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Captus
Stimmen, Gelächter und laute, gedämpfte Musik drangen an ihr Ohr. Sich bewegende, schwarze Gestalten tanzten in der Ferne. Ihre Hand presste gegen die unsichtbare Wand vor ihren Augen. Glas. Ehe sie um Hilfe schreien oder gegen die Fensterscheibe der Garage hämmern konnte, wurde ihr von hinten eine schmächtige Hand auf den Mund gedrückt.
Nein!
Das Bewusstsein ließ im nächsten Augenblick nach. Schwärze umgab sie.
Sie fuhr hoch. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Puls raste. Schweiß rann ihr über die Stirn. Ihr Kopf pochte, brummte wie ein Motor. Die Erinnerungen an die Party legten sich wie ein unsichtbarer Schleier um ihr Gedächtnis – nicht wahr, nicht echt. Es kam ihr alles wie ein Traum vor. Doch als sie ihre Umgebung aus völliger Dunkelheit ertastete, wurde ihr schlagartig die Realität bewusst. Es war Wirklichkeit gewesen.
Auf der Party … Ich habe zu viel Alkohol getrunken. Und … da war ein junger Mann. Er hatte sich in der dunklen Garage im gegenüberliegenden Garten befunden. Wie ein Puzzle setzten sich die Teile nach und nach zusammen, ließen das Geschehene wie einen unscheinbaren Film vor ihrem inneren Auge abspielen. Er hat mich angelächelt, wollte, dass ich mich zu ihm geselle. Ich bin zu ihm gegangen. Wir haben geredet und plötzlich ... Das letzte Puzzlestück fehlte, lastete auf ihr mit unerträglichen Kopfschmerzen.
Sie hielt ihren pochenden Schädel in Händen. Ihr Atem ging flach. Vage konnte sie sich an sein Aussehen erinnern. Das erste, was ihr ins Auge gestochen war, war seine unerklärliche und unheimliche Erscheinung: Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haare so schwarz wie Ebenholz. Sie wusste nicht, wie sie hierher gelangt war, geschweige denn, wo sie sich befand, aber eines war sicher: Der Ort war ihr nicht geheuer.
Taub wie ihre Gliedmaßen waren, versuchte sie sich aufzurappeln. Sie fühlte Widerstand, der sie auf dem Boden anwurzelte. Etwas hält mich fest. Als sie die Fesseln mit ihren zarten Fingern, die um ihre Hand-und Fußgelenken befestigt waren, ertastete, schnappte sie erschrocken nach Luft. Verzweifelt rieb sie sich die Haut wund und rief durch die Dunkelheit – keine Antwort. Nur Stille, mit Unterbrechungen: Das Geräusch von Tropfen, die wahrscheinlich von einem kaputten Wasserrohr stammten, das Piepen von Mäusen, die ihr einen Schauer jagten, - und … Schritte, die sich mir nähern.
Sofort richtete sie ihren Rücken kerzengerade auf. Eine Tür wurde mit einem hässlichen Krachen geöffnet, und im selben Moment wurde alles vor ihren Augen erhellt. Blinzelnd musste sie sich langsam an das blendende Licht gewöhnen, das – mühsam konnte sie erkennen – von einer nackten Glühbirne ausgestrahlt wurde. Die junge Frau hockte auf dem Boden eines Kellers. Zunächst schien sie von dem baumelnden Objekt an der Decke wie hypnotisiert zu sein, dann vernahm sie die Person, die auf sie anmarschierte, mit bedachten, vorsichtigen Schritten wie von einem scheuen Luchs, der sich zum ersten Mal an einen Menschen herantraut.
Erstarrt blickte sie dem neugierigen Gesicht entgegen, dessen verengte Augen sie musterten. Es war der junge Mann aus dem Garten. Doch jetzt, im schwachen, aber ausreichenden Schein der Glühbirne, entdeckte sie die jugendlichen Gesichtszüge, die - weshalb auch immer - ihr irgendwie vertraut vorkamen, und einen Gegenstand aus Metall in seiner linken Hand, den sie unbekümmert ignorierte. Der Typ war gerade mal ein Teenager! Höchstens siebzehn, schätzte sie, während in ihr die Panik langsam schwand. Bloß ein Junge. Beruhige dich.
„Entschuldige, aber könntest du mich vielleicht befreien?“, fragte sie naiv.
Schweigend starrte er sie an.
Eine innere Stimme in ihrem Bewusstsein flüsterte ihr eine Warnung zu, sie solle misstrauisch sein, ihren Entführer nicht unterschätzen und sich auf alles gefasst machen. Mit einem Seufzer setzte sie noch einmal an: „Entschuldige ...“
„Ich hab dich schon gehört“, meinte er. Seine Stimme war sanft, aber der Unterton darin war unmissverständlich ernst, bedrohlich. „Aber ich kann dich nicht gehen lassen. Tut mir Leid.“
Sie verstand nicht. „Was soll das heißen?“ Panik wallte in ihr wieder auf.
„Du bist jetzt mein.“
Einige Sekunden lang hallte dieser Satz in ihrem Kopf wie eine liebliche Melodie – mit einem grausamen Text. „Ich verstehe nicht ...“
Der Junge ging im Keller hin und her, schwang mit dem Gegenstand aus Metall in seiner linken Hand. Eine Brechstange. Sie bekam es allmählich mit der Angst zu tun.
„Ich hab dich schon mal gesehen, weißt du? Ich bin vor nicht allzu langer Zeit in diesem Krankenhaus gewesen, wo du gearbeitet hast“, fing er an.
Jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. „Ich habe dich behandelt.“
„Und deine Fähigkeiten als Krankenschwester sind wirklich ausgezeichnet. Du hast mich immer so süß angelächelt, erinnerst du dich noch?“
Sie konnte ein plötzliches kurzes Aufflackern der Hoffnung in seinen Augen aufblitzen sehen.
„Manchmal hast du mich neckisch >Schneewittchen< genannt, weil ich wie die männliche Form von der Disney-Charakterin aussehe.“ Er lächelte schwach.
Die Art, wie er locker und unbefangen mit ihr redete, ließen eher den Anschein nach wecken, dass die beiden eine nette Plauderei zwischen alten Freunden hielten als ein Gespräch zwischen Entführer und Opfer.
„Trotz meines Krebs' hattest du es immer wieder geschafft, mich zum Lachen zu bringen.“ Er betrachtete die Brechstange in seiner Hand als würde er über den Gedanken schwanken, seinem Opfer etwas anzutun. „Und deswegen habe ich mich in dich verliebt.“
Sie brauchte eine Weile, um alles zu verarbeiten. Das kam ihr alles wie ein schlechter Witz vor. „Und nun willst du mich hier unten gefangen halten?“, brachte sie unüberhörbar zornig hervor.
Bei ihrer Lautstärke zuckte er zusammen. „Ich verbiete dir diesen Ton“, sprach er bestimmt.
„Lass mich frei!“
„Nein." Dann mit zusammengebissenen Zähnen: „Du bist mein.“
Sie schüttelte heftig den Kopf und vergrub ihr Gesicht zwischen den angewinkelten Knien. Ein Kloß steckte in ihrem Hals. Im Flüsterton wiederholte sie: „Lass mich frei.“
„Ich ... ich liebe dich. Warum also sollte ich dich freilassen?“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.
Er spielt mit dir. Langsam hob sie den Kopf. Sie schöpfte Hoffnung. Vielleicht spiele ich einfach mit. „D-du willst doch, dass ich glücklich bin, hm?“
Es verschlug ihm die Sprache. Mit großen Augen schaute er sie an.
„Und das wäre ich in ewiger Gefangenschaft nicht“, sagte sie wie ein kleines Kind, das versuchte, seinem Hausarrest zu entfliehen.
Mit einem krampfhaften Schlucken gab er zurück: „Du bist hier nicht in Gefangenschaft.“
„Was ist mit denen hier?“ Sie hob ihre gefesselten Handgelenke hoch. „Die tun weh.“
„Die sind da, damit du nicht abhaust.“
„Binde mich bitte los.“ Sie versuchte, ihrem Gesichtsausdruck etwas Engelhaftes zu verleihen, das in ihren hellgrünen Augen die Unschuld widerspiegelte. „Ich werde nicht abhauen, versprochen.“
Kurzes Schweigen. Dann lachte er auf einmal laut auf. „Denkst du, ich bin so dumm?“
„Ich ...“
„O nein. Hör mir mal zu.“ Mit der Brechstange zeigte er auf sie.
Sein Blick durchbohrte sie.
„Verstehst du denn nicht? Ich liebe dich, verdammt nochmal.“ Plötzlich schritt er auf sie zu und strich ihr mit zittrigen Fingern eine dunkle Strähne hinters Ohr.
Sie wich zurück, entfernte sich - so weit es die Fesseln zu ließen - bis sie an eine Wand stieß. Ich bin so hilflos. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
Theatralisch holte er tief Luft, ließ zögernd Augenblicke verstreichen als wäre er unsicher über seine nächsten Worte. „Weißt du?“, begann er. „Hier, in meiner Wohnung, bin ich so einsam und alleine. Meine Eltern sind schon seit mehr als zehn Jahren tot, gestorben an einem Flugzeugabsturz. Und nur mein älterer Bruder ist noch übrig. Er hat das Sorgerecht, aber er schaut nur ab und zu bei mir vorbei, kümmert sich nicht richtig um mich.“ Abwesend wanderte sein Blick nach rechts, an eine eingeschlagene Stelle der Wand.
Warum erzählt dieser irre Junge mir das bloß? Dachte er, er könne sie mit seiner Lebensgeschichte von ihrem Willen abhalten, sie könne seine Entscheidung nachvollziehen?
„Mein Bruder hat nur seine Drogen.“ Schnell drehte er sich wieder ihr zu. Halbherzig hoben sich seine Mundwinkel. „Doch das ist okay. Das ist seine Art, mit Verlusten umzugehen.“ Er zuckte die Schultern. „Ja, und dann vor einem Jahr hab ich die Diagnose meiner Krankheit bekommen.“ Eindringlich sah er sie an. Seine Augen waren zwischen hellem blau und grau … wie Eis.
Aus irgendeinem Grund empfand sie auf einmal Mitleid mit ihm.
„ … Ich habe noch nie Liebe oder Wärme oder Zuneigung gespürt. Nur so einen merkwürdigen Schmerz in der Brust. Das kann vielleicht auch an meinem Krebs liegen, aber ich glaube eher nicht. Der Schmerz ist innen drin.“ Seine Hand glitt zu der Stelle seines Herz'. Verbittert lachte er auf einmal wieder. „Und ich hatte mal Träume; Astronaut oder Archäologe werden, mit einem Heißluftballon fliegen, stark und glücklich werden … eine Freundin haben.“ Er stoppte.
Die Anspielung auf sie ließ sie am ganzen Leib zittern.
„Dann, im Krankenhaus, traf ich dich. Du hast mich so fasziniert. Aber ich wusste, dass ich nicht in deiner Liga war, dass ich so weit entfernt von dir war. Alle anderen Träume schienen vergessen, und jetzt immer noch. Denn … du bist mein neuer Traum.“
Sie bekam eine Gänsehaut, wand sich von ihm ab, legte ihren Kopf auf die Knie und schloss die Augen. Ihr Mitleid für ihn wollte sie unterdrücken, verdrängen. „Ich verstehe deine Entscheidung, mich hier festzuhalten nicht“, log sie. „Du kannst mich hier doch nicht gefangen halten.“ Ihre Stimme erstickte in Tränen, die ihr über die rosigen Wangen liefen.
Er kam auf sie zu und wusch mit einem Finger die Tränen weg. Instinktiv schreckte sie zurück.
Er wisperte: „Gute Nacht.“, knipste das Licht aus, verließ den Keller und ließ sie alleine mit ihren Tränen.