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Capie
Es war einmal ein freches Mädchen, dass ständig ein Cap trug. Immer in verschiedenen, grellen Farben, echt durchgeknallt! So wurde sie von allen nur Capie genannt. Als sie eines Tages geschafft von der Schule nach Hause kam, erwartete sie schon ihre Mutter mit einer Aufgabe. Shit, dabei hab ich doch noch Hausaufgaben auf, und außerdem will ich mich noch mit meinem Freund treffen, dachte sie sich.
„Nichts da“, meinte ihre Mutter, „du bringst Oma jetzt den Rotkäppchen und die Marlboros. Du weißt doch, sie ist Kettenraucherin, die hälts nicht lange ohne aus....“
„Nagut, aber ich nehm ne Abkürzung, hab heute noch was vor“, erwiderte Capie.
„Jetzt hör mir mal zu, wir leben inner gefährlichen Zeit, mit gefährlichen Menschen – du gehst bitte nur da lang, wo sich Menschen befinden; damit man dich auch schreien hört, wenn sich so ein perverser Dreckssack an dir vergreifen will. Ist das klar?!“
„Klar Mutti, und Süßigkeiten von Fremden sin auch tabu“, antwortete sie ironisch. „Ich bin doch keine sieben mehr....“
Mit diesen Worten verschwand sie mit dem Sekt und den Zigaretten in der Zellefantüte.
Sie sprang mit großen Schritten die Treppe hinunter und rannte zur Straßenbahnhaltestelle.
„Wo willsten hin, Kleine?“, fragte sie Wolfgang, einer aus der Parallelklasse. Er war ein Außenseiter.
„Zur Oma, soll ihr das Zeug ins Heim bringen – aber geht dich das überhaupt irgendwas an!“ sagte Capie feindselig. Er glotzte sie mit lodernden Augen an.
„Nö, aber wenn du schon mal zu deiner Oma gehst, könnteste ihr ruhig mal einen Blumenstrauß mitbringen – sie wird sich sicher freuen....“, behauptete er altklug. Capie dachte nach: ihre Oma hatte zwar Charme wie ein Stein, aber sie mochte sie trotzdem – sie hatte die besten Ladendiebstahl-Tipps. Da sie sich nicht sooft trafen, wären ein paar Blumen nur fair. Also ab zum Blumenladen, der ist zwar im letzte und verlassensten Winkel der Stadt, aber wenn ich mich beeile... sprach sie in Gedanken zu sich und hetzte, ohne ein Wort an Wolfgang zu richten, los. Der setzte ein breites und teuflisches Grinsen auf und nahm die Straßenbahn nach Nord, wo sich das Seniorenheim befand. Dort angekommen, fragte er ein bisschen nach und war schnell am Ziel. Zwar sah die Tür nicht gerade stabil aus, aber Wolfgang klingelte trotzdem.
„Wer ist da?“, hörte er eine sanfte Stimme gedämft aus der Wohnung.
„Ich bin es, deine Capie“, piepste Wolgang zurück.
Anderorts verpasste Capie, mit einem Blumenstrauß in der Hand, mal wieder die Straßenbahn und verfluchte in Gedanken diesen vertrottelten Fahrer: der hat sie doch gesehen. Zehn Minuten und eine Straßenbahnfahrt später war sie aber dennoch bei der Wohnung ihrer Oma angekommen und klopfte verhalten an der Tür.
„Du kannst reinkommen ... es ist offen“, hörte sie von einer ungewöhnlich hohen aber auch rauhen Stimme.
Capie betrat das Zimmer und erblickte ihre Großmutter vermummt im Bett liegen.
„Komm doch zu mir“, forderte sie die ungewöhnlich fremde Stimme auf. Capie setzte sich auf das Bett und bemerkte sofort den neuen trendigen Look der alten Dame. Zugleich fragte sie: „Wieso hast’n jetzt ne kleinere Nase, das knollige Ding hätt's doch auch getan!“
„Moderne Chirurgie vermag doch wirklich alles, meine Süße, schließlich will man den Männern auch noch im Alter gefallen....“
„Ah so, und warum bitte die straffe Haut?“
„So ein Facelifting ist nicht allzu teuer, also dachte ich: besser jetzt als nie!“
„Und wieso diese wasserstoff-blonden Haare?“
„Man hatte mir gesagt, damit würde ich mehr Sexappeal ausstrahlen!“
„Och naja, bei dir sin Hopfen und Malz eh schon verloren, aber trotzdem ne coole Sache... Und weshalb haste dir da nicht gleich deine Wanne wegsaugen lassen ... ich meine, wo du doch gerade dabei warst-“
„-damit du besser reinpasst, Kleine!“, schrie Wolfgang und verschlang Capie mit Haut und Haaren. Danach fühlte er sich wirklich überfüllt und hielt ein kleines Verdauungsschläfchen. Als Capie abends nicht nach Hause kam und bei Oma auch niemand ans Telefon ging, alarmierte ihre Mutter die Polizei. Die schickte darauf auch ein Streife zu dem Rentnerheim. Die zwei Polizisten glaubten kaum ihren Ohren – aus dem aufgeblähten Bauch des Jungens, der da im Bett lag, hörten sie tatsächlich Hilfeschreie. Sie brachten ihn sofort ins Krankenhaus, der dortige Chirurg sah sich wohl der größten Aufgabe seines Lebens gegenüber: mit einem Skalpell öffnete er die Bauschdecke, konnte somit die Capie und ihre Oma befreien.
„Und ich dachte, diese Geschichte wäre nicht wahr, aber der IST ja wirklich ein Kannibale“, bemerkte Capies freches Mundwerk. „Doc, ich geb dir nen guten Rat ... lass’ den Kerl verbluten: Sowas darf doch nicht nochmal auf die Menschheit losgelassen werden!“
Der Arzt sah sich schon vor Gericht, angeklagt wegen Mordes.
„Hey, Doc, machen’se sich mal nich so viele Sorgen – sie können es doch wie ein Kunstfehler aussehen lassen!“
„Ihr Kinder habt doch immer die besten Ideen“, erwiderte er und stopfte dabei massenweise Tücher in den Bauch, um diesen danach zuzunähen.
„Klasse Arbeit, Doc“, schmeichelte Capie dem Chirurg. „Ich geh dann mal!“
Eine Woche später starb der diabolische Wolfgang an einem Kunstfehler.
Und wenn es nicht gestorben ist, terrorisiert Capies großes Mundwerk wahrscheinlich noch bis heute ihre Mitmenschen.
(frei nach "Rotkäppchen")