eingefallen.
Tin sieht ihr hinterher, sieht ihre schmale Gestalt in der Nacht verschwinden. Er überlegt ob er jetzt ein Schauspieler sei, weil er sich als einen bezeichnete, und sieht wieder auf das Wasser, wartet auf eine Stimmung. Diese Nacht ist erledigt, entscheidet er bald darauf und geht zur U-Bahnhaltestelle.