- Beitritt
- 15.03.2008
- Beiträge
- 858
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Caps'n'Cans
Art
Während des Flugs und der Busfahrten durch zwei Länder musste er diese endlosen Wolken- und Naturlandschaften sehen, die er sonst immer gern sah. Art war betäubt und verwirrt, tausend allzufrische Erfahrungen wirbelten durcheinander. Einen kurzen Moment der Weite, als er den rostigen Nagel hinunterging, der seine Straße ist, und ihm die Sprache zurückkehrte, schnürte er gleich wieder zusammen, als er sich an den Schreibtisch setzte und einen förmlichen Brief an die Frau schrieb. Er garnierte ihn mit einem hölzernen Witzchen voller Ernsthaftigkeit und steckte den meerblauen Briefumschlag in den Postkasten, bevor er es sich anders überlegen konnte und bereute sofort nach dem Loslassen, losgelassen zu haben.
Zurück in der Wohnung saß er an dem leeren Schreibtisch, überlegte, was er jetzt tun könnte, dachte an die Frau, sah auf seine leeren Hände und barg das Gesicht in ihnen und schluchzte und heulte wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Als er fertig war, entschied er, dass es Zeit sei, sein Leben zu ändern.
Art schrieb den apollinischen Torso ab und klebte ihn von innen an die Tür. Im Bett überlegte er, was er tun könnte, um der inneren Frau ihre Wirkmacht zu nehmen, aber nichts fiel ihm ein. Nur die Zeit würde für Abstand sorgen und die Spitzen abschleifen. Er nahm sich fest vor, sie zu vergessen.
Der Körper ist ein Ort tätiger Andacht und der lange Lauf eine Wallfahrt zur Klarheit. Wenn Art an solche Sprüche glauben würde, wäre bei Kilometer 28 ein guter Zeitpunkt gewesen, diesen Mantra-Satz vor sich herzubeten.
Da forderte der Muskel in der Innenseite des linken Oberschenkels zum ersten Mal Aufmerksamkeit. Art kannte ihn schon von den Trainingsläufen besser als ihm lieb war, seine ewig renitenten Fasern, die immer als erstes schmerzten. Das war wie mit dem Verhältnis des verzeihenden Gottes zum ewigen Sünder. Eine intensive Beziehung.
Im Moment zog und klopfte es nur. Aber spätestens ab Kilometer 30 verwandelte sich das Klopfen und Ziehen in Schmerz, die Muskelfasern in glühenden Draht. Der Muskelstrang in eine Geißel.
Das Ziehen würde nicht nachlassen, sondern zu einem betäubenden Brennen werden und das ganze Bein lähmen. Wenn es einmal losging wurde es höchstens schlimmer, da half keine Ablenkung, da musste man in den Schmerz gehen, um ihn auszuhalten.
Es war für einen Dauerlauf ideales Wetter: Klarblauer Himmel bei cirka 15 Grad Celsius. Nur der unzureichend vorbereitete Körper, die ungenügend vorbereitete Andacht, wenn man so wollte, war ein Problem.
Art war ungefähr hundert Kilometer pro Woche gelaufen, bis er sich den linken Knöchel verknackst hatte. Die frisch von der Uni gekommene Vertretung seines Sportarzts hatte auf dem Röntgenbild nichts feststellen können, ihm eine Bandage verschrieben und grünes Licht für das Lauftraining gegeben. Aber mit so einem Knöchel darf man nicht laufen, das hatte Art bei jedem Schritt gemerkt und sich über den Grünschnabel von Arzt geärgert.
Auf dem Ergometer hatte er trainiert und im Schwimmbad wassertretend mit einer Schaumstoff-Bauchbinde. Damit hatte er die meisten relevanten Muskelpartien trainieren können, ohne den Knöchel zu belasten.
Jetzt spürte er, dass die Vorbereitung nicht ausreichte. Aber aufhören war keine Alternative, schließlich lief er vor etwas weg, da machte es keinen Sinn, stehenzubleiben. 'Wenn laufen nicht mehr geht, kann man immer noch kriechen', sagte er sich. 'Ein Bein vor das andere', befahl er sich. Die Rhythmen der Trommler am Straßenrand klangen in seinen Ohren wie die Einpeitscher einer Galeere. Er überlegte die Banane in seiner Hand wegzuwerfen, aber die Anstrengung, den Arm zum Wurf zu heben, war ihm zuviel.
Er sah Läufer an sich vorbeiziehen, die er vor zwanzig Kilometern überholt hatte und kurz vor der Zielgerade, als er sich nur noch dahinschleppte, einen Geher. Ein ganz Schlauer war die letzten Kilometer gegangen und von Art in einem Schneckenwettkampf überholt worden, aber jetzt, bevor er um die letzte Kurve bog, riss er sich zusammen, trabte im lockeren Laufschritt, streckte die Arme gen Himmel und ließ sich feiern. Art entschied sich gegen die Siegerpose, ihm graute bei der Vorstellung, die Banane so hoch zu heben.
Im Ziel hängte ihm ein aufgeregt wirkendes Mädchen eine Medaille um den Hals und gab ihm eine Urkunde mit seiner Zielzeit - irgendwo zwischen ferner liefen und Streckenräumung durchs Putzfahrzeug. Er nickte dankend und ging mit stakigen Schritten über den staubigen Platz, besorgte sich bei einem Versorgungsstand einen isotonischen Drink, legte die Banane weg, duschte und zog sich um.
Es dauerte zwanzig Minuten, bis er in dem zweirädrigen Durcheinander sein eigenes Fahrrad gefunden hatte. Auf dem Nachhauseweg konnte er mitten über die noch gesperrten Straßen auf dem Asphalt fahren, die Stadt aus dieser ungewöhnlichen Perspektive betrachten und den Marathon Revue passieren lassen, der ihm mit den highs und Tiefpunkten als übertragbare Miniatur auf so einiges erschien. Zu Hause dehnte er die verkürzten Muskeln in kurzen Intervallen mit dreifacher Wiederholung und rieb sie anschließend mit Lindenblütenöl ein.
Er setzte und entspannte sich, und als er zur Ruhe kam, kam wieder die Frau in seinen Kopf. Aus der entspannten Perspektive des ausagierten Körpers war die Erinnerung seltsam unscharf. Art dachte an einen geliebten Ring, den er vor Jahren beim Flussbaden verloren hatte, er spürte ihn damals vom Finger rutschen und fasste ihm hinterher, griff aber zu kurz. Das Silber verblasste schnell, als der Ring durch das schlammige Flusswasser zum Grund sank. An diesem Tag tauchte er immer wieder nach dem Ring und auch noch Jahre später tauchte er immer, wenn er an dieser Stelle schwamm, nach seinem Ring.
Art nahm das zederne Trojanerpferd, das er in den Stunden geschnitzt hatte, in denen sie ihn ausfüllte und nichts außer schnitzen funktionierte, öffnete den Bauch und schüttelte den USB-Stick heraus. Der war so klein und verlor sich fast in seiner Hand. Art sah vor sich, was auf ihm gespeichert war: das filigrane, mit Kohle gezeichnete Mädchen, einen Muschi- und Bieraltar, niedliche, in Zaunlatten geschnitzte Gesichter, die androgyne Frau in Rot; ein mp3-Mixtapeimitat; einen auf wenige Zeilen verdichteten Empfindungskomplex. Nichts davon hatte die Adressatin bekommen.
Er hatte ihr die Morgengabe verheimlicht und sie selbst vergessen wollen, aber jetzt sah er alles vor sich, als wäre es tatsächlich vor seinen Augen. Wenn Art in die Welt blickte, sah er immernoch überall die Frau, genau zwei Wochen nach ihrer letzten Nachricht. Da half die Arbeit nicht und auch nicht die Vollbeschäftigung davor und danach und auch nicht dieser Lauf. Immerhin die Spitzen waren abgeschliffen worden, er befand sich in keinem Dauerrausch mehr, sondern in einer mild bittersüßen Atmosphäre. Aber das Vergessen-wollen hat bisher nicht geklappt.
Er nahm das Briefpapier mit dem Meermotiv und schrieb ihr. Dass er für sie alles stehen und liegen lassen und ihr bis ans Ende der Welt folgen würde. Mehr fiel ihm nicht ein. 'Das ist mager', dachte Art und ärgerte sich über seine blinde Sehnsucht. Er hatte ihr in den letzten zwei Wochen genug Futter vorgesetzt! Drei äußere Frauen! Aber dieses verräterische Herz hing an einer inneren Frau, und dachte nicht daran, an eine andere zu denken.
Seine besten Freunde hatten sich köstlich amüsiert. Einer meinte, dass er auch nur im Schneckentempo dazulerne, der andere hatte von einer rückwärts kriechenden Schnecke gesprochen, schließlich sei dieser Fall von Du-Sucht heftig wie nie.
Seine Verliebtheit schien ihre Kreativität wahnsinnig zu beflügeln, Art hatte gerade gestern wieder einen erstaunlich originellen Witz auf seine Kosten lesen dürfen. Ich bin gerne der Wind unter euren Flügeln! hatte er zurückgeschrieben Aber vielleicht versucht ihr eure Erfindungsgabe zur Abwechslung in andere Richtungen zu lenken? Der zwölfte Witz zum selben Thema ist nicht mehr wirklich witzig!
Rat
Hochhackige Schuhe klackerten durch die nächtliche Straße, Zeit für ihn, zu verschwinden. Rat setzte seiner Can ein Fatcap auf und sprühte schnell die letzten Fill-Ins - das Piece wirkte ziemlich unsauber, aber für die Markierung des Reviers reichte es.
Er steckte die Dose in die weite Tasche seines Parkas und lief die Straße hinunter - direkt in das grelle Licht eines aufblendenden Autos, das zwanzig Meter vor ihm am Straßenrand parkte. "Stehenbleiben!", rief jemand aus dem Inneren und öffnete die Fahrertür. "Kriegen wir dich endlich, du Sauhund!" Rat lief nicht weiter und blieb nicht stehen. Er tänzelte auf der Stelle und sah sich um.
Auf der rechten Seite wurde die Straße von einer etliche Meter hohen Mauer aus sauber verfugten Wackersteinen begrenzt. Die sah nicht aus, als ließe sie sich erklettern. Links drängte sich ein Stadthaus an das nächste, eine weg- und durchgangslose Fassadenfront. Vor ihm ein wütender Autofahrer, der auf eine Heldentat aus war. Hinter ihm die Frau, bzw eine Person mit hochhackigen Schuhen. 'Was ist das überhaupt für eine scheiß location?', ärgerte sich Rat.
Der Autofahrer stand jetzt als breitschultriger Schatten auf dem Bürgersteig, telefonierte mit irgendwem und gab Koordinaten durch. Zwei andere stiegen aus dem Auto und knallten die Türen ins Schloss. Schoben sich als Silhouetten in den Lichtkegel und rannten auf ihn zu. Jetzt gab es nichts mehr zu überlegen.
Rat lief in Richtung der klackernden Schuhe und horchte auf die Verfolger. Die stampften mit einer Lautstärke durch die Nacht! Klang nicht so, als würden sie öfter laufen. Das war gut, dann würden sie auch das Tempo nicht lange durchhalten. Aber dass der Fahrer wen anrief, machte Rat Sorgen.
Er musste jetzt erstmal ganz dringend dieser Straßenfalle entkommen und danach am besten gleich aus der Innenstadt. Er kannte die Gegend gut, sah die Straßen und Gassen vor seinem inneren Auge und überlegte, welche Ecken er nehmen müsste, um zum Haus zu kommen.
Rat war fast die ganze Straße hochgelaufen, als die Stöckelschuhe optische Präsenz in Gestalt einer jungen Frau bekamen. Sie drehte sich kurz um, bevor sie in flottem Schritt um die Ecke bog. Rat schob schnell seinen Schal über Nase und Mund und blickte zu Boden, als er an ihr vorbeisprintete.
Am Straßenende warf er einen schnellen Blick in die Richtung, aus der die Schuhe gekommen waren. Rat sah einen Typen mit aufgesetzter Kapuze, tief ins Gesicht gezogenem Basecap und aus den Hosentaschen ragenden Armen, der ihn kurz verstohlen betrachtete. 'Seltsame Szene', dachte Rat.
Er speicherte sie für spätere Inaugenscheinnahme und folgte dem inneren Plan durch das Gassengewirr um den Dom - wo er feststellte, die Verfolgerschritte aus den Ohren verloren zu haben - unterlief einen dunklen Torbogen in den stillen Hof, suchte den Türgriff aus dem hohen Gras neben der Hintertür, steckte ihn vorsichtig auf den metallenen Vierkant im Schloss und öffnete.
Eine der alten Holzstufen knarrte unter seinen Füßen. Da halfen die Gummisohlen nicht. Rat verzog das Gesicht und schilt sich gleichzeitig einen Idioten – hier würde ihn wohl niemand hören oder sehen. Dieses Versteck kannten nur noch ein paar kleine Treber, die allerdings kaum je hier waren und die Fensterrahmen waren vernagelt. Zeit den Gefahrenmodus herunterzufahren.
Er blieb einen Moment stehen und horchte in die Nacht. Kater kreischten und jaulten. Ferne Sirenen. Pulsrauschen und -klopfen im Ohr.
Er machte ein paar bewusste Atemzüge und stieg langsam und vorsichtig auf dem äußeren Rand der Stufen weiter die Treppe hinauf, fast ohne weiteres Knarren. Auf dem Zwischengeschoss stand neben dem Geländer eine Kerze in einem tragbaren Halter.
Rat zündete sie an und ging den Flur entlang zu dem hergerichteten Zimmer. Mitten im Raum stand ein zerschlissener brauner Ohrensessel, links und rechts davon ein dunkelbrauner Beistelltisch und ein mit halb abgerissenen Stickern vollgeklebtes Nachtschränkchen. An die Wand hatten die Kids ein Poster von Sid und Nancy geklebt, darunter stand ein Kassettenrekorder, Batterien und Tapes lagen herum. Rat setzte sich in den Sessel, sah im Handy seine Mails nach und blätterte im Bildband dieses Typen, der aus Ratten Kunst machte.
Judy
'Diese Nacht geht ja mal gar nicht klar', dachte Judy und sah den zwei Männern hinterher, die Rat verfolgten und sie fast über den Haufen gerannt hatten. 'Aber das Timing könnte stimmen', überlegte sie. Es stimmte. Die beiden Verfolger erreichten das Ende der Straße in vollem Lauf, als ihr stalkender Ex-Freund im Stechschritt um die Ecke kam.
Man hörte zwei Köpfe mit einem dumpfen Knall zusammenstoßen, ihr Ex ging zu Boden, der andere wankte und fasste sich an die Stirn. Judy verzog den Mund und ging schon einen Schritt auf die drei zu, straffte sich dann aber und klackerte entschlossen die Straße hinunter. Sie blinzelte und schirmte mit der Hand die Augen ab, um die Wirkung des grellen Lichts abzumildern. Als sie an dem Auto vorbeikam, sah sie den Fahrer gegen die Fahrzeugtür lehnen und gerade sein Handy einstecken. "Hey, warte mal!", sagte er und hielt sie am Arm fest. "Der Schmierfink ist doch an dir vorbeigelaufen! Wie sah er aus?"
"Fass mich nicht an!", fauchte sie. Er lachte und sagte, dass sie sich nicht so haben solle, er wolle nur wissen, wie der Typ aussähe. Sein Griff lockerte sich kein Stück. Sie spürte seine Finger in ihren Oberarm drücken und auflodernde Wut. Judy drehte sich um und trat mit voller Kraft gegen sein Knie.
Er keuchte, ließ sie los und hielt und rieb sein Knie. "So ... so war das nicht gemeint ..." stammelte er, "entschuldige bitte, wir wollen nur diesen scheiß Sprayer kriegen, der die ganze Gegend mit seinem Zeichen verschandelt."
"Der hat nur eine Farbe über die andere gesprüht", sagte sie und überlegte, sein anderes Knie zu treten, ging aber weiter, ohne den Gedanken in die Tat umgesetzt zu haben.
Wenige Minuten später drückte sie prüfend gegen Arts Haustür. Die war nur angelehnt, sie müsste keine Steinchen an sein Fenster werfen. Im Treppenhaus drückte Judy den Lichtschalter, ohne dass sich irgendwas erhellte. 'Was heute alles nicht funktioniert!', dachte sie und nahm immer zwei Stufen mit einem Mal, bis sie im zweiten Stock angekommen war. Durch das Milchglas in seiner Wohnungstür sah sie flackerndes, gelbliches Licht. Sie klopfte vorsichtig.
Art sah mit Bedauern auf den dampfenden Schwarztee und den Gottfried. Das fiel anscheinend erstmal aus. Er hievte seinen erschöpften Körper hoch und ging durch den langen, bis auf ein paar Bierflaschen leeren Flur und öffnete die Tür. "Judy", sagte er und machten einen Schritt zur Seite, um sie reinzulassen. "Alles klar?" Sie schnaubte und folgte seinem einladenden Arm. Im Wohnzimmer zog sie Jacke und Schuhe aus, schlüpfte in rüschige Pantoffeln und hockte sich an den warmen Ofen.
"Der Abend ist eine Katastrophe!", sagte sie. "Ich war bei meinem Ex – das war der erste Fehler – und bin von diesem Liebeswahnsinnigen verfolgt worden, nachdem ich ihm zu erklären versuchte, warum es mit uns nicht funktionieren kann und vorübergehende Funkstille erbat."
Art nickte und fragte, ob sie Tee wolle. "Ja, gern", sagte sie. "Aber nichts mit Tein bitte. Was fruchtiges." Art ging in die Küche, schmiss den Wasserkocher an, den Teebeutel in einen bauchigen Becher und brachte ihr Hagebuttentee. "Danke", sagte sie. "Später habe ich Rat gesehen, der von irgendwelchen Spinnern verfolgt wurde. Die schienen sich für eine Bürgerwehr oder sowas zu halten." Art zog die linke Augenbraue hoch. "Na, sie brachten markige Sprüche und wetzten hinter ihm her, kamen allerdings nur bis zur Ecke, dann stießen sie mit meinem Ex zusammen. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, dem Armen die Stirn zu kühlen. Das hat so fürchterlich geknallt! Aber der hätte das doch nur falsch verstanden!"
"Wow", sagte Art. "Das klingt nach ner Menge Action."
"Das beste kommt noch", sagte sie. "Einer dieser Saubermänner war noch bei seinem Auto – ich habe ihn gar nicht gesehen – und grabschte nach meinem Arm, als ich vorbeiging. Der wollte wissen, wie Rat aussieht. Ich habe ihn gegen sein Knie getreten! Dann bin ich weitergegangen. Jetzt bin ich hier." Sie pustete in den Becher und schlürfte einen kleinen Schluck. "Und bei dir?", fragte sie. "Wie war das Laufen?"
"Ich habe zu wenig trainieren können", sagte er. "Also schmerzhaft."
"Oh!", machte sie und guckte mitfühlend. "Apropos schmerzhaft - wie stehts um Reise und Frau?"
"Ich habe viele Gelegenheiten, über mich zu lachen."
"Hast du ihr das Geschenk eigentlich gegeben?"
Art zuckte die Achseln. "Nee."
"Ja und? Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Was machst du denn jetzt?"
Art überlegte drei Sekunden. "Also", sagte er, "für mich gibts nichts mehr zu tun. Sie passte in meinen Film, aber ich anscheinend nicht in ihren. Ich schäme mich für manches, was ich gesagt und getan habe und mehr noch für Sachen, die ich nicht gesagt oder getan habe. Mehr gibts dazu echt nicht zu sagen."
"Wärst wohl lieber hiergeblieben?"
"Nein", sagte er.
"Und jetzt?", fragte sie.
"Was soll sein?", sagte er.
"Und jetzt?", fragte sie lächelnd.
"Themawechsel."
"Mal sehen, ob Rat schon wieder zu Hause ist", sagte Art, fuhr den Computer hoch und griff per Konferenzschaltung auf Rats PC zu, der Tag und Nacht lief. Das Kameraauge zeigte ein fast leeres, dunkles Zimmer. Schemenhaft erkannte Art an der Wand gegenüber des Computers eine Matratze, davor standen ein kleiner Bücherstapel und ein paar zerdrückte Bier- und Energydrinkdosen. "Niemand da", sagte er. "Er ist bestimmt noch in einem seiner Verstecke."
Tinker
Rat wurde von einem ankommenden Ruf geweckt. Er sah schlaftrunken aufs Handy. Die Nummer war ihm unbekannt, mit einer Vorwahl aus dem europäischen Ausland. "Ja?", fragte er.
"Rat?", fragte eine verheulte Stimme. "Bist du das?"
"Wen wolltest du denn anrufen? Wer ist da?"
"Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt! Ich bins, Tinker." Rat sah auf die Uhr.
"Es ist vier Uhr morgens", sagte er. "Natürlich habe ich geschlafen."
"Hier ist es um fünf!"
"Wo ist hier?"
"Irgendwo in Budapest."
"..."
"Ich laufe jetzt schon seit Stunden durch die Straßen, um mich wieder einzukriegen. Aber ich finde keinen Weg zurück, meine Ränder zerfasern, ich löse mich auf."
"Wohin zurück?", fragte er.
"In meine Haut! Irgendwie schwebe ich neben mir und schaue mir alles an, was ich tue oder sage, das ist beängstigend. Ich rede mit Leuten und gehe durch die Straßen und werde immer weniger, löse mich immer weiter auf, in die Wörter, in die Vorstellungen ..."
"Was machst du in Budapest?", unterbrach Rat. "Wir haben doch gestern morgen noch zusammen gefrühstückt. Da war keine Rede von einer Reise."
"Ich lernte jemanden kennen, den habe ich hier besucht ... "
Rat wartete ein paar Momente, ob noch etwas nachkommt, bevor er fragte. "Ja?"
"Wir haben über alles mögliche gesprochen und als ich aufgehört habe mit Reden, wusste ich nicht mehr, womit ich angefangen hatte und als ich ihm das sagte, meinte er, dass es ihm genauso geht."
"Okay", sagte Rat.
"Das ist was gutes! Aber irgendwie wurde es nichts, weiß der Teufel warum, ich hatte nen Blackout. Ich bin dann aus der Wohnung gelaufen. Seitdem gerate ich immer mehr aus meiner Haut in den verdammten Kameramodus."
"Ich verstehe", sagte Rat, der gar nichts verstand, und betrachtete das Poster von Sid und Nancy. Jemand hatte ihr mit schwarzem Edding ein Gefäß wie für einen Zaubertrank in die Hand gemalt, und während er hinschaute, wuchs der Arm aus dem Bild und hielt ihm das Gefäß hin. Rat ging die paar Schritte auf Nancys Arm zu und wollte nach dem Trank greifen, zog die Hand aber wieder zurück und konzentrierte sich. "Was willst du jetzt tun?", fragte er.
"Den Weg zurück finden! In die herbstkalte Donau springen, der Schock wird diese verdammte Beobachterin vielleicht in meine Haut zurückpressen. Ich halt's nicht aus. In mir ist wirbelndes Chaos und ich habe das Gefühl, mich aufzulösen, meine Hände sehen nicht aus wie meine Hände, ich spüre nichts, wenn ich etwas berühre, ich ..."
"Stop!", rief Rat. "Sei jetzt ruhig!" Er hörte sie heulen. "Du wirst nicht springen", sagte er. "Ich buche gleich deinen Rückflug und hole dich später vom Flughafen ab. Hast du dein Handy dabei?"
"Keine Ahnung", schluchzte sie. "Ich muss mal schauen." Er wartete eine kurze Weile.
"Tut mir leid", sagte sie. "Das Handy ist nicht da oder ich kann es nicht finden!"
"Geldbörse und Perso?"
"Ja", sagte sie.
"Okay, schon gut", sagte er. "Ruf in zwanzig Minuten nochmal an, dann sag ich dir wann der Flieger wo startet."
"Leg nicht auf!", sagte sie. "Ich habe echt Angst, verrückt zu werden."
"Zähl bis hundert und wieder runter. Mach diese Entspannungsübungen. Hör vor allem auf, dich hochzupushen! Und ruf' in zwanzig Minuten wieder an, sonst muss ich dich holen kommen. Und darauf habe ich keine Lust. Rufst du an?"
"Ja."
Er legte auf, suchte die nächste Flugverbindung und buchte einen Transfer auf ihren Namen. Die relevanten Daten kannte er noch. In drei Stunden startete der Flieger. Rat saß vor dem kalten Licht des Handydisplays und dachte, dass er diese Frau einst geliebt hatte. Er nahm eine neue Kerze aus dem Nachtschrank und zündete sie an, saß im Kerzenschein und sprach mit Tinker, als sie wieder anrief.
Sie wirkte wesentlich gefasster, fragte nur nach ihrer Flugzeit und verabschiedete sich schnell wieder, weil sie noch irgendwas ansehen wollte, wenn sie schonmal in Budapest war. Er fragte nicht, was sie um fünf Uhr morgens dort anschauen wollte, nahm ihr nur das Versprechen ab, ihren Flugcode in einem der Netzcafès am Flughafen auszudrucken und den Flieger zu nehmen. Er hörte ein paarmal dem Tuten hinterher, nachdem sie aufgelegt hatte.
Er rieb sich die Hände und hauchte hinein. Die Novemberkälte kroch seit ein paar Tagen durchs Land und hatte sich während des Schlafens in seinen Knochen niedergelassen. Rat ging ein paarmal auf und ab, versuchte die Steifheit aus den Knochen und den Synapsen zu vertreiben und machte Gymnastik, bis ihm warm wurde. Er pustete die Kerze aus, stellte sie dorthin, wo sie gestanden hatte und ging durch die stillen Straßen der schlafenden Stadt nach Hause.
In seiner Straße sah er, dass in der Nacht ein Artrat-Tag gecrossed worden war. Es wurde Zeit, dass sie Balus Crew einen Dämpfer verpassten. 'Morgen nacht', dachte er.
Die Wohnung war völlig ausgekühlt. Er behielt Parka und Schuhe an, setzte sich vor den PC und fragte ins Mikrofon, ob am anderen Ende noch jemand wach sei. "Hey Rat", sagte wenig später ein verschlafen wirkender Art mit zerstrubbeltem Haar in die Kamera. "Hi Art. Wie war der Lauf?"
"Geht so. Und deiner?"
"Was meinst du?", fragte Rat.
"Judy hat gesehen wie du vor irgendwelchen Saubermännern flüchten musstest."
"Das war Judy! Ist sie da?"
"Sie pennt."
"Bei dir?"
"Ja, in meinem Bett", lächelte Art.
"Alter!"
"Ich selbst schlafe allerdings auf der Couch."
Rat lachte. "Na ja ... Kommt ihr mit zum Flughafen ...?" Rat blickte auf die Uhr rechts unten am Bildschirm. "In viereinhalb Stunden hole ich Tinker."
"Klar", sagte Art und verzog das Gesicht. "Mit meinen verspannten Beinen! Egal. Wir holen dich in dreieinhalb Stunden ab, gegen acht."
"Okay", sagte Rat. "Bis dann. Ich lege mich hin. Morgen ist ja auch unsere kleine Aktion. Kommt ja wieder alles mit einem Mal."
Tinker, Ankunft
Ihre Pöbeleien waren schon von weitem zu hören. Sie quatschte einen Grenzbeamten voll, dessen Gesicht immer starrer und weißer wurde und der immer einsilbiger antwortete. Sie schien einen umgänglichen Mann erwischt zu haben, aber allzulange würde auch der sich nicht in Gegenwart seiner Kollegen beleidigen lassen. Rat fluchte leise und wollte zu den beiden hin- und dazwischengehen. Art hielt ihn an der Schulter zurück und ging selbst.
Erzählte dem Grenzbeamten von einem Todesfall in Tinkers Familie und dass sie nun niemanden mehr außer ihrer Freunde habe, und der Beamte ausnahmsweise Gnade vor Recht geben möge. Er zerrte Tinker von dem Beamten weg, redete beruhigend auf sie ein und entschuldigte sich gleichzeitig für die Situation, die er eine unglückliche nannte. "Scheißdreck, der Typ ist einfach total daneben!", sagte Tinker und zeigte mit dem Finger auf den Beamten. Der stand kopfschüttelnd da und schien etwas sagen zu wollen, aber der anschlagende Metalldetektor lenkte ihn ab und er wendete sich zum nächsten Passagier, um ihn abzuklopfen.
Rat und Judy kamen ihnen entgegen und stellten sich mit Art unwillkürlich in ein lockeres Dreieck um Tinker herum. Sie sah furchtbar aus, das Haar durcheinander und tiefe Ringe unter den Augen. Die waren weit aufgerissenen und leuchteten unnatürlich, über den Pupillen lag ein Schleier. "Er wollte mich nicht ficken!", maulte sie zur Begrüßung. "Die ultimative Zurückweisung. Sehe ich so scheiße aus?"
"Nein, natürlich nicht", sagte Rat.
"Du hättest mich gefickt, oder?", fragte sie.
"Klar", sagte Rat. "Siehst fabelhaft aus."
"Aber Rat", sagte sie, "fickt alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Stimmts, Rat? Das zählt also nicht. Wie siehts mit dir aus, Art, hättest du mich gefickt?"
Art wurde rot und stammelte irgendwas von Freundschaft und so, dass vögeln dann nicht gut sei. "Ich hätt's mit dir getan!", sprang Judy ein. "Du leckeres Mädchen. Aber jetzt gehen wir erstmal zu Art, schön frühstücken. Und du erzählst uns, wen du in Budapest überhaupt getroffen hast!"
Tinker erzählt
"Ich weiß, ich hätte nicht trinken sollen, deswegen ist alles so schiefgelaufen, keine Ahnung, was ich ihm erzählt habe, aber ihr wisst ja, dass so bisschen Alkohol mir schon die Seele aufwühlt und die Dämme wegspült.
Auf dem Rückflug versuchte ich zu erinnern, was ich gesagt habe, aber da sind Erinnerungslücken, vollkommene Blackouts zwischen einem Zeitpunkt des Gesprächs, zu dem sich alles gut anfühlte und dem späteren auf der Straße rumlaufen und wildfremde Leute anquatschen", sagte Tinker und weinte. Judy nahm sie in den Arm. Art guckte aus dem Fenster und suchte nach etwas, woran er sich festhalten konnte.
Rat spürte die Stimmung nach ihm greifen und stand auf, um sich nicht einfangen zu lassen, ging im Zimmer herum und sagte, dass Tinker jetzt erstmal schlafen müsse. "Ich kann jetzt nicht schlafen!", sagte sie mit zittriger Stimme. "Lasst mich nicht allein mit mir."
Judy streichelte ihren schweißnassen Rücken. "Bitte, jemand muss bei mir bleiben", sagte Tinker und sah Rat an. Der hatte sie noch nie um etwas bitten hören, es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter. Vorsichtig griff er nach ihrem Arm und brachte gemeinsam mit Judy das zitternde und still weinende Bündel Mensch in Arts Schlafzimmer.
Durch die angelehnte Tür hörte Art wie die beiden Tinker beim Ausziehen halfen, sie ins Bett legten und beruhigend auf sie einsprachen. Er öffnete ein Fenster, lehnte sich auf das Fensterbrett und stellte befremdet fest, dass es ein herrlicher Herbsttag war. Blauer Himmel und Sonnenschein, vielfarbige Blättermeere. Kindergartenkinder stapften mit ihren Erziehern über den Bürgersteig vor seinem Haus, eine Kleine lief lachend durch einen Laubhaufen und wirbelte die Blätter auf.
Art sah zurück ins Zimmer und auf den lange kalten Schwarztee und den Gottfried. Erinnerte, dass er gestern durch die Stadt gelaufen war und versuchte sich an diesem Stück Normalität festzuhalten, kriegte diese Erinnerung aber nicht mit dem heutigen Tag verknüpft. "Das kann alles nicht wahr sein", sagte er zum Fenster hinaus.
Vom First des Hauses gegenüber gurrte eine Taube und legte den Kopf schief, als frage sie, was er meine. Art schüttelte den Kopf, um diese Vorstellung zu vertreiben.
Er ging in die Küche und machte eine Kanne Tee. Während sich das Wasser erhitzte, meinte er, dass die fehlende Verknüpfung zwischen gestern und heute sein Leben im Kleinen spiegelte. Dem fehlten auch Verknüpfungen. Als hätte jemand einen Teil seiner Geschichte geschrieben und ein anderer den zweiten und ein anderer den dritten. Da müsste er mal rübergehen und einen einheitlichen Ton fürs Ganze finden und die fehlenden Übergänge erfinden! So machte man das doch mit Geschichten, da bildeten die meisten Lebensgeschichten keine Ausnahme. 'Besser künstlich aufgehübscht als echt und fragmentarisch!', dachte er. Aber in seinem Puzzle passten manche Teile nicht zueinander, einige fehlten für immer und andere immer mal wieder. 'Das wird nie ein Bild ergeben', dachte Art und spürte den Hals eng werden. Er nahm die Kanne und holte aus, wollte das Würgegefühl zerschellen lassen, dachte aber an Tinker und dass er sie nicht erschrecken durfte. Wut loderte auf sie und gleich darauf fühlte er Mitleid. Dann kochte das Wasser, er stellte die Kanne hin und hängte drei Teebeutel ein.
Als er wieder im Wohnzimmer war, hörte er, dass der Zungenschlag im Schlafzimmer lauter wurde. Tinkers beschwörende Stimme, Rat argumentierte defensiv, Judy klang wütend. Dann heulte Tinker wieder und Rat kam ins Wohnzimmer. Er sah müde aus. "Was ist?", fragte Art.
"Mir ist irgendwie das mit der Aktion heute nacht rausgerutscht, das hat Tinker völlig aus der Fassung gebracht. Wir hatten sie schon so weit beruhigt. Dann hat sie mich angefleht, die ganze Sache abzublasen, weil sie Angst um mich hat."
"Quatsch", sagte Art. "Es ist doch nur ein Spiel."
"Eben drum", sagte Rat. "Ich darf ihren Hirngespinsten nicht nachgeben!"
"Sollten wir sie nicht besser ins Krankenhaus bringen?", fragte Art.
"Keine gute Idee", sagte Rat. "Tinker hasst es, irgendwo eingesperrt zu sein. Sie wird toben und sich wehren und dann sediert und fixiert werden. Das würde alles nur noch schlimmer machen." Er stand auf und durchsuchte Tinkers Handtasche, nahm eine Tablettendose heraus und löste zwei Pillen in einem Becher mit Tee auf. Er ging leise ins Nebenzimmer und flüsterte mit Judy. Art hörte wie er den Becher abstellte. Rat kam mit Judy zurück. "Sie schläft", sagte sie. "Tinker hat immer unzusammenhängenderes Zeug geredet und ist irgendwann mitten im Satz eingeschlafen. Ich bin völlig K.O." Sie setzte sich auf die Couch und atmete hörbar aus.
"Ich weiß nicht, was ich tun soll", sagte Rat. "Sie so zu sehen, macht mich kaputt."
"Sie ist nur ein bisschen schräg drauf", sagte Judy. "Tinker erzählt halt ein paar krasse Sachen, weil diese ganze Geschichte etwas viel für sie war. Das gibt sich wieder."
Rat schüttelte den Kopf. "Du weißt, das stimmt nicht. Sie ist kurz davor völlig durchzuknallen. Ich kenne die Tinker-Show, aber die zieht sie normalerweise nicht in diesen klirrenden Höhen ab.
Nach ihren Psycho-Trips hat sie sich sonst immer in ihren Eispanzer gehüllt und mit mir gesprochen, als wäre ich ein Fremder, vielleicht weil sie sich nach solchen Nächten selbst fremd ist. Das war das schlimmste, aber jetzt wäre ich froh, wenn sie sich nach dem Aufwachen überhaupt so weit zusammenkriegt. Das Ganze ist nicht nur ein bisschen schräg, sondern schlimm wie nie."
"Ich wusste gar nicht, dass sie Medis nimmt. Was hat sie denn?", fragte Judy nach einer Pause.
"Kannst dir eine Diagnose aussuchen, damit war man nicht sparsam, fast jeder Arzt hat eine neue gestellt. Vielleicht kann man sich das am besten so vorstellen, dass sie einfach verletzlicher ist als die meisten. Sie empfängt Signale stärker oder irgendwas in ihr – irgendwelche Botenstoffe – werden zu stark ausgeschüttet und pushen sie immer weiter. Tut mir leid, besser kann ich es nicht erklären, ich verstehe es ja selbst nicht.
Auf der einen Seite macht sie das genial – die Frau denkt und fühlt Sachen, die sonst keiner kriegt, aber sie tanzt auf einem schmalen Grat in immer höhere Lüfte und der Abgrund zippelt bei jedem Tanzschritt an ihrem Rock. Sie müsste besser auf sich aufpassen", sagte Rat und ohne jede Betonung: "Wir sehen uns heute nacht." Er stand grußlos auf und verließ die Wohnung. Art und Judy waren wieder allein im Wohnzimmer.
Spray'n'Shoot
Gegen die Dramatik einer stürmischen Nacht hatte Rat nichts, aber dass Windböen die Farbe davontrugen, kotzte ihn an. Judy und Art waren mit Skimasken vermummt und hielten eine Pappe hoch, damit er in ihrem Windschatten sprayen konnte. Das half ein bisschen. Er hatte den Schriftzug fast fertig. The Artrats grüßen die Dschungelbuchcrew. Die Buchstaben waren ungefähr siebzig Zentimeter hoch über die ganze Breite von Balus Hausvorderseite gesprüht. "Die haben unser Zeug gecrossed, jetzt tragen wir den Tagwar mitten ins Herz ihres Territoriums", rief er gegen den Wind. Judy zeigte ihm den Daumen und grinste weiß.
"Was macht ihr da?", überdröhnte jemand den Wind. Rat sah Balus Gigantenkörper auf das Haus zusteuern. Er tat, als hätte er nichts gehört, wechselte das Fat- gegen ein Skinnycap und sprühte eine letzte Outline nach. Fertig. "Mist, der Typ", sagte Art. "Was jetzt?" Rat lächelte.
"Wir werden wohl mit ihm reden müssen", sagte er und drehte sich zu Balu.
Balu schubste Art weg und schlug Rat die Dose aus der Hand und gegen seinen Kiefer, der in Schmerz explodierte. Rat hatte das Gefühl, als wäre der Knochen aus dem Scharnier gesprungen. Er stützte sich an der Hauswand und hielt die Kinnlade. "Schachte, schachte", nuschelte er, fand das Gleichgewicht wieder und schlug zurück. Die ganze Faust brannte vor Schmerz. Balu grunzte nur und schlug mit der flachen Hand gegen Rats andere Gesichtshälfte. Der taumelte vom Bürgersteig auf den Asphalt und sah orientierungssuchend durch einen rotschwarzen Schmerzfilter in die Welt. Judy und Art lösten sich aus ihrer Erstarrung und gingen zu einem Punkt, wo sie zwischen Balu und Rat stehen würden.
Dann ein Schrei, wie ihn noch keiner gehört hatte. Wie ein Wind- oder Eisdämon. Hoch und schrill, ein lautgewordenes Schneiden des Wahnsinns. Alle drehten sich zu der Quelle des Schreis und sahen Tinker, die auf den Pulk zulief und in der rechten Hand ein schwarzes Objekt in Höhe des Ohrs hielt. Als sie ungefähr zwanzig Meter von Balu entfernt war, richtete sie die Pistole auf ihn und schrie, dass er sofort aufhören solle, sonst schösse sie. "Leg die Knarre weg", sagte der und hob unwillkürlich die Hände über den Kopf. "Das passt nicht hierher."
Rat sah ungläubig zu Tinker und beschwor sie, die Pistole wegzulegen. "Ich mache ein für alle Mal Schluss mit eurem scheiß Krieg", sagte sie so leise, dass man es kaum verstehen konnte und drückte ab. Die Gaspistole entlud sich mit einem irre lauten Knall, der das Windbrausen vielfach übertönte und in der Straße widerhallte. Eine Bö fegte Tinker die ganze Ladung ins Gesicht.
Sie machte keinen Laut, stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden und wälzte sich auf dem Asphalt, das Gesicht in ihren Händen bergend. "Wie bescheuert ist die Alte eigentlich? Gleich kommen bestimmt die Bullen", fluchte Balu.
"Dasch ischt nicht deine Angelegenheit", nuschelte Rat. "Hau ab. Wir kümmern unsch um Tinker." Balu drehte sich um, ging schnell die Straße hinunter und um die Ecke in Richtung des verlassenen Bahnhofsgebäudes.
Judy hockte auf dem Boden und wiegte Tinker in ihrem Arm, die trocken schluchzte und apnoisch Luft holte. "Wir müschen hier weg", sagte Rat. "Die Polizei wird gleisch kommen." Er sah Art an und gemeinsam hoben sie Tinker und trugen sie in Arts Wohnung.
"Warum hascht du überhaupt ne verdammte Knarre in der Wohnung liegen? Wasch scholl der Scheiß?", fragte Rat keuchend.
"Das war ein Schnäppchen", verteidigte sich Art. "Ich konnte nicht ahnen, dass die jemand missbraucht."
"Wasch macht man denn damit schinnvolles?"
"Ich habe doch keine Ahnung von solchen Sachen", sagte Art kleinlaut.
"Meine Eltern sind übers Wochenende verreist. Lasst uns aufs Land fahren, ich denke, das ist eine gute Idee", sagte Judy und guckte herausfordernd in die Runde.
"Und Tinker?", fragte Rat.
"Nehmen wir mit!"
"Und dann sperren wir sie im Keller ein oder was? Die kann man doch nicht allein lassen!", sagte Art.
"Willst du sie auf die Geschlossene abschieben, Klugscheißer?", herrschte Rat Art an. "Dann kannst du den Ärzten auch gleich erklären, woher ihre Verletzungen stammen. Fein." Rat tippte die Notrufnummer ins Handy. "Was ist dein Problem?", fragte Art. "Ich überlege nur, was das beste für sie ist."
"Das beste ist nicht, von den Freunden im Stich gelassen zu werden!", schrie Rat und schmiss das Handy gegen die Wand, das in drei oder vier Teilen auf dem Boden landete. Tinker zuckte zusammen. "Ich höre euch", sagte sie. "Ich höre das alles und verstehe es. Könnt ihr bitte aufhören über mich zu reden, als wäre ich nicht da?"
"Was hältst du davon?", fragte Judy. "Ein paar Tage aufs Land fahren. Klare Luft, lange Spaziergänge und prächtige Sternenhimmel. Das wird dir guttun!"
Tinker gelang ein kleines Lächeln. "Ihr solltet mich wirklich einweisen lassen. Ich bin nicht ganz zurechnungsfähig, fürchte ich."
Art berührte sie kurz am Knie. "Nein, nein, das kommt nicht in Frage", sagte er. "Ich habe nur ... tut mir leid. Lasst uns am besten sofort fahren."
"Dein erster vernünftiger Satz heute nacht", sagte Rat, er ging in die Küche und kochte Tee. Sie tranken schweigend und gingen danach zu Judys altem Auto.
Auf dem Land
Stößchen! Tinker hatte ein Gläschen getrunken, das war eins zuviel gewesen. Sie hatte ein bisschen Orientierung und Realität verloren. Jetzt lief sie seit zehn Minuten durch Dunkelheit und Lichtinseln des Gartenfests und folgte einer seltsam anmutenden Beschilderung.
Zwei Whiskeytrinker wärmten ihre Füße an den Resten des Lagerfeuers. "Was ist eigentlich dein Lieblingssaurier?", fragte der Eine.
"Stegosaurus. Ein wehrhafter Pflanzenfresser mit einem hutzeligen Schildkrötenhals", antwortete der Andere.
"Als was willst du wiedergeboren werden?", fragte der Eine.
"Ich wäre gerne eine Parenthese in einem siebzehnzeiligen Schachtelsatz, eine Erholung für die müden Äuglein des durch die Zeilen wandernden. Und du?", fragte der Andere.
"Ein hoher Militär in einer Diktatur, der oppositionelle Intellektuelle verfolgt, foltert und tötet ...", der Eine überlegte einen Moment, "... und ihre Familien."
"Okay", sagte der Andere und beide schwiegen ein paar Minuten ins Feuer.
"Ich werde immer klüger", sagte unvermittelt der Eine.
Der Andere lachte. "Und ich immer älter", sagte er. "Immer schöner, authentischer, erwachsener." Die beiden lockerten ihre Krawatten und öffneten die oberen Hemdknöpfe. Der Eine schnippte rhythmisch mit den Fingern, der Andere ergänzte den Beat, indem er mit der Zunge schnalzte. Beide stellten ihre Whiskeygläser ab, warfen die Kippen ins Feuer und tanzten im Flammenschein, führten imaginäre Zigaretten zum Mund und tranken aus Whiskeygläsern, die nicht da waren. Sie pirouettierten immer schneller und hielten ihre Hüte fest, damit sie nicht vom Kopf geschleudert wurden.
Tinker staunte sie ein Weilchen an, bis sich eine mahnende Hand in dreifacher Lebensgröße zwischen sie und die Tänzer schob, deren ausgestreckter Zeigefinger ihr den Weg in den hinteren Bereich des Gartens wies.
Dort war einer, der sie an den Mann aus Budapest erinnerte, neben cool grinsenden Fröschen und Gartenzwergen mit einer Blonden zugange, hübsch von Laternen ausgeleuchtet beschlief er sie zu dem monotonen Geräusch eines kleinen Wasserfalls, der in den Gartenteich plätscherte.
Tinker verbarg sich hinter einem Busch, beobachtete die Liebenden und vor allem seinen weißen Hintern, der arhythmisch zwischen ihren Beinen buckelte. Bald wand sich die junge Frau unter ihm, klammerte seine Hüfte mit den Beinen ein und drehte ihn mit einem energischen Schwung auf den Rücken.
Auf ihm sitzend, öffnete sie ihr Haar und es fiel über die Schulterblätter. Tinker sah die schlangenhaften Bewegungen des Mädchens, die mit dem ganzen Körper liebte, sah ihre Haut zu Schuppen werden, einzelne Wirbel durchbrachen die zarte Haut des Rückens, bei jeder Bewegung befreite sich mehr von der Wirbelsäule aus dem Korsett des Fleisches und strahlte grau und weiß und rot um die Wette mit den grinsenden Fröschen.
Ein Schild materialisierte sich vor ihr. Dort entlang -> stand darauf. Sie wandelte weiter, vorbei an dem Saunahäuschen und blieb einen Moment stehen, als ein kleiner Engel mit pausbäckigem Gesicht Pssst machte. Fragend betrachtete sie ihn. Er lächelte arglos und unschuldig wie ein frisch auf die Welt geworfenes Kind, streckte dann die Zunge heraus, über seinem Kopf erschien ein Heiligenschein, zwischen seinen Locken schoben sich zwei Hörnchen in die Nachtluft. Er zielte den Bogen auf sie und griff mit der anderen Hand nach dem Köcher. Sie ging weiter, drehte ihm den Rücken zu und spürte wenige Meter später ein Reißen in ihrem Brustkasten, wo er sie getroffen hatte. Hinter sich hörte sie ihn hämisch und voller Süße lachen.
Dann stand Tinker vor der Terasse, von wo aus sie losgegangen war, vor einem Schild, das sie in die gleiche Richtung schickte wie vorhin, als sie losgegangen war. Sie schüttelte den Kopf und schritt einfach durch das Schild und sah Rat, der sie sorgenvoll ansah und auf sie zukam.
Rat hielt Tinker im Arm. Sie erzählte wirres Zeug von einer Gartenparty, Leuten in Anzügen und einem Engelbogenschützen. Das letzte Fest war im Sommer gewesen, aber Anzugtypen und Engel hatte Rat dort nicht gesehen. Er hatte ihr wieder die Beruhigungspillen geben müssen und wiegte sie vor und zurück, wie man es mit einem kleinen Kind macht, das man beruhigen möchte
Art lag seit einer ganzen Weile wach und ging zu den Resten des Lagerfeuers, als klar wurde, dass er jetzt nicht einschlafen würde. Er pisste in die Glut, dass es zischte. Über den Feldern erhellte sich die Nacht ins Dunkelblau.
'Bald kräht ein Hahn', dachte Art und ging ins Wohnzimmer, wo Judy vor dem befeuerten Kamin in eine Decke gehüllt saß und einen Film über die Frauen von Henry VIII guckte. Er setzte sich neben sie und legte irgendwann den Arm um ihre Mitte. Judy warf ihm einen flüchtigen Augenwinkelblick zu und die Decke über seine Knie. Art murmelte irgendwas, lehnte den Kopf auf ihre Schulter, wollte nur kurz die Augen schließen und schlief ein.