Cara. Geschichte einer Sehnsucht
"Ich habe keine Geschichte. Ich habe nichts zu erzählen."
"Doch."
"Ich habe nichts zu erzählen." wiederholte sie, und als sie nach dem Päckchen Zigaretten vor ihr auf dem Tisch griff, zitterte ihre Hand leicht.
"Wann hast du begonnen zu rauchen?"
Es sah einen Moment so aus, als würde ich auch auf diese Frage keine Antwort bekommen, doch dann sagte sie langsam
"Vor einem Jahr."
Wir schwiegen beide. Dann wagte ich einen letzten Vorstoß.
"Was hat dich hierher gebracht?"
Sie zog an ihrer Zigarette, dann sah sie auf. Als ich in ihre Augen sah, erschrak ich. Diese Augen, die einst so lebendig waren, die gestrahlt hatten vor Freude oder gefunkelt vor Zorn, ich erkannte sie nicht wieder. Ich blickte in dieses Paar smaragdfarbener Augen und sah - nichts. Kein Leben war in ihnen, nichts in ihnen verriet die Stimmung der Person, zu der sie gehörten.
"Das Leben."
Ihre Stimme war so unbewegt, als hätte ich mich nach dem Wetter erkundigt oder nach der Farbe ihrer Vorhänge. Sie blies den Rauch langsam aus.
"Was denn sonst?"
Sie griff nach dem Aschenbecher und drückte die Zigarette langsam aus.
"Was denn sonst..." wiederholte sie, und diesmal schwang in ihrer Stimme etwas wie Hohn mit. Dann stand sie langsam auf und bewegte sich so schnell es ihr geschwächter Körper zuließ, auf das Bett zu. Ich machte nicht den Versuch, ihr zu helfen oder gar sie aufzuhalten.
Mit einem leisen Seufzer setzte sie sich nieder, und ohne sich zu mir umzudrehen, flüsterte sie
"Bitte geh jetzt."
Ich erhob mich.
"Und komm nie wieder."
Ich sah sie an, musterte ihren ausgemergelten Körper, der in einem viel zu weiten blauen Bademantel steckte, sah ihre struppigen Haare, die einmal so glänzend und gepflegt gewesen waren, konnte nicht glauben, dass das, was jetzt vor mir saß, einmal sie gewesen war.
Langsam ging ich zur Tür, versuchte mich loszureißen von diesem erschreckenden Anblick.
"Mach's gut."
Sie antwortete nicht. Noch im Hinausgehen verfluchte ich meine Worte. Etwas noch Unpassenderes hätte ich wohl nicht mehr sagen können... Ich schüttelte den Kopf, spürte, dass mir die Tränen in die Augen stiegen.
Sie hatte einfach resigniert, hatte aufgegeben. Ich hatte es gewusst, als ich das Zimmer betreten hatte. Man sah es ihr an. Sie saß da... und wartete. Sie wartete auf ihren Erlöser, der ihr all die Schmerzen nahm, all das Leid.
Eine physische Krankheit war nicht der Auslöser für ihren Zustand. Es war eine psychische Ursache gewesen, die jedoch jetzt zu einer Krankheit des Körpers geführt hatte.
Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, hätte sie getröstet, hätte ihr all die Schmerzen weggestreichelt, doch sie hätte es nicht zugelassen. Ich war zu spät gekommen.
~*~
Cara und ich hatten uns nach der Schule aus den Augen verloren. Ich hatte zu studieren begonnen und war umgezogen, hatte außerdem ein Jahr im Ausland verbracht. Zu Beginn hatten wir uns noch geschrieben und uns, sofern die Zeit es zuließ, auch getroffen, doch mit der Zeit riss der Kontakt einfach ab.
Ich nahm mir jeden Tag vor, ihr zu schreiben oder sie anzurufen, doch irgendwie wurde einfach nichts daraus. Die Schuldgefühle nahmen zu, und eines Tages ließ ich einfach alles stehen und liegen und nahm das Telefon zur Hand, um sie anzurufen. Es war mindestens ein Jahr her, dass ich sie zuletzt gesehen hatte, und sechs Monate, dass ich zuletzt von ihr gehört hatte.
Als ich ihre Handynummer wählte, meldete sich nur eine Computerstimme, die mir mitteilte, dass diese Nummer nicht mehr existiere und ich mich doch an den Netzbetreiber wenden solle, wenn ich nähere Informationen wünschen sollte.
Verwundert legte ich auf. Wir hatten uns zwar lange nicht mehr gehört, aber ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sie mir nicht mitteilen würde, dass sie ihre Handynummer geändert hatte. Achselzuckend tat ich es als ein Versäumnis ihrerseits ab und wählte ihre Festnetznummer.
Als sich ihre Mutter meldete, war ich erleichtert. Wenigstens hier hatte ich Erfolg.
"Grüß Gott, hier spricht eine alte Schulfreundin von Cara. Ist sie zu Hause? Kann ich sie sprechen?"
Eine Weile war es still in der Leitung, und ich dachte schon, ich hätte mich verwählt, aber dann meldete sich ihre Mutter wieder, die jetzt leicht verwundert klang - und auch irgendwie traurig.
"Wissen Sie es denn nicht?"
"Was weiß ich nicht?"
Jetzt war ich an der Reihe, verwundert zu sein. Ich erschrak. War Cara etwa gestorben? Ich setzte zweimal zum Sprechen an, ehe Worte aus meinem Mund kamen.
"Nein... nein, ich... ich weiß nichts."
Es war wieder kurz ruhig.
"Cara ist im Krankenhaus."
Ich biss auf meiner Lippe herum.
"Was... was hat sie denn?"
Ich war mir bewusst, dass meine Stimme leise und kläglich klang.
"Bulimie."
"Bulimie?? Cara hat Bulimie??"
Ich meinte das Nicken am anderen Ende der Leitung förmlich zu hören.
"Cara hat Bulimie. Sie wiegt mittlerweile nur mehr 42 Kilo."
"Aber... warum?"
Die Frau war den Tränen nahe, ich merkte es. Ich wusste, es musste schmerzhaft für sie sein, darüber zu sprechen, aber ich wollte es wissen... ich wollte wissen, was mit Cara passiert war.
"Wir wissen es nicht. Sie spricht einfach nicht mit uns. Alles hat damit begonnen, dass sie sich immer mehr zurückgezogen hat, den ganzen Tag ist sie in ihrem Zimmer gesessen und sich in sich selbst vergraben... wir haben versucht, sie zum Essen zu überreden, als wir gemerkt haben, dass sie auch nichts mehr gegessen hat, als sie schon ihr Idealgewicht erreicht hat... Cara war ja immer ein bisschen pummelig, aber wirklich fett war sie nie... Aber wir haben es nicht geschafft, sie zum Essen zu bringen, sie hat es einfach verweigert. Deswegen mussten wir sie ins Krankenhaus einweisen lassen, aber sie lässt auch dort niemanden an sich heran, verweigert Gespräche mit einem Therapeuten..."
Ein Schluchzen unterbrach ihre Erzählung.
Mein Mund war trocken. Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. Meine Freundin Cara - bulimiekrank? Alles hätte ich geglaubt, dass der Eiffelturm umgefallen wäre oder der schiefe Turm von Pisa auf einmal gerade war, aber Cara und Bulimie... nein. Das nicht.
Ich befeuchtete meine Lippen, dann brachte ich wieder ein paar - wohl unzusammenhängende - Worte heraus.
"Ich... kann ich nicht glauben, ich meine... Cara... ich danke Ihnen... werde sie besuchen... alles Gute..."
Sie bedankte sich unter Tränen, dann legte sie auf, und ich ließ den Hörer fallen, als wäre er glühend heiß. Cara... sie hatte mich vielleicht gebraucht, und ich war nicht dagewesen. Ich war einfach nicht dagewesen!
Ich spürte die Schuldgefühle, die langsam in mir aufzusteigen begannen. Ich musste sofort zu ihr... vielleicht würde sie mit mir sprechen. Die leise Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüsterte, dass, wenn Cara sogar Gespräche mit ihrer Familie verweigerte, sie sich wohl kaum mir anvertrauen würde, ignorierte ich. Plötzlich fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, zu fragen, in welchem Krankenhaus Cara aufgenommen worden war.
Noch einmal ihre Mutter anrufen... nein. Cara war nicht umgezogen, also musste sie logischerweise noch immer zuhause wohnen... jedenfalls soweit ich wusste. Also musste sie auch im dortigen Krankenhaus liegen. Ich schnappte mir meine Autoschlüssel und eine Jacke.
In einer Stunde konnte ich dort sein, wenn ich der allabendliche Rush Hour entkommen könnte... und was war schon eine Stunde mehr oder weniger für sie im Vergleich zu den Jahren, in denen ich nicht für sie dagewesen war?
Warum hatte sie sich nicht bei mir gemeldet, hatte sich mir anvertraut? Wir waren früher immer füreinander dagewesen... und ich war schuld, dass sich das geändert hatte. Ich hatte sie irgendwie hinter mir gelassen, hatte mich abgewendet, ohne es zu wollen.
Als ich mich ins Auto setzte, musste ich mich zwingen, auf den Verkehr zu achten und die Gedanken, die ständig in meinem Kopf rotierten, zu ignorieren.
~*~
Ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Ich konnte ihr nicht helfen. Sie hatte sich aufgegeben. Irgendwann vor langer Zeit... niemand konnte das rückgängig machen außer ihr selbst. Doch sie wollte das nicht. Was war nur der Auslöser gewesen für ihren seelischen Verfall? Was hatte sie so erschüttert, dass das Leben für sie nicht mehr lebenswert schien?
Ich starrte auf die gelbe Tür, hinter der sich Cara befand. Am liebsten wäre ich hineingegangen und hätte sie getröstet... oder sie gerüttelt, solange, bis sie begriff, was sie tat. Doch dann musste ich lächeln - es war ein Lächeln, das zu einer grotesken Grimasse wurde, als ich erkannte... Nein, dachte ich bitter, nein, sie weiß, was sie sich antut. Sie weiß es. Sie will es vielleicht sogar.
Es ist ihre Art, sich zu bestrafen... es ist ihre Art, den Schmerz hinter sich zu lassen, indem sie noch mehr Schmerz erzeugt. Ich hatte begriffen. Es war ganz einfach Cara. Es war ihre Art und Weise zu handeln und es durchzuziehen.
Und ich war zum Nichtstun verdammt. Sie hatte mich hinausgeworfen... aber ich hatte damit begonnen. Unwillentlich hatte ich sie aus meinem Leben ausgeschlossen, und sie vertrieb mich dafür aus ihrem Tod.
Nach diesem Besuch saß ich zwei Tage lang wie apathisch zuhause, zermarterte mein Hirn auf der Suche nach Antworten und Lösungsmöglichkeiten, doch es war wie ein Labyrinth ohne Ausgang. Der Anruf am Morgen des dritten Tages kam für mich völlig überraschend.
"Cara will Sie sehen!"
Ich glaubte Freude in der Stimme ihrer Mutter zu hören.
"Mich? Cara will mich sehen?"
"Ja, ja! Oh, vielleicht wird doch noch alles gut..."
Ich wagte es nicht, ihr zuzustimmen, wollte keine Hoffnungen wecken.
Und so kam es, dass ich nachmittags wieder vor der gelben Tür stand, hinter der ich Cara wusste. Ihre Eltern hatten mich nicht begleitet, sie wollten mich "nur machen" lassen. Ich wusste, dass hier unglaubliche Hoffnungen in mich gesetzt wurden, die ich nicht enttäuschen durfte. Nicht nur um ihrer Eltern willen, auch wegen mir - und vor allem wegen ihr.
Etwas zögerlich klopfte ich an - und erhielt keine Antwort. Hatte sie ihre Meinung etwa wieder geändert? Als mir jemand von hinten auf die Schulter klopfte, fuhr ich erschrocken herum.
"Falls Sie Cara suchen, die hat sich ein bisschen auf den Balkon gesetzt."
Ich dankte der Schwester und machte mich auf in die Richtung, die sie mir gewiesen hatte. Ich öffnete die Tür zum Raucherzimmer, das man durchqueren musste, um zum Balkon zu kommen. Es war leer, und ich konnte Cara sehen, die nun nur mehr durch eine Tür von mir getrennt war.
Sie trug einen dicken Wintermantel, hatte einen Schal um ihren Hals geschlungen und eine Mütze auf. Es war zwar Herbst, doch ich selbst hatte nur einen leichten Pullover an. Doch da ich mich in den letzten beiden Tagen etwas näher über Caras Krankheit informiert hatte, wusste ich, dass Bulimiekranke immer frieren - selbst im Hochsommer.
"Hallo... du wolltest mich sehen."
Ich hatte es nicht wie eine Frage formuliert, auf die sie eine Antwort zu geben gezwungen gewesen wäre - es war eine simple Feststellung. Ich wollte sie kommen lassen, wollte nicht drängen.
Sie nickte. Ich bemerkte wieder eine Zigarette zwischen ihren Fingern.
"Erinnere ich mich richtig, oder liege ich falsch, wenn ich behaupte, dass du es gewesen bist, die damals in der Schule den besten Aufsatz zum Thema "Gründe gegen das Rauchen" geschrieben hat?"
Ein flüchtiges Lächeln umspielte ihre dünnen Lippen, sie sah mich nicht an.
"Das ist das einzige Laster, dem ich fröne."
Sie nahm wieder einen tiefen Zug.
"Dafür habe ich das Essen aufgegeben."
Mein Lächeln erstarb. Das war wieder so typisch Cara. Sie verpackte ihre Gefühle immer in Scherzen, anders konnte oder wollte sie ihre Gefühle nicht ausdrücken.
Alles hatte lustig zu sein, selbst diese bittere Wahrheit. Nichts durfte ihr nahe gehen, nie wollte sie Schwächen zeigen. Ich verstand nun, dass oft, wenn sie gelacht hatte, ihre Seele geweint hatte. Ich wünschte, ich hätte es früher begriffen.
"Was da wohl das größere Übel ist?"
Ihre Gesichtszüge erstarrten. Wieder hatte ich das Falsche gesagt. Ich und meine große Klappe! Schon erwartete ich wieder einen Hinausschmiss, doch Cara deutete auf den Sessel neben sich.
"Magst du dich nicht setzen?"
Gehorsam nahm ich Platz. Sie hielt mir die Zigarettenpackung entgegen.
"Magst du auch eine?"
Ich winkte ab.
"Nein, danke. Ich rauche nicht."
Eine Weile war es still. Ich zermarterte mir den Kopf nach einem unverfänglichen Gesprächsthema, doch mir wollte einfach nichts einfallen. Schon wollte ich nach meinem Rettungsanker greifen, und beginnen, von dem doch milden Wetter, das für diese Jahreszeit eigentlich untypisch war, zu sprechen, doch Cara kam mir zuvor.
"Sie sagen, wenn ich so weitermache, habe ich nicht mehr viel Zeit."
"Wer sagt... ? Oh, natürlich, die Ärzte."
Eben erst hatte sie sich eine Zigarette angezündet, als sie auch schon nach einer neuen griff. Ehe ich mich zurückhalten konnte, kamen die Worte schon aus meinem Mund.
"Du solltest nicht soviel rauchen."
Sie wandte mir ihren Kopf zu, und ich erwartete schon eine Abfuhr, doch sie sagte ohne jedes Gefühl in der Stimme
"Wozu? Ich habe relativ geringe Chancen, an Lungenkrebs zu sterben."
Ich wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch sie schnitt mir das Wort ab.
"Nein, sag nichts, hör mir nur zu."
Sie fasste meine Hände, die ihrigen waren eiskalt, und ich hatte plötzlich das Bedürfnis, sie in Decken einzuwickeln und vor den Kamin zu setzen, und sah mir in die Augen.
"Hör mir nur zu, bitte. Mit niemandem will ich reden außer dir. Aber ich bin nicht mehr so," sie zögerte, "kräftig wie früher. Das Sprechen erschöpft mich doch relativ schnell, und ich bin immer müde. Du musst also Geduld mit mir haben."
Ich nickte. Ihre plötzliche Offenheit überraschte mich. Warum wollte sie sich nicht ihren Eltern anvertrauen? Warum nur mir? Ohne die Frage gestellt zu haben, beantwortete sie Cara mir im nächsten Augenblick.
"Es ist sicher verwunderlich, dass ich mich an dich wende und nicht an meine Eltern... aber siehst du, ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, und ich weiß, das ist meine eigene Schuld. Aber meine Eltern könnten nicht verstehen, warum ich mir das angetan habe, warum ich jetzt das bin, was ich bin. Sie verstehen es nicht. Sie glauben immer noch, es gibt Hoffnung für mich. Ich habe diese Hoffnung schon lange vorher aufgegeben, lange bevor..." sie deutete an sich hinab, "ich zu dem wurde, zu einem lebenden Toten. Missverstehe mich nicht, ich jammere nicht. Ich konstatiere nur Tatsachen."
Sie schwieg. Ich sah in ihr Gesicht, sah auf die Augenlider, die so dünn waren wie bei einem Embryo im Mutterleib, sah die eingefallenen Wangen und den Mund, der früher so gern gelächelt hatte.
"Wann hast du den Entschluss gefasst, dich zu Tode zu hungern?"
Ich hatte beschlossen, die Katze beim Schwanz zu packen und die Sache direkt anzugehen. Gespannt wartete ich auf ihre Reaktion auf meine Frage. Alles hätte ich erwartet, doch nicht das - sie lächelte. Es war ein Lächeln aus einer weit entfernten Welt, eine Welt, zu der ich keinen Zugang hatte, die ich nie begreifen konnte.
Ich hatte auf meine Frage noch keine Antwort bekommen und sah nun fragend zu Cara hinüber. Sie hatte gewartet, beobachtete mich, studierte mein Gesicht. Dann streckte sie ihre Hand aus, und ihre Gesichtszüge wurden weich, als sie meine Wange berührte.
"Versprich mir, dass du mich nicht vergisst."
Der Gedanke an dieses Versprechen, das wir uns vor langer Zeit gegeben hatten, trieb mir die Tränen in die Augen. Die lange Zeit der Trennung schien vergessen, ich fühlte mich wieder als ein Teil eines eingeschworenen Teams.
"Sag doch so etwas nicht..."
"Wir beide wissen doch..."
Sie brach ab. Ich konnte jetzt auch Tränen in ihren Augen glitzern sehen. Ohne noch länger zu warten, zog ich sie einfach in meine Arme, strich ihr langsam über den Rücken, ließ meinen Tränen freien Lauf. Worte waren jetzt nicht notwendig.
"Du bist immer meine beste Freundin gewesen, niemand hat mich je so gekannt wie du." Ihre Stimme klang gedämpft, sie hatte ihr Gesicht in meiner Halsbeuge vergraben. Ich wollte mich zurückziehen, um sie ansehen zu können, doch sie bemerkte es und hielt mich umso fester.
"Nicht, bitte nicht. Halt mich."
Ich schloss meine Arme noch etwas fester um sie und wiegte sie sanft hin und her.
"Ich habe versucht, mich allein zurechtzufinden. Doch ich konnte es nicht. Du hast mir so gefehlt... aber als ich dich gebraucht hätte, war ich zu stolz, dich um Hilfe zu bitten. Ich habe gewusst, du wirst deinen Weg machen und du brauchst mich nicht so sehr wie ich dich."
Ich spürte ihren warmen Atem an meinem Hals, als einfach drauflos sprach, alle ihre Gedanken in Worte fasste, ohne Punkt und Komma, ohne Struktur, doch ich verstand sie trotzdem.
"Es ist meine Schuld."
Sie schüttelte den Kopf.
"Du bist deinen Weg gegangen. Ich wollte nicht, dass du dich für mich verantwortlich fühlst. Dass du denkst, dass du eine Verpflichtung mir gegenüber einzuhalten hättest. Nie wollte ich das. Nie. Ich wollte keine Last für dich sein."
"Meine Güte, Cara, du warst nie eine Last für mich!"
"Es ist egal, es ist egal..."
Sie begann ein Lied zu summen, das ich nicht kannte.
"Es ist nicht egal!"
Ich versuchte sie zu zwingen, mich anzusehen, doch sie klammerte sich nur noch fester an mich und wimmerte leise.
"Lass mich nicht los, verlass mich nicht! Ich habe solche Angst..." Mein Hals war nass von ihren Tränen, ihre dünnen und scheinbar kraftlosen Arme hielten mich fest umklammert.
"Ganz ruhig, ich bin ja da."
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als sie mich auch schon losließ und sich aus meinen Armen wand. Sie starrte mich jetzt an, aus ihren Augen sprühte etwas, das ich nur als Hass beschreiben kann.
"Geh! Geh!"
Sie sprang beinahe auf und deutete auf die Tür.
"Geh! Lass mich allein! Sieh dich nur an... wir könnten unterschiedlicher nicht sein! Du... du bist das Leben, und ich bin der Tod! Geh!"
Sie drehte mir den Rücken zu.
"Cara, ich bitte dich. Beruhige dich, lass uns über alles reden!"
Ich versuchte sie am Arm zu fassen, doch sie entzog sich mir. Als sie sich erneut umwandte, war wieder der übliche gleichgültige Ausdruck in ihrem Gesicht.
"Worüber sollten wir noch sprechen? Ich muss sterben. Geh jetzt bitte."
Doch ich weigerte mich, blieb einfach stehen. Sie sah mich nur an, dann drückte sie den Knopf, der die Schwester herbeirufen sollte. Ich gab mich geschlagen.
"Gut, du hast gewonnen. Aber ich komme morgen wieder."
Ich wandte mich zum Gehen, doch dann drehte ich mich noch einmal um, und sah sie da stehen... einsam, mit einem leeren Gesichtsausdruck, die Mütze tief ins magere Gesicht gezogen, die braunen Locken struppig und glanzlos, die Arme um ihren dünnen Körper geschlungen.
Als hätte sie meinen Blick gespürt, blickte sie auf. Wieder blitzte etwas wie Traurigkeit in ihren Augen auf, doch dann sah sie schnell wieder weg und ich trat durch die Tür, die die Grenze zwischen ihrer Welt und der meinen war.
~*~
Ich hatte mein Versprechen gehalten und fand mich am nächsten Tag pünktlich zur Besuchszeit erneut auf der Psychiatrie ein. Als ich Caras Zimmer betrat, erwartete ich natürlich sie dort vorzufinden, doch statt dessen war nur eine Schwester da, die das Bett neu bezog.
Wahrscheinlich saß Cara wieder auf dem Balkon und rauchte eine Zigarette nach der anderen... Noch diesen Gedanken im Kopf, erkundigte ich mich
"Wo ist Cara denn? Raucht sie schon wieder am Balkon? Diese Nikotinsucht wird sie noch einmal umbringen." Ich wusste nicht, warum ich den letzten Satz gesagt hatte... er war mir herausgerutscht, und ich verzog meine Mundwinkeln zu einem schiefen, entschuldigenden Lächeln.
Als sich die Schwester zu mir umdrehte, und ich den ernsten Ausdruck in ihrem Gesicht sah, wusste ich sofort, was passiert war. Ich schlug mir eine Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien und starrte sie nur an.
Sie nickte nur stumm. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Meine Hände zitterten, und ich steckte sie einfach in die Hosentaschen. Als das auch nichts nützte, verschränkte ich sie einfach vor meiner Brust und versuchte, das Zittern zu unterdrücken.
"Ist... ist... wann..." stammelte ich vor mich hin.
Die Schwester schien mich zu verstehen und beantwortete meine Frage mit einem bedauernden, aber dennoch nüchternen Unterton in der Stimme.
"Sie starb heute in der Nacht, um zwei Uhr. Es tut mir leid."
Diesmal nickte ich stumm, während mir die Tränen über die Wangen liefen. Ich machte mir nicht die Mühe, sie abzuwischen. Ich wollte den Mund aufmachen und mich für die Auskunft bedanken, doch ich war unfähig, Worte hervorzubringen.
Sie schien meine Verlegenheit zu bemerken und wiederholte nur
"Es tut mir leid."
Ich wandte mich zum Gehen, als sie mich noch einmal zurückrief. Als ich sie fragend ansah, griff sie in ihre Tasche und zog ein längliches, leicht zerknittertes Kuvert hervor.
"Für Sie."
Ich starrte das Kuvert an. "Nur für dich" war darauf in krakeliger Handschrift geschrieben. Die Schwester drückte es mir in die Hand und verließ das Zimmer. Da stand ich nun, heulend, mit einem Abschiedsbrief in der Hand, allein in dem Zimmer, in dem meine Freundin gestorben war...
"Du sollst nicht glauben, dass ich meinem Sterben gegenüber gleichgültig bin. Bis zu einem gewissen Punkt... vielleicht. Aber dennoch habe ich Angst. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, diesen Brief zu Ende zu schreiben, aber ich will es versuchen, weil ich ahne, dass es meine letzte Chance ist, dir etwas mitzuteilen.
Ich habe dich genau beobachtet, die paar Male, als du bei mir warst. Du kamst mir jedes Mal so schön vor, du warst so... lebendig, so blühend... das blühende Leben, wie man so schön sagt.
Ich hingegen - ich habe den Schmerz immer gesucht... ich habe ihn gebraucht, um mich lebendig zu fühlen. Ich war auch einmal glücklich, glaube ich, aber das war nie von Dauer. Ich habe immer nach etwas gesucht, das meinen Hunger stillen kann... ich habe immer nach mehr gesucht als die anderen, wollte immer mehr, war nie zufrieden. Vielleicht war das mein grundlegende Fehler.
Ich habe etwas gesucht, das meine Sehnsucht stillt... doch auf der Suche danach habe ich nicht bemerkt, dass das noch mehr Sehnsucht erzeugt. Ich musste, um mich glücklich zu fühlen, unglücklich sein. Dabei sind viele Leute auf der Strecke geblieben. Du bist eine davon. Es ist doch seltsam, dass man seine Fehler immer erst dann erkennt, wenn es zu spät ist, nicht?
Ich habe mein Leben weggeworfen, erkenne ich jetzt. Ich habe nie gelebt, habe immer nur dem Schmerz weitere Nahrung gegeben, um weiterexistieren zu können. Es ist der Hunger, verstehst du, der Hunger... er hat mich umgebracht. Er war es, den ich nicht stillen konnte, der den Schmerz verursachte, den ich aber brauchte...
Ich denke einmal, dass du mich nicht verstehen kannst, aber das ist ja auch nicht so wichtig. Wie oft hast du mir schon zugehört, ohne ein Wort zu verstehen, und wie dankbar war ich stets dafür, dass du einfach da warst.
Mach dir keine Vorwürfe, du hättest mein Sterben nicht verhindern können, sondern nur verzögern. Leute wie ich weilen nicht lange auf Gottes schöner Erde. Während wir uns hier aufhalten, leiden wir, aber der Schmerz und das Leid macht diese kurze Lebensspanne nur umso intensiver.
Ich möchte nicht sagen, dass der Schmerz angenehm war... er erlaubte mir andere Einblicke, andere Gefühle... und er erzeugte den Hunger, den ich nicht stillen konnte, den Hunger nach Leben, nach einem anderen Leben, nach MEHR.
Ich nenne es "den Schmerz", andere Leute glauben vielleicht, ich bin verrückt, aber du... du wirst es verstehen, wenn auch nur ansatzweise. Und wenn nicht... du weißt, dass ich nicht verrückt war, du weißt es doch, nicht wahr?
Ich weiß, das nächste Mal, wenn ich meine Augen schließe, wird es für immer sein, und ich weiß nicht, was mich erwartet, aber vielleicht... vielleicht nimmt es den Schmerz weg und stillt meinen Hunger. Vielleicht kann ich dann endlich glücklich sein."