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Thema des Monats Camila, die Neue

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16.10.2008
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Camila, die Neue

LIZ
Die Sonne war kaum aufgegangen und die Schlafsäcke waren noch nass vom Tau, als mein Handy klingelte. Einen Moment lang piepste die Tetris-Musik durch die Stille, dann machte es phhlump! und das Handy landete auf meinem Bauch. Gestern Nacht hatte Anna es noch gehabt. Verschlafen tastete ich nach dem Gerät und nahm den Anruf an.
„Hallo meine Kleine, ich hoffe ich habe dich nicht geweckt“, redete meine Mutter fröhlich auf mich ein. „Weißt du, ich habe gerade mit Marta telefoniert – meine Freundin, die aus Honduras kommt – und sie will dir unbedingt jemanden vorstellen. Ich fahr heute Nachmittag ohnehin zu ihr und hab gesagt, dass du dann ja mitkommen kannst. Schatz, hörst du mir überhaupt zu?“
Ich brummte zustimmend, während mein Gehirn noch dabei war, hochzufahren. „Super, dann hätten wir ja alles geklärt, wir werden hier um eins losfahren. Schaffst du das?“
„Ja, keine Sorge, ich komme.“
„Okay. Und schlaf doch nicht immer so lang.“
„Mama! Es ist noch voll früh!“
„Wie auch immer. Bis später.“
„Tschau.“
Der blaue Schlafsack neben mir fing an, sich zu bewegen. „Wehe, es ist niemand gestorben“, grummelte Marc und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
„Ich möchte deine Mutter steinigen und kreuzigen“, meldete sich ein weiterer Schlafsack zu Wort. Anna.
„Du hast Rädern vergessen. Das war die schmerzhafteste Foltermethode des Mittelalters“, fügte Marc hinzu.
„Ihr kennt meine Ma.“ Ich zuckte mit den Schultern. In einer halben Stunde hätte ohnehin mein Wecker geklingelt, da ich später noch zum Treffen der Tierschutzgruppe gehen wollte. Mist! Da konnte ich ja nun gar nicht mehr hin.
„Was wollte sie denn überhaupt?“, fragte Natascha und kuschelte sich dicht an Anna. Diese lächelte und gab ihr einen Kuss.
„Ich soll heute Mittag unbedingt mit zu einer Freundin von ihr kommen, die will mich jemandem vorstellen.“
„Uh-uh, die kleine Liz soll wohl verkuppelt werden“, grinste Anna.
Ich knuffte sie, konnte mir aber ein Grinsen nich verkneifen. „Klappe!“ Anschließend krabbelte ich aus meinem Schlafsack und stolperte über meine beste Freundin. „Los, Leute! Ich hab nun wohl nicht mehr ewig Zeit. Wir sollten zusammenpacken.“
Marc stand seufzend auf. „Zeit sollte kein limitierender Faktor sein.“
„Ist es aber. So oder so, mein Wecker hätte gleich geklingelt. Später trifft sich unsere Tierschutzgruppe. Die müssen heute wohl ohne mich auskommen. Hey!“ Ich schlug ein paar mal auf das Stoffknäul, in dem Tim sich vermutlich befand. „Steh auf, du Pennnase!“
Der Schlafsack machte Geräusche und rückte ein Stück weg von mir. Marc hatte inzwischen seine Turnschuhe angezogen und hüpfte ein wenig auf der Stelle. Auch verkatert und verschlafen sah er umwerfend aus, wie ein klassischer Mädchenschwarm. Anna schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ich geh ne Runde laufen. Vielleicht habt ihr Tim ja wachbekommen, bis ich wieder da bin.“
„Warte, ich komm mit!“ Begeistert zerrte ich mir die Leinenschuhe über die Füße und sprang auf. In gemächlichen Tempo joggten wir einmal um den See.

Schon von weitem konnten wir sehen, dass sich in unserem Lager nichts regte. Mir kam eine Idee.
„Na“, sagte ich und grinste Marc zu. Ich ging zum See und schöpfte mit meinen Händen so viel Wasser, wie ich konnte. Damit ging ich hin zu den Schlafenden. Marc musste lachen und deckte sich auch mit kaltem Seewasser ein. Ich zählte leise bis drei und dann weckten wir unsere Freunde.
Mit einem Schrei fuhr Tascha hoch, Anna schüttelte unwillig den Kopf.
„Alter!“, murrte Tim und setzte sich auf. „Ihr seid aber auch Arschgesichter.“
„Ach komm schon, es ist acht Uhr morgens am letzten Ferientag, meinst du nicht, dass das ein bisschen spät zum Aufstehen ist?“ Wie immer konnte sich Anna den sarkastischen Kommentar nicht verkneifen.
„Unbedingt. Ich hab mir extra freigenommen, um die letzten Ferientage mit euch zu genießen, wie könnte ich da nicht um acht Uhr aufstehen wollen?“ Tim pellte sich aus seinem Schlafsack.
„Auf geht’s, dann kannst du noch ein bisschen an deinem Motorrad rumschrauben“, versuchte ich ihn zu motivieren.
Tims Miene hellte sich auf. „Ich wollte noch einen Slip-On verbauen, bin mir aber nicht sicher, ob – okay ich seh, schon, egal. Alter, ich will endlich achtzehn werden.“
„Na, viel fehlt ja nicht mehr.“
„Jo. Im Gegensatz zu dir.“ Tim grinste Tascha zu. Mit fünfzehn war sie die Jüngste, außerdem ging sie noch in die Elfte. Wenn sie nicht mit Anna zusammen gewesen wäre, hätte sicherlich keiner von uns was mit ihr zu tun gehabt. Aber solangsam hatten wir sie doch alle lieb gewonnen.
Anna war schon aufgestanden und half mir, die Plane von den Ästen abzurupfen, die wir vor zwei Tagen als Pfosten in die Erde gerammt hatten. Sie sollte als Regenschutz dienen, aber ehrlich gesagt, wären wir mit dem Teil bei einem richtigen Guss verdammt aufgeschmissen gewesen.
„Ich bereite mal Brote vor. Marc, hilfst du mir?“, verkündete Tascha, während sie in ihrem Rucksack nach einem Messer wühlte. Marc, der etwas unnütz in der Gegend herumgestanden hatte, nickte und begann, nach Butter und Belag zu suchen.
Nach einer knappen Stunde hatten wir alles zusammengepackt und gefrühstückt.
„Wie wärs mit nem kleinen Rennen? Von hier bis zur Brücke, das sind vielleicht anderthalb Kilometer“, schlug ich vor und dehnte mich ein wenig.
„Zwei. Energetisch gesehen ist das zwar unlogisch, aber ich bin natürlich trotzdem dabei“, kommentierte Marc. Anna und Tascha bejahten ebenfalls, Tim machte ein Gesicht wie eine Rosine.
„Na, in zwei Monaten gewinnst du dann alle Rennen, wenn du mit dem Motorrad unterwegs bist. Also komm schon, Dickerchen.“ Anna klopfteauf Tims Bauch, schwang sich aufs Rad und fuhr los.
„He!“ Ich konnte kaum fassen. Das war nicht fair! Ich trat in die Pedale, so fest ich konnte. Hinter mir hörte ich, wie die anderen auch starteten. So sehr ich mich auch anstrengte, Anna konnte ich überholen, aber nach kurzer Zeit zog Marc an mir vorbei. Japsend kam ich nur wenige Sekunden nach ihm an der Brücke zu stehen.
Er nickte ernst. „Nicht schlecht.“
Bis Tim ankam, hatte sich mein Atem schon wieder beruhigt.
„Wer hat denn das verdammte Wasser eingepackt?“, schnaufte er.
Ich griff grinsend hinter mich und warf ihn eine Flasche zu. Tim fing sie auf, verbeugte sich und zog einen imaginären Hut. „Danke, danke vielmals!“
Der Rest der Fahrt verlief unspektakulär, Tascha redete über die letzte Elferjagd, Marc über die Bedeutung von Analogkäse auf einer Fertigpizza und Tim versuchte, Anna seine ausgefeilten Motorradbasteleien näher zu bringen. Ich fragte mich, wen mir Mamas Freundin wohl vorstellen wollte und wie ich Mika erklären sollte, dass ich heute nicht kommen konnte.

Gegen Mittag kamen wir an. Ich hatte kaum Zeit, zu duschen und einen Salat zu essen, als meine Mutter mich schon ins Auto scheuchte.
Während der Fahrt rief ich Mika an und versprach ihn hoch und heilig, mich am Abend wieder zu melden und mich mit meiner Nichtanwesenheit automatisch auch für Drecksarbeit freiwillig zu melden.
„Es wäre echt wichtig gewesen, heute hinzugehen. Wir planen ne Aktion, für die übernächste Woche. Ich hoffe, es lohnt sich, die Gruppe ausfallen zu lassen“, erklärte ich meiner Mama.
„Solltest du übernächste Woche nicht lieber lernen? Ich dachte, danach ist Klausurenphase.“ Ich stöhnte auf. Jedes Mal kam sie darauf zurück. Ich verstand nicht, was sie wollte. Gemeinsam mit Marc war ich nach dem Realschulabschluss auf die Oberstufe gewechselt. Klar, ich war nicht grad die beste Schülerin, aber bisher hatte ich nur zwei Mal ne fünf in Geschichte gehabt.
„Mama! Ich pack das schon, mach dir keine Sorgen. Es gibt nun mal Dinge, die wichtiger sind.“ Mama schwieg. Das war ihre neueste Taktik. Also zog ich die Augenbrauen zusammen und schwieg zurück. Auch als meine Mama den Klingelknopf schon gedrückt hatte, redeten keiner von uns beiden.
Beinahe sofort öffnete sich die Tür und Marta setzte ihr breites, hondurenisches Lächeln auf. „Hola, Eva, hola Elisabeth, wie schön dass ihr gekommen sind! Kommt rein, kommt rein!“ Mit weit ausgestreckten Armen lotste sie uns ins Wohnzimmer. Dort saß ein Mädchen mit goldbrauner Haut, krausen Haaren und angespanntem Blick auf dem Sofa.
„Das ist mein Nichte Camila. Sie ist vor einer Woche von Honduras gekommen.“ Ihre Mundwinkel sanken ein wenig und sie sah mich direkt an. „Vielleicht wollt ihr in das Zimmer von ihr gehen?“ Ohne eine Antwort zu erwarten, berührte sie Camila an der Schulter, woraufhin diese sich erhob und den Raum verließ. Ich folgte ihr. Jetzt dämmerte mir auch, wieso ich hier war – es gab wenig Jugendliche in der Region, die Spanisch sprachen, da die Grenze zu Frankreich nah war.
Das Zimmer war kahl und ein bisschen ungemütlich. Eine Reisetasche stand in der Ecke, auf dem Tisch lagen ein Block und ein Stift. Mein Gesicht spiegelte sich an der Schranktür. Das hondurenische Mädchen hatte sich inzwischen auf den Schreibtischstuhl gesetzt.
„Sientese“, sagte sie leise und deutete auf das bezogene Sofa. Vorsichtig schob ich die Decke beiseite, rückte ein paar Kissen von links nach rechts und setzte mich dann mit angezogenen Beinen hin.
„Hola“, sagte ich zögerlich und redete auf Spanisch weiter. „Marta ist also deine Tante?“
Camila nickte.
Wir schwiegen. Mir gingen tausend Fragen durch den Kopf, doch ich konnte sie nicht formulieren.
„Darf ich dich fragen, wieso du hier bist?“
Camila schwieg einen Moment.
„Vor einem Jahr hat das Militär die Regierung abgesetzt. Es wurden Wahlen durchgeführt.“ Die Grimasse schien ein bitteres Lächeln zu sein. „Es war eine Farce. Meine Eltern sind gegen die Regierung. Mein Bruder ist weg. Deswegen bin ich hier.“
Ich hielt die Luft an. Diego aus der Tierschutzgruppe hatte mal was von dem Staatsstreich in Honduras erzählt und wir hatten überlegt, ne Aktion zu starten. Aber Honduras lag so abstrakt weit weg, wo es doch auch hier so viel zu tun gab. „Weg? Was heißt weg?“
„Verschwunden. Ich weiß nicht, ob er lebt.“
Kurz überlegte ich, aufzustehen und dieses fremde Mädchen zu umarmen, doch irgendwie hatte ich davor Respekt. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Der Drang, ihr irgendwie zu helfen, stieg in mir auf.
„Ich weiß nicht, wann ich wieder zurück kann oder ob meine Eltern dann noch leben. Ich kann nur hoffen und beten.“
„Bis dahin gehörst du hier hin. Dann müssen sich wenigstens deine Eltern nicht noch Sorgen machen.“ Spontan beugte ich mich vor und legte Camila die Hand auf den Arm. Ihre Mundwinkel zuckten leicht und sie bat: „Erzähle mir von hier.“
Ich lehnte mich zurück, überlegte einen Moment und fing dann an.

ANNA
Ich duschte gerade, als das Telefon klingelte, deshalb nahm Natascha den Hörer ab. Durch das Prasseln des Wassers drang undeutlich die Stimme meiner Freundin.
„Schatz! Es ist Liz für dich“, rief sie. Ich stellte das Wasser ab und öffnete die Tür. Tascha musste lächeln, als sie mich nackt und nass im Türrahmen stehen sah.
„Wow. Was hab ich für eine schöne Freundin“, raunte sie und reichte mir das Telefon. Ich lächelte einen Moment lang versonnen in den Hörer, dann riss Liz' Stimme mich aus meiner Verliebtheit.
„Anna, ich war ja grad bei der Freundin meiner Mutter.“
„Ja.“ Ich versuchte mich, auf Liz zu konzentrieren.
„Die ist aus Honduras.“
„Aha.“
„Ihre Nichte – sie heißt Camila. Sie ist auch aus Honduras. Und sie wohnt jetzt bei Marta.“ Liz erzählte mir kurz den Hintergrund.
Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen?
„Verstehst du denn nicht?“, fragte mich Liz, fast schon verärgert.
„Nein.“
„Sie ist in unserem Alter, sie geht ab morgen sogar auf unsere Schule!“ Schulbeginn! Ich stöhnte auf, als ich wieder an das frühe Aufstehen und die Hausaufgaben dachte.
„Hallo?“, kam es empört aus der Leitung.
„Sorry“, beeilte ich mich zu sagen. „Passt doch perfekt, bring sie doch mal mit.“
„Ich hab sie schon gefragt. Ihr werdet sie mögen!“ Elisabeths Tatendrang war auch auf die Distanz zu spüren.
„Ja, super, dann bin ich mal gespannt.“ Ich musste gähnen. „Wir sehen uns morgen.“
Wir legten auf und trocknete mich ab.
„Und?“, fragte Tascha, als ich mich neben ihr aufs Sofa plumpsen ließ. Ich spürte ihren Atem auf meinem Arm und musste lächeln wenn ich mir überlegte, was für ein Glück ich doch hatte.
Ich zuckte mit den Schultern. „Morgen lernen wir eine Kamilla kennen.“
„Aha.“ Tascha zog die Augenbrauen hoch. „Na, dann sollten wir heute noch den letzten kamillenfreien Tag zu zweit genießen, findest du nicht?“

LIZ
Ich erzählte Camila gerade etwas über ihre neuen Lehrer, als wir in unserer Ecke auf dem Pausenhof ankamen. Marc und Anna saßen schon da und spielten Schere-Stein-Papier um ihr Essen. Schade, dass Tascha fehlte, sonst hätte Camila gleich alle zusammen kennenlernen können. Bis auf Tim natürlich, aber der machte ja eine Ausbildung zum Automechaniker. Ich freute mich schon so darauf, dass wir meine neue Freundin bei uns aufnahmen.
„Das ist Camila. Ella es Anna, y el es Marc“, stellte ich die drei einander vor. Marc nickte Camila zu, Anna versuchte sich an einem „Hola“.
Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte sie sich mir zu. „Spricht sie kein Deutsch? Oder wenigstens Englisch?“
Ich schüttelte den Kopf. „Sie ist erst vor einer Woche nach Deutschland gekommen, das habe ich dir doch gesagt. Und sie meinte, sie versteht ein bisschen Englisch, kann aber fast nichts sagen.“
„Toll. Und jetzt?“
„Und jetzt was?“ Was sollte das denn?
„Na, und jetzt halt.“
Anna setzte sich hin und drehte den Kopf zu Camila, die den Wortwechsel mit großen Augen verfolgt hatte. „So you are here for a week now?“
Camila nickte. „Ich lerne Deutsch“, versuchte sie zu sagen und lächelte stolz. Ein kleines bisschen zumindest.
„Das ist gut“, nickte Anna ihr zu. Camila sah mich fragend an.
„Está bien eso“, übersetzte ich.
„Ah sí, pero el alemán es una lengua bastante dificil.“
„Sie sagt, dass Deutsch schwer ist.“
Anna nickte und lächelte Camila zu, niemand redete. Marc räusperte sich, während ich überlegte, was ich sagen sollte. Irgendwie hatte ich mir den Moment anders vorgestellt. Magischer. Zum Glück kam jetzt gerade Tascha.
„Hey Leute, der Maier hat mal wieder total überzogen“, plapperte sie fröhlich drauf los und warf ihre Tasche auf den Boden. Dann bemerkte sie Camila. „Oh- hallo.“
„Hola.“
“Qué tal?”
Camila lächelte ein bisschen breiter.
„Bien, y usted?“
«*Bien.*»
«*Du sprichst Spanisch*?*» Das hatte ich gar nicht gewusst, das war ja super.
„Nö. Also zumindest nicht mehr als das.“ Tascha zuckte mit den Schultern. Innerlich trat ich gegen eine Wand. „Kamille, stimmts?“
„Camila“
„Ach so. Camilla.“
„Nein“, korrigierte ich. „Mit langem i. Ca – mieh – la.“
„Camiehla“, wiederholte Tascha brav. Camila nickte und lächelte Tascha an. Diese lächelte zurück. Nach einem Moment des Schweigens räusperte Marc sich erneut. Alle Köpfe drehten sich in seine Richtung.
„Was gibt’s?“, fragte Anna.
„Nichts. Ich hab einen Frosch im Hals.“
Anna zog die Augenbrauen hoch und wandte sich kopfschüttelnd ab. Wieder schwiegen sie.
„Also Leute“, versuchte ich mich. „Ich hab gleich Sport und ich glaube, ich werde dem Hofer vorschlagen, doch mal Volleyball mit uns zu spielen.“
„Mh“, machte Anna.
„Das ist eine gute Idee“, kam es von Marc, bevor er sich wieder seinem Milchreis zuwandte. Tascha warf Camila einen Blick zu.
Nach einem Moment des Schweigens fragte ich Camila: „Tú conoces arroz con leche?“
Sie nickte und wir schauten beide zu Marc hinüber. Der sah auf und fragte mich verwundert: „Was hast du gesagt?“
„Ob sie Milchreis kennt.“
„Ah.“ Und erneut wandte er sich seinem Essen zu. Zwei Minuten später läutete es zum Unterricht.

ANNA
„Dieses Wetter!“, rief Tim und dehnte dabei jede Silbe. „Ich liebe den Klimawandel.“
„Achtung, da kommt Liz! Gleich wird sie dich wegen hetzerischer Rede verhaften“, raunte ich. Tim wirbelte herum. Wir anderen brachen in lautes Gelächter aus und nach ein paar Sekunden fiel auch Tim ein.
„Puh“, machte er schließlich. „Und ich dachte wirklich, da stände jetzt Liz und würde mich finster anstarren oder so.“
Marc rollte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme im Nacken. „Der April ist ein besonderer Monat. Durch die Transitionszeit zwischen Sommer und Winter entstehen häufig abgefahrene Wolkenkonstellationen.“
Nun schauten auch alle anderen in das weite Blau. Meine Augen suchten den Himmel ab.
„Guck mal, da“, meinte ich, stupste Tascha an und zeigte nach oben. „Ein Herz.“ Sie küsste mich und einen Moment lang vergaß ich die anderen.
„Ey, könnt ihr vielleicht woanders kitschig sein?“, warf Tim ein. Tascha streckte ihm die Zunge raus. Ich legte demonstrativ den Arm um meine Freundin.
„Dort oben. Links neben der großen Wolke. Das sieht aus wie ein Widder.“
„Ne, Marc, das ist ein Ochse“, widersprach ich.
„Auf jeden Fall hat es zwei große Hörner und versucht euch gerade anzugreifen!“ Mit diesen Worten stürzte sich Tim auf Tascha und mich und versuchte uns beide gleichzeitig durchzukitzeln. Lachend überwältigten wir ihn und fingen nun an, ihn zurückzukitzeln.
„Hilfe, Marc!“ Tim wandt sich auf dem Boden und schnappte nach Luft. „Das ist unfair, zwei gegen einen!“ Doch Marc hatte einen solchen Lachanfall bekommen, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.
Während wir alle noch damit beschäftigt waren, wieder zu Atem zu kommen, schwankte Liz auf dem Rad heran. Auf ihrem Gepäckträger saß Camila und klammerte sich an Liz` Hüfte fest.
„Hey Leute!“, rief Liz uns fröhlich zu.
„Hey Liz“, antwortete ich.
„Hey Camila“, fügte Tascha hinzu. Marc und Tim begnügten sich mit wilden Begrüßungsgesten. Camila stieg ab, und während Liz das Rad an einen Baum lehnte, stand sie ein wenig verloren herum.
„Setz dich!“, sagte Tascha zu ihr und klopfte auf das freie Rasenstück neben uns. Camila nickte und setzte sich.
„Danke … Tascha?“
Meine Freundin nickte begeistert, auch wenn es eher wie Dassa geklungen hatte.Ich zog sie ein Stückchen näher an mich heran. Einen Moment lang schmiegte sie sich an mich und legte den Kopf an meinen Hals. Ihr Eigengeruch, gepaart mit einem Hauch von Zimtshampoo, stieg mir in die Nase.
„Mir ist warm!“, sagte Tascha und wand sich aus meiner Umarmung. Jetzt war mir kalt, aber ich sagte kein Wort.
„Ähm … Weintrauben?“, fragte sie Camila und hielt ihr die Plastikschale hin, die wir vorhin auf dem Markt gekauft hatten.
„Weintrauben. Danke.“, sagte Camila und strahlte. Tascha lächelte schüchtern zurück. Ich zog meine Beine an und umklammerte sie mit den Armen.
„Tim. Was macht dein Motorrad?“, fragte ich mit lauter Stimme. Er drehte sich überrascht um.
„Ich glaube es nicht!“, rief er überschwänglich. „Eine Ewigkeit! Seit ner Ewigkeit versuch ich dir was über Motorräder zu erzählen – Nichts! Und jetzt kommst du von selbst an?“ Er rollte sich herüber und umarmte mich belustigt. „Ich ziehe meinen Hut, liebe Anna, ich ziehe meinen Hut.“
„Du hast ja nicht mal einen, Trottel.“ Ich musste lächeln und wuschelte ihm durchs Haar. Allerdings fragte ich mich, ob es eine gute Idee gewesen war, ihn nach seinem Lieblingsthema zu fragen. Er begann, mich mit Dingen zuzutexten, die ich nicht verstand, die mich aber eigentlich auch nur mäßig interessierten. Marc guckte immer noch in den Frühlingshimmel und Tascha versuchte stockend und mit Hilfe von Liz ein paar Worte mit Camila zu wechseln.
Nach zwei Minuten unterbrach Tim seinen Monolog ein wenig enttäuscht. „So genau wolltest du`s nicht wissen, stimmts?“
Ich wuschelte ihm noch mal durchs Haar und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ehrlich gesagt, nicht, mein Lieber, aber nimms mir nicht übel.“
„Quatsch!“ Tim grinste mich an. „Hätte mich ehrlich gesagt auch gewundert.“
Ich drehte mich zu Tascha und Camila, um mitzuhören. Allerdings waren sie schon verstummt und lächelten sich nun um die Wette an. Nach einem Moment zog Liz die Augenbrauen hoch. „Hey Anna, was ist denn mit dir los?“
„Wieso?“, fragte ich etwas unwirsch.
„Du siehst aus, als würdest du jemanden umbringen wollen.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht so mein Tag heut.“
„Ach, komm schon.“ Tascha gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich beobachtete Camila, aber diese zeigte keine Reaktion. Dann schwiegen wir alle eine Weile.
Ich weiß nicht mehr, wie es anfing. Möglicherweise war es Marc, der einen Kommentar zur freien Marktwirtschaft machte. Auf jeden Fall diskutierten wir mit einem Mal leidenschaftlich über verschiedene politische Systeme und wie diese nebeneinander existieren können. Tascha bat Liz zu übersetzen und diese tat ihr bestes, während die Jungs und ich uns permanent ins Wort fielen.
„Aber was passiert dann, wenn wieder eine Situation auftritt wie im kalten Krieg?“
„Das ist Quatsch, denn -“
„Nein, nein, ich meine es Ernst!“
„Aber sie hat Recht. Niemand würde einen direkten Angriff riskieren.“
„Ja und? Es gibt immer noch die potentielle Gefahr.“
„Theoretisch.“
„Stell dir vor, dein Land würde von einem anderen Land mit Atombomben bedroht werden. Scheiß drauf ob direkt oder indirekt. Könntest du da ruhig schlafen?“
„Kriegsführung verläuft heute asymmetrisch. Niemand würde ein Land angreifen wie früher. Ich könnte mir eher eine Art Terrorismus vorstellen, vielleicht auch mit chemischen oder biologischen Waffen.“
„Ja super, und da muss ich natürlich keine Angst um mein Leben haben.“
„Sag mal, spinnt ihr eigentlich?“, platzte Liz mit rotem Kopf heraus. „Merkt ihr denn gar nicht, worüber ihr hier redet?“
Wir schauten sie verwirrt an.
„Findet ihr es richtig, über so etwas zu reden, wenn sie dabei ist?“ Liz guckte uns zornig an.
„Sie versteht uns doch eh nicht.“ Ich zuckte mit den Achseln und ärgerte mich, dass Liz uns aus der Diskussion gerissen hatte.
„Aber Liz hat schon recht.“ Taschas Augen waren groß geworden. „Bestimmt bekommt sie mehr mit, als wir uns vorstellen können.“
Camilas Blicke wanderten verunsichert zwischen uns allen umher, da nach Liz' Wutausbruch im Sekundentakt jemand zu ihr hinüberschaute.
„Ich lass mir trotzdem nicht das Maul verbieten.“
„Das hat nichts mit Maul verbieten zu tun“, fuhr Tascha mich an. „So etwas nennt sich Taktgefühl.“
Ich drehte mich weg. Am liebsten wäre ich losgelaufen und hätte laut geschrien. Stattdessen atmete ich tief durch und schwieg. Erstaunt stellte ich fest, dass mir Tränen in den Augen standen. Das war doch nun wirklich übertrieben. Ich versuchte, das alles in einen gedanklichen Käfig zu sperren.
Keine Ahnung wie viel Zeit vergangen war, vielleicht waren es Minuten, vielleicht auch nur Sekunden gewesen. Auf jeden Fall stand Tim mit einem Mal auf. „Also Leute, das ist ja ne Bombenstimmung hier. Ich wollte sowieso noch ne Runde an meinem Motorrad schrauben, bevor es dunkel wird. Machts gut.“
„Warte“, rief Liz, als er sich aufs Rad setzte. „Gehen wir am Samstag kegeln?“ Sie sah in die Runde.
„Warum nicht?“, fragte Marc. Tascha und ich nickten, Tim meinte. „Bin dabei. Um vier an der Halle.“ Liz übersetzte, Tim fuhr winkend davon.
Marc stand auf und ging zu einem Mädchen hinüber, mit dem er schon einige Zeit Blicke gewechselt hatte. Sie wirkte wie eine Studentin. Vermutlich wollte er sie klarmachen. „Ich finde, eine Beziehung ist etwas ganz tiefes und bedeutendes“, hatte er mal gesagt. „Dafür bin ich noch nicht bereit. Aber ein bisschen unkomplizierter Sex, da spricht nichts gegen.“ Bei seinem Aussehen fiel es ihm auch nicht schwer, Mädchen zu finden.
Wir anderen blieben nicht mehr lange.

Meine Mama war heute nicht da, also kam Tascha noch mit zu mir. Kaum hatte ich dir Tür zugeschlossen, da konnte ich meinen Gefühlen endlich freien Raum geben. „Gehts eigentlich noch? Was sollte das denn?“, platzte ich heraus.
Tascha begann, sich ihre Schuhe auszuziehen. „Jetzt beruhig dich erstmal und sag mir dann, wovon du überhaupt redest.“
Ich schnaubte. „Das ist ja wohl mehr als klar. Du hast dich voll an sie rangemacht!“
Tascha fielen die Schnürsenkel ihrer Doc Martens aus den Händen und langsam richtete sie sich auf. „Bitte?“
„Bitte, bitte“, äffte ich sie nach. „Jetzt tu doch nicht so.“ Zu meinem Erschrecken hatte ich das Bedürfnis, Tascha zu schlagen. War das noch ich? Stattdessen trat ich gegen die Wand, aber das half nicht wirklich.
„Spinnst du? Ich wollte nur nett sein.“ Tascha starrte mich entgeistert an. Ich merkte, wie sie ein klein wenig zurückwich.
„Ja natürlich.“ Meine Stimme klang so bitter wie Kaffee ohne Zucker und ich wandte mich ab von meiner Freundin. Sie legte mir sanft die Hand von hinten auf die Schulter.
„Anna. Sie ist hier allein, hat keine Freunde, ist ohne ihre Fam -“
„Fass mich nicht an“, zischte ich. Taschas Hand zitterte ein wenig, aber sie nahm sie nicht weg.
„Fass mich nicht an, habe ich gesagt.“ Meine Stimme schnitt durch die Luft. „Geh doch lieber zu deiner Camila.“
Ich spürte, wie Tascha ihre Hand zurückzog. „Wie kannst du nur so egoistisch sein?“, fragte sie. Ihre Stimme klang verletzt. Bis die Tür hinter ihr zuschlug, bewegte ich mich nicht. Meine Schulter brannte dort, wo eben noch ihre Hand gewesen war und ich schaffte es grad noch zum Parkettboden, bevor ich mich übergeben musste. Trocken schluchzend wischte ich meine Kotze weg.
Scheiße.
Scheiße, was tat ich hier bloß?

LIZ
Mit vielen „Sorry!“s schlängelte ich mich durch die überfüllte Pausenhalle. In meinem Kopf rotierte alles. Gerade hatte ich so viele Hausaufgaben bekommen, wie schon lange nicht mehr, außerdem stand ein Erdkundetest an und auf dem Weg zwischen Bioraum und Klo hatten mich drei verschiedene Leute nach Ergebnissen der Kurssprecherversammlungen gefragt. In solchen Momenten ärgerte ich mich ein bisschen, die Wahl zur „Pressesprecherin“ der Kurssprecher, wie wir es scherzhaft nannten, angenommen zu haben. Aber eigentlich machte es mir viel Spaß.
Die frische Luft half mir, ein bisschen ruhiger zu werden. Als ich draußen bei meinen Freunden ankam, ließ ich mich entspannt auf ein Mäuerchen plumpsen. Ich machte den Mund auf, um zu grüßen, schloss ihn jedoch wieder.
Anna starrte mit finsterer Miene vor sich hin. Tascha brach gerade ein Stück von ihrem Brot ab und reicht es Camila mit entschlossenem Lächeln, doch ich sah, wie sie ihrer Freundin immer wieder böse Blicke zuwarf. Camila nahm das Brot an, doch ihr Lächeln war nicht sehr überzeugend. Auch sie schaute immer wieder zu Anna, doch ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Dafür kannte ich sie noch zu wenig.
Marc war der einzige, der einigermaßen normal wirkte. Gelassen meinte er: „Willkommen auf dem Friedhof, meine Liebe.“ Dann beugte er sich vor und raunte in mein Ohr.
„Schlechte vibes, was ist da los, Liz? Ich schreib gleich nen Test, das hier zieht mich echt runter.“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Hey Leute, was ist denn los hier? Wie sieht es aus mit einem Schere-Stein-Papier-Turnier?“ Ich weiß, es klingt ein bisschen komisch, aber wir haben schon öfters als Pausenvertreib erbittert dieses simple Spiel gespielt. Und es war normalerweise immer verdammt lustig.
Doch heute war kein normaler Tag. Anna fokussierte ihr Starren jetzt auf mich, Camila schaute mich fragend an und Taschas Mundwinkel sanken langsam nach unten. Sie und Anna waren sonst immer ein Team.
„Wie wärs, Tascha und ich gegen Camila und Anna? Marc ist Schiri“, schlug ich vor.
„Euer Schiri muss nochmal ne Runde über den Hof drehen, sonst packt er den Test nicht. Vielleicht fang ich ja noch irgendwo ein bisschen positive Stimmung ein.“ Mit diesen Worten schwang er seinen Rucksack über die Schulter, schlug in meine gehobene Hand ein und nickte den anderen zum Abschied zu.
„Qué estás diciendo?“, fragte mich eine leise Stimme.
„Nichts!“, fuhr Anna sie an. Wer weiß, was sie verstanden hatte. Camila zog den Kopf ein und blickte mit flackernden Augen zu Tascha und mir. Tascha legte ihr eine Hand aufs Knie. Anna schnaubte und stand auf. Ich holte sie mit ein paar langen Schritten ein und packte sie am Arm.
„Anna, was ist los?“
Meine beste Freundin schwieg und presste die Lippen aufeinander.
„Ich kann da jetzt nicht drüber reden.“ Ihre Augenlider zitterten.
„Aber denk dran, wenn du so weit bist – ich bin da.“
Anna nickte ernst. „Danke, ich weiß.“ Mit dem Pausengong setzte sie ihren Weg nach drinnen fort.

Manchmal gab meine Uhr knarzende Geräusche von sich. Jede Stunde, wenn der Minutenzeiger von der zwei auf die drei sprang, zuckte Camila zusammen. Der Ton war tiefer und lauter als alles, was das Schrotteil sonst so von sich gab. Ich nahm mir vor, es mal zu ölen.
Wir hatten uns im Park getroffen, aber es hatte fast sofort angefangen zu regnen, also sind wir zu mir nach Hause. Anfangs hatte Camila sich noch unsicher zwischen dem fetten Schrank im Wohnzimmer und der pinken Klobrille umgesehen, aber mit der Zeit wurde sie immer lockerer. Ich versuchte ihr beim Deutschlernen zu helfen, aber die meiste Zeit unterhielten wir uns einfach. Irgendwann fing Camila an, sich über meine merkwürdigen Lücken im Spanisch lustig zu machen. Schließlich alberten und lachten wir nur noch herum, bis sie nach Hause musste. Um acht, hatte ihre Tante Marta gesagt, und keine Minute später, sie mache sich sonst Sorgen.
Ich brachte Camila also zur Tür.
„Morgen gehen wir kegeln“, erklärte ich ihr auf Spanisch. „Du kommst mit, oder?“
Camila zögerte. „Ich mag dich wirklich gerne. Und die anderen auch.“
„Aber?“, fragte ich in die Pause hinein. Meine neue Freundin zögerte noch. Währenddessen probierte ich gedanklich diese Worte aus: meine neue Freundin. Ich hatte das Gefühl, dass wir wirklich Freunde geworden waren, in diesen paar Stunden.
„Ich habe das Gefühl, dass sich Anna und Tascha wegen mir streiten. Ich möchte keine schlechte Stimmung machen.“ Das Gefühl hatte ich allerdings auch, auch wenn ich es überhaupt nicht verstand.
„Ach, Quatsch, in jeder Beziehung gibt’s mal Probleme. Das kriegen die schon wieder hin. Lass dich deswegen nicht verunsichern.“
Camila schüttelte den Kopf und ich legte ihr die Hand auf den Arm. „Bitte, komm mit morgen. Das ist doch nicht deine Schuld.“
Einige lange Sekunden überlegte sie noch, dann nickte sie ein wenig widerstrebend und machte sich auf den Heimweg.

TIM
„Tim!“ Anna schien sich wirklich zu freuen, ich sie anrief. Also ich mein, mehr als sonst so.
„Was geht?“, grinste ich ihr durchs Handy zu.
„Viel zu wenig. Gehen wir irgendwo hin?“
„Ich bin noch auf der Arbeit, holste mich in ner Stunde ab?“
„Okay, bis dann!“
Ich legte auf und zuckte zusammen, weil mir jemand auf die Schulter schlug.
„Alter, Marc! Erschreck mich doch nicht so.“
„Fördert die Aufmerksamkeit.“
„Du mich auch“, brummte ich. „Was machst du denn hier?“
„Bin ein bisschen zu früh dran und war grad in der Gegend … erinnerst du dich an Michelle, die mit den kurzen Beinen und den süßen Sommersprossen? Mit der ich am See geredet habe?“
„Ja. Aber ich dachte, du findest diese Laura gut?“
„Ja. Hm. Schon.“ Marc wiegte den Kopf zur Seite. „Ich mein, ich mag Laura wirklich gerne, aber ich weiß dass sie was von mir will.“
„Also in meiner Welt gäbe es jetzt ein Happy End“, warf ich ein.
„Aber es ist nicht ausgewogen. Ich spüre nichts Tieferes, und ich meine, dass eine Beziehung etwas ist, das bis ganz ins Innere gehen sollte. Sonst kann man auch einfach nur mit irgendwem Sex haben. Und das werde ich jetzt.“
„Ja dann, hau rein. Ach, sag mal, ist eigentlich mal wieder irgendwas geplant?“
Marc schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, grad nicht. Zwischen Anna und Tascha läufts ja nicht so im Moment, und überhaupt …“ Er biss sich auf die Lippen.
„Spucks aus, du weißt, dass ich nix weitersage.“
„Ich hab gar keine Ahnung, was ich reden oder machen kann, wenn Camila dabei ist. Ich mein, irgendwie ist das so komisch. Wenn ich zum Beispiel mit Liz über irgendwas reden würde, würde sie das ja automatisch ausschließen.“
„Erinnerst du dich noch an das am See? Als Liz so ausgetickt ist?“
„Mh, klar. Irgendwie hatte sie ja schon recht, aber man kann halt nicht wissen, wohin sich eine Diskussion entwickelt, und eine spannende Diskussion aus Fragen der political correctness zu unterbrechen, halte ich für verwerflich.“
„Schon.“
„Die Frage ist natürlich -“ Marc brach ab und setzte seinen Gedanken stumm fort.
„Keine Frage ist auf jeden Fall, dass ich hier ne Arbeit hab die mir gefällt, und du ein Mädel dass dir nicht gefällt.“
Marc grinste. „Machs gut!“ Er boxte mir zum Abschied in die Seite und schnappte sich sein Rad.
Ich wandte mich meinem Kollegen zu, der mit mir über ein paar Ersatzteile reden wollte. Aber so richtig hörte ich nicht zu. Mir war nämlich grad etwas aufgefallen: nicht nur, dass ich seit fast ner Woche von keinem meiner „Schulfreunde“ was gehört hatte, sondern wir hatten uns nach dem Kegeln am Samstag auch nicht wieder verabredet. Ich meine, das machten wir sonst eigentlich immer, bevor wir auseinandergingen. Aber die Stimmung war sowieso total seltsam gewesen. Anna und Tascha voll ernst, Liz versuchte so zu tun, als hätte sie einen Clown gefrühstückt. Und nicht mal Marc lachte über meine Witze, sodass ich dann halt einfach keine mehr machte. Zuerst dachte ich, es wäre vielleicht irgend so ne Frauensache gewesen - Zickenkrieg, Periode, keine Ahnung. Aber so richtig glaubte ich da nicht dran. Bestimmt hatte es was mit dem Krach zwischen Anna und Tascha zu tun.
„Hallo?“ Kev wedelte mit einem riesigen Schraubschlüssel vor meinem Gesicht herum.
„Sorry, ich war in Schockstarre, weil ich dachte du erschlägst mich gleich mit diesem Monstrum.“
Kev grinste und drückte mir das Teil in die Hand.
„Jetzt guck aber mal, ich glaube das hier können wir vergessen.“
Ich beugte mich zu dem Motor runter, wurde aber von wildem Fahrradgeklingel abgelenkt. Anna stand am Tor der Werkstatt und winkte mir zu.
„Also wenn das für dich ne Stunde ist, dann stirbst du in drei Monaten an Altersschwäche“, rief ich ihr zu.
„Sorry, tut mir Leid“, brüllte sie zurück. „Mir ist einfach die Decke auf den Kopf gefallen. Ich warte eben auf dich.“
„Quatsch“, meinte Kev zu mir. „Zieh schon ab, du hast heute genug gemacht.“ Ich zögerte einen Moment, aber dann schlug ich in seine ausgestreckte Hand ein. „Geht klar, Mann, danke.“
Kev grinste und meinte: „Ich hab morgen ein Date, meinste ich kann ein bisschen früher gehen, um mich noch frisch zu machen?“
Lachend schnappte ich mir meine Tasche und ging zu Anna.
Ich umarmte sie zur Begrüßung, hob sie dabei vom Rad und wirbelte sie ein paar mal im Kreis.
„Hey!“, rief sie und trommelte auf meinen Rücken. „Lass mich runter!“ Ich konnte ihr Grinsen hören. Nichtsdestotrotz stellte ich sie wieder ab, solangsam wurde sie mir eh zu schwer.
„Was eine Lady sagt, muss ein guter Gentleman befolgen“, verkündete ich mit einer Verbeugung. Anna wuschelte mir durchs kurze Haar. „Spinner!“
„Also, wie siehts aus, wonach steht dir der Sinn?“, fragte ich, während wir losliefen. „Lass mich raten, wenn ich mir dich so angucke: Du willst nicht reden, sondern irgendwas machen, was reinhaut.“
„Ehrlich gesagt, weiss ich es nicht.“ Annas Gesicht wurde ernst. „Weißt du, Tascha hat mich vorgestern angerufen. Wir haben uns nur gestritten. Wegen dieser Neuen, Camila.“
„Will Tascha etwa was von ihr?“ Ich wollte das eigentlich nicht mal denken. Die beiden waren für mich immer so das Traumpaar gewesen.
„Ich … keine Ahnung. Sie sagt, nein, aber ich glaub schon. Wir haben in den letzten Tagen in den Pausen in der Schule fast gar nicht geredet. Wenn wir überhaupt mal beide zusammen mit den anderen rumhingen.“
„Am Samstag wart ihr auch nicht gerade entspannt und gesprächig“, nickte ich.
„Ach fuck“, brach es mit einem mal aus Anna raus. „seit Tagen wälz ich nur das rum, ich glaube du hast recht, ich will einfach was mit meinem besten Freund machen und diese Schlampe vergessen.“
Das mit der Schlampe fand ich zwar schon krass - immerhin hatte sie ja eigentlich nix gemacht, außer zu existieren - hielt aber trotzdem die Hand hoch. Prioritätensetzung, würde mein Chef sagen.
Mit einem „Du weißt genau, dass ich das dämlich finde“, schlug Anna ein und wir gingen los in Richtung Hafen. Auf dem Weg malten wir uns aus, wie wir einen dieser zwischengeparkten Frachtkähne entern würden, wie wir es schon mal ganz unbedarft als Kinder gemacht hatten.
Als wir im alten Hafengebiet ankamen, ging grade die Sonne unter. Überall waren Pärchen. Es war auch echt ne romantische Kulisse. Ich musste daran denken, dass ich mal was von Anna wollte. Da wusste ich noch nicht, das sie lesbisch war. Naja, und sie auch nicht. Wir hatten eine drei Tage lange, total beschissene Affäre. Und danach waren wir noch bessere Freunde geworden als vorher.
Plötzlich hielt Anna an. Ich stieß volle Kanne mit dem Schienbein gegen ihr Pedal und zischte durch die Zähne vor Schmerz.
„Was ist denn los?“, fragte ich und verzog das Gesicht. Mein Schienbein pochte. Anna antwortete weder, noch bewegte sie sich. Ich folgte ihrem Blick und verstand nun: zwei Menschen kamen uns entgegen. Tascha redete fröhlich und benutzte dabei nicht nur die Arme, sondern bewegte den ganzen Körper. Neben ihr mit einem Wörterbuch in der Hand, lief Camila. Jetzt lachte sie laut, wahrscheinlich weil Tascha gerade besonders albern herumfuchtelte. Ich nahm Annas Hand.
Die beiden kamen näher. Und näher. Und immer näher. Erst als sie nur noch drei Meter von uns entfernt waren, bemerkte Tascha uns und blieb stehen. Ihre Haut wurde blasser. Vielleicht lag das aber auch nur an dem Wechsel des Sonnenlichts. Ein Audi 80 knatterte vorbei. Sollte mal bei uns in der Werkstatt vorbeischauen.
„Anna.“ Die Stimme von Tascha klang so, wie Orangensaft mit zu viel Wasser schmeckt. „Ich … also. Scheiße man, das ist nicht so wie du denkst. Ich liebe dich!“
„Fick dich.“ Annas Stimme hatte mehr Saft als Wasser, aber sie krallte sich so fest in meine Hand, dass die schon taub wurde. Ich hatte das Gefühl, Zuschauer in einem Duell auf Leben und Tod zu sein. Anna und Tascha sahen sich nur an, mein und Camilas Blick sprangen zwischen beiden hin und her. Camilas Gesicht sagte mir nichts.
Doch plötzlich öffnete sie den Mund. „Nain“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Stop das.“ Und mit entschlossenen Schritten ging sie davon.
„Warte!“, rief Tascha und lief ihr hinterher. Als sie an uns vorbeikam, zögerte sie und streckte ein bisschen die Hand aus. Was dachte die denn? Schnell senkte sie den Kopf und ging weiter. Ich schaute ihr nach und sah, wie Tascha wieder auf Camila einredete, aber diesmal ziemlich … keine Ahnung. Aufgebracht? Camila antwortete auf die selbe Art und Weise, nur ohne Arme, aber dafür mit Wörterbuch. Ich riss mich von dem Anblick los.
„Komm.“ Ich zog an Annas Arm. „Lass uns ein Schiff versenken gehen.“
Mit zusammengebissenen Zähnen nickte sie.

ANNA
Drei Bissen. Mehr hatte ich nicht geschafft, und das obwohl Honigbrötchen so ungefähr mein Lieblingsessen war. Ich trank Tee und kaute auf dem Porzellanrand herum, um wenigstens irgendwas zu machen.
Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so leer gefühlt. Fühlte es sich so an, wenn eine Liebe einen verließ? War das überhaupt Liebe gewesen, wenn sie jetzt diese Camila hatte? Mein Kopf sank auf die Knie, die Nackenmuskeln konnten ihn nicht mehr halten. Nichts. Als Tim dagewesen war, ging es noch einigermaßen. Er hatte nicht gehen wollen, doch ich hatte ihn schließlich rausgeworfen.
Kurz dachte ich darüber nach, ihn oder Liz anzurufen, doch mir fehlte die Kraft.
Ich weiß nicht, wie viele Minuten vergangen waren.
Vier verpasste Anrufe. Drei Liz, einer Tim.
Oder Stunden?
Es klingelte an der Tür.
Meine Mutter war nicht da, ich erwartete ganz sicher niemanden.
Vielleicht war es ja ein Notfall. Los, Action! Ganz langsam sickerte der Befehl von meinem Hirn in Richtung Muskeln. Ich rappelte mich auf, tappte in den Flur und schaute durch den Spion.
Ich wäre wohl zurückgezuckt, aber dafür war ich zu überrascht. Vor der Tür stand Camila.
Wie genau es passiert ist, kann ich im Nachhinein nicht mehr sagen, aber irgendwie saß ich plötzlich auf dem Sofa und Camila auf einem Stuhl. In ihren zitternden Händen hielt sie ein mehrfach gefaltetes Blatt. Nachdem sie sich zwei Mal geräuspert hatte, begann sie vorzulesen. Ich verstand so gut wie gar nichts, der Akzent war zu krass.
Camila sah erwartungsvoll auf von ihrem Papier, als hätte sie gerade die zehn Gebote zum ersten Mal vorgelesen. Scheinbar stand mir ins Gesicht geschrieben, dass ich so schlau war wie vorher, zumindest lächelte sie schief und reichte mir das Blatt Papier.
Ich musste es zwei Mal lesen, um den Inhalt aufzunehmen.
Ich will nicht, dass Sie und Tascha Kämpfe haben. Im Beginn habe ich nicht verstanden, warum Sie kämpfen, warum Sie mich nicht gern wollen. Jetzt, wenn ich es verstehe und um Verzeihung bitten will.
Ich habe Liz erzählt, dass mein Bruder in Honduras verschwunden ist. Das ist nicht wahr. Mein Bruder war im Gefängnis für eine Weile, aber das Leben und wissen, wo es ist. Ich hatte einen Freund. Die verschwunden. Eltern der Opposition waren, so wie meine. Deshalb ich hier bin. Alle hatten Angst, dass ich auch etwas mit mir geschehen. Ich habe nie ein Zeichen von ihm. Vielleicht tot, vielleicht auch nicht, wer weiß?
Mir tut so viel weh, von Jose zu erzählen, dass ich es Liz immer noch nicht erzählt habe. Und auch nicht in Tascha. Aber du sollst es wissen, damit du verstehst.
Ich bedauere es. Ich verstehe dein Schmerzen.

Ich sah auf und schluckte. „Nein, es tut mir Leid. I am sorry.“
Camila stand auf und legte kurz die Hand auf meinen Arm. „Du und ich Freundin werden.“ Es klang so, als stände dort noch ein kleines Fragezeichen und ich setzte in Gedanken ein fettes vielleicht hinter den Satz. Das schien mir nun doch ziemlich vorgegriffen.
Schritte entfernten sich,die Haustür öffnete und schloss sich und ich war wieder allein.
Camila wollte also nichts von Tascha. Zum ersten Mal fing sie an, mir ein wenig Leid zu tun. Doch trotzdem, das sagte mir nichts über Tascha. Ich hatte immer noch das Gefühl, dass da mehr war von ihr aus. Irgendwie verging wieder Zeit, ohne dass ich davon Notiz nahm. Eigentlich tat Camila mir doch nicht Leid, aber ich glaube, jetzt fing ich an, sie zu verstehen.
Ich schaute auf die Uhr. Zwölf. Morgen früh würde ich eine SMS an alle schreiben, ob wir uns nicht am Wochenende am See treffen wollen, wenn das Wetter gut ist.
Doch vorher hatte ich noch etwas anderes zu erledigen. Ich saß bestimmt noch eine halbe Stunde mit aufgeklapptem Handy auf dem Sofa, bevor ich die grüne Taste drückte. Während es tutete, überlegte ich, ob ich nicht besser wieder auflegen sollte.
„Hallo?“, meldete sich eine verschlafene Stimme.
„Hallo, Tascha.“

 

Hallo Lycai,
ich fand deine Geschichte sehr schön. Du hast das Thema der Challenge sehr gut getroffen und auch einen kontinuierlichen Spannungsbogen gehalten.
Allerdings fehlte mir am Anfang ein wenig die Erklärung, wo genau sich die Clique befindet. Das hat den Einstieg ein wenig erschwert.
Besonders an deiner Geschichte war der Wechsel zwischen den Figuren trotz der Beibehaltung der Ich-Perspektive. Ich muss ehrlich zugeben, dass mich das am Anfang mächtig verwirrt hat. Beim Lesen hatte man ein deutliches Bild von der "ich"-Person und plötzlich war sie dann jemand ganz anderes. Nach dem zweiten oder dritten Wechsel hatte ich mich dann aber daran gewöhnt und fanddiese Art der Erzählweise sehr interessant - sie hat mir trotz anfänglicher Verwirrung wirklich gut gefallen :)
Die Story an sich fand ich auch sehr schön. Obwohl das Thema Eifersucht und Liebeskummer alltägliche Probleme in der Jugend sind, hatte es durch die lesbische Beziehung mal eine andere Perspektive.
Ich bin von Anfang bis Ende an der Geschichte dran geblieben. Auch deine Sprache ist sehr schön zu lesen.
Besonders gut hat mir ja folgender Satz gefallen:

„Also wenn das für dich ne Stunde ist, dann stirbst du in drei Monaten an Altersschwäche“, rief ich ihr zu.
Ich musste schmunzeln :)
Auch den Brief am Ende fand ich prima. Ich kann mir so richtig gut vorstellen, wie Camila ihn geschrieben hat :)
Ein paar sprachliche Sachen hätte ich dennoch anzumerken:
Ich weiß nicht, ob er lebt
Besser wäre vielleicht: Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Ansonsten klingt das ein wenig abgehackt.
Das Gefühl hatte ich allerdings auch, auch wenn ich es überhaupt nicht verstand.
Das "auch" klingt hier doppelt nicht so schön: Das Gefühl hatte ich auch, obwohl ich es überhaupt nicht verstand. So hört es sich ein bisschen besser an :)
Wie schon gesagt, dass sind alles nur Kleinigkeiten, im großen und ganzen ist dein Text sprachlich sehr gut :) Auch ist die Sprache ist sehr jugendlich gehalten - passend zum Thema :)

So viel erstmal von mir. Ich hoffe, ich konnte dir etwas nützliches sagen.

Liebe Grüße,
BonnieRebekah

 

Hey Lycai,

das Positive vorweg: Die Geschichte ist sehr flüssig geschrieben, ich hatte an keiner Stelle Verständnisprobleme - ist ja bei Jugend nicht immer selbstverständlich. ;)
Was ich auch noch cool fand, war die Idee mit dem Honduras Mädchen und wie sie dann als fremdes Element da in diese Clique aufgenommen wird und behandelt wird - ich finde, du hast dafür auch die richtigen Figuren, um da ein bisschen tiefer zu gehen. Letztendlich ist es dann doch (und da kommen wir auch schon zu den Mäkelpunkten) ein eher banaler Konflikt und ein Fall für Chance verpatzt, Potential der Geschichte nicht ausgenutzt. Ich habe mir sehr gewünscht, dass du etwas mit deinen Figuren anstellst, etwas, was nicht immer in ihrer Planung aufgeht und was ihnen richtig weh tut.
Bsp. mit dieser Öko-Tussi und der Wächterin der political correctness - da habe ich erwartet, dass sie die Camila mit in ihren ganzen Organisationen nimmt und anfängt, Vorträge über Honduras zu halten, um alle Menschen in ihrer Umgebung für das Thema zu sensibilisieren, aber auch um zu zeigen, guckt mal, ich kenne ein armes, verwaistes Mädchen aus Honduras und guckt mal, ich kümmere mich um sie. Also, dass sich dieser Altruismus da in dem Moment in so einen Ego-Trip ändert und sie aber das gar nicht mitbekommt und Camila da letztendlich für irgendeine Ideologie missbraucht wird, was nicht passiert - gut. Auch egal. Dann gibt es da noch den Marc, mit dem man was machen könnte, der ein Mädchenschwarm ist und die erste Assoziation ist ja, er fängt da mit Camila was an und das endet bitterböse und es gibt ne Spaltung innerhalb der Clique oder wenigstens müsste es zwischen Liz und Marc zu Spannungen kommen.
Und Tim? Wer braucht Tim.
Und irgendwie leitest du dann dieses Eifersuchtsdrama da ein, was für mich irgendwie die Konstellation zu nichte macht.
Es gibt nämlich einige Fragen, die du dir dann beantworten müsstest, als Autorin: Warum muss Camila aus Honduras kommen, um Anna eifersüchtig zu machen, sie könnte auch genauso aus Bayern kommen. Ihr Exotenstatus wird hier überhaupt nicht bearbeitet - es kommt gelegentlich zu etwas wirren und ehrlich gesagt nichtssagenden Dialogen.
Dann gibt es den Marc - warum muss er ein Mädchenschwarm sein, wenn das für die Geschichte an sich null Bedeutung hat und wieso braucht die Geschichte überhaupt Marc? So wie die Geschichte gerade ist, bräuchtest du eigentlich nur das lesbische Paar und vielleicht einen Freund oder eine Freundin zum an-der-Schulter-ausheulen.
Tim? Hmm ja.

Ein weiterer Punkt ist natürlich der Stil - die klingen irgendwie alle gleich abgeklärt und aufgeklärt und super korrekt und überhaupt. Wenn da nicht die Namen wären, könnte ich die Figuren nicht auseinanderhalten, weder Weiblein noch Männlein. Charakterisierungen funktioniert leider nicht, in dem du jeder Figur etwas "Besonderes/Exotisches/Ausgefallenes" aufdrückst. Oder sie in eine Schublade steckst - so wie Mark, der Frauenschwarm, Tim, der Motoradfreak, Liz, die Öko-Tante, Anna und Tascha, die Lesben, Camila, die Exotin/Neue.
Ein anderer Punkt: Das was die Geschichte an dieser Öko-Figur kritisiert, dass sie nämlich spannende Diskussionen zu nichte macht, weil sie ja so super political correct ist, das macht leider die Geschichte auch mit jeglicher Spannung. Du lässt deine Figuren überhaupt nicht leiden, nichts erleben, was für den Leser spannend ist. Schön, dass es deinen Figuren körperlich und mental so gut geht - aber ob das jetzt so spannend zu lesen ist?

Wie gesagt, ich finde, es steckt viel in der Geschichte drin und du hast da noch viele Möglichkeiten die Geschichte auszubauen, etwas mit den Figuren anzustellen und ja - also vielleicht ein genereller Tipp, jede Figur, ohne die die Story erzählt werden kann, ist entbehrlich. (Na gut, ich halte mich selbst nicht daran, aber ich glaube, dass meine Figuren lesenswert sind. :D)

JoBlack

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Lycai,

ich finde das Thema Deiner Geschichte ziemlich gut. Es eignet sich auch hervorragend für die Cliquen-Challenge, weil es ja darum geht, was so ein Neuling mit einer eingespielten Gruppe macht. Das finde ich schon sehr spannend. Auch die Form, die Du Dir dazu ausgedacht hast, finde ich cool. Dieselbe Situation aus dem Erleben mehrerer Figuren zu spiegeln.
Das Problem liegt für mich allerdings so ein bisschen in der Ungleichgewichtung. Die eigentlich Königsperspektive, also Königinnenperspektive ist nämlich die von Anna, weil sich für Anna mit dem Neuling am meisten ändert. Und auch wenn da von Tim aus erzählt wird, geht es eigentlich darum, wie Anna sich fühlt. Im Grunde ist das auch etwas ungeschickt, den größten Schockmoment für Anna von einem Außenstehenden erzählen zu lassen. Das schafft auch für den Leser Distanz.
Also ich sehe zwei mögliche Wege für den Text. Entweder entscheidest Du Dich konsequent für Annas Perspektive und diese Eifersuchtsgeschichte, die ja später sehr spannend aufgelöst wird, oder Du entscheidest Dich konsequent für die wechselnde Perspektive. In letzterem Fall müsstest Du Dir dann aber auch Gedanken machen, was das Auftauchen des Neulings mit jedem einzelnen Cliquenmitglied und mit der Gruppe als Ganzes macht. Das wär auf jeden Fall das sehr viel anspruchsvollere und damit auch risikoreichere Schreibprojekt. Im Moment ist es ja so, dass es sich nicht richtig lohnt, einen Abschnitt mit Marcs Perspektive zu schreiben, weil der einfach nicht so involviert ist, sich höchstens auch noch Gedanken um Anna machen würde. Wenn der sein eigenes Ding mit Camila hätte, weil er auch spitz auf sie ist, auf Körper und Seele womöglich, und das nicht in seinen Lifestyle einpassen kann, oder wenn er Liz heiß fände, die jetzt aber ständig mit Camila rumhängt, hätte er als Figur mehr Daseinsberechtigung und das Gruppenthema würde noch deutlicher rauskommen. So steht er etwas verloren am Rande. Und selbst Liz, die ja mehrfach Perspektivträgerin wird, hat eigentlich nicht so ne spannende Geschichte mit Camila am laufen - sie findet sie einfach nett, es macht ja eigentlich nicht viel mit ihr. Dafür stel ich mir den Blick von Tascha, die gar nicht zu Wort kommt, echt spannend vor. Vielleicht steht sie ja gar nicht auf Camila sondern hat ganz andere Faszinazionsgründe und wenn man in ihren Kopf reingucken könnte, könnte man den Kontrast der Wahrnehmungen zwischen ihr und Anna ganz spannungsreich ausgestalten.
Also wie gesagt, ich find die Grundkonstellation sehr gut gewählt und den Ansatz des Perspektivwechsels sehr vielversprechend, aber der macht eigentlich nur Sinn, wenn sich die Perspektiven ziemlich deutlich kontrastieren und jede für sich spannend und mit eigenem Konflikt ist. Und ich denke, eine Figur, deren Perspektive in diesem Handlungszusammenhang noch nicht interessant genug ist (wie Marc), müsste entweder ausgebaut oder abgeschafft werden. Also ich glaub, ich hau da im Grunde in dieselbe Kerbe wie Jo. Es muss mehr passieren mit jeder einzelnen Figur.
Was mir abgesehen davon noch durch den Kopf ging: Wie reagiert eigentlich ein Mädchen aus Hoduras auf ein lesbisches Pärchen? Du entwirfst ja hier eine sehr aufgeklärt-liberale Welt, in der Diskriminierung nicht mal in Form von blöden Sprüchen existiert. Da wäre es doch mal spannend, eine Figur hineinzuwerfen, für die diese Gleichberechtigung nicht so selbstverständlich ist. Ich verstehe schon, dass Du das lesbische Paar hier wie jedes andere Paar behandeln möchtest, aber irgendwie ist es dann halt auch egal, dass es ein lesbisches Paar ist und man könnte dieselbe Eifersuchtsgeschichte mit einem Hetero-Paar erzählen. Also ich wünsch mir natürlich eine Welt, in der sowas keinen Unterschied macht, aber ist das heute echt schon so unkompliziert, gerade in dem Alter?

Ich hab die Geschichte aber auf jeden Fall gerne gelesen.

lg,
fiz

 

Hallo Bonnie,
schön, dass dir meine Geschichte gefallen hat. :)
Gerade stecke ich in einer Art Groß-Überarbeitung, da werde ich auf jeden Fall deine sprachlichen Tipps einfließen lassen und auch deutlicher machen, wo die erste Szene spielt.
Danke!

Hallo Jo,
als ich im Kopf angefangen hatte, die Geschichte zu entwerfen, lag der Fokus viel stärker auf der Frage "Wie geht die Gruppe als ganzes und die einzelnen Mitglieder mit Camila und der Situation um?", während des Schreibens hatten sich dann aber Anna und Tascha ziemlich in den Mittelpunkt gedrängt. Ich glaube, das hat dazu geführt, dass die anderen Figuren in den Hintergrund gerückt wurden und ein bisschen ihre Berechtigung verloren haben. War mir gar nicht so sehr aufgefallen, aber du hast damit schon recht.
Was die einzelnen Charaktere angeht: scheinbar kommen diese nicht differenziert genug heraus. Ich selbst sehe sehr wohl einen Unterschied z.B. in der Art wie sie reden und beispielsweise Marc ist überhaupt kein typischer Frauenschwarm. Aber es nützt reichlich wenig, wenn ich das für mich weiß, wenn es scheinbar nicht so richtig rauskommt. Die Idee, dass Marc etwas mit Camila anfängt, finde ich übrigens sehr interessant. So, wie die Figuren im Moment (zumindest für mich) angelegt sind, ergäbe das nur begrenzt Sinn, aber ich muss nicht viel umtauschen, damit das passt. Kommt auf jeden Fall in die Überarbeitung mit rein.

Hallo fiz,
ja, deine sehr berechtigte Kritik geht in Richtung Jo. Ich stecke gerade in einer Generalüberholung der Geschichte und hatte mich noch nicht endgültig entschieden, ob ich die verschiedenen Perspektiven eher etwas reduziere oder ausweite. Nachdem ich jetzt deinen Kommentar gelesen habe, istmeine Entscheidung aber klar - alle müssen zu Wort kommen. :)
Denn ich will gerade nicht nur das Eifersuchtsdrama beschreiben, sondern die Geschichte der ganzen Gruppe erzählen und jedem seinen Raum geben. Das ist im Moment besonders bei Tim und Marc noch nicht der Fall. Tascha steht übrigens tatsächlich nicht auf Camila, das wird nur durch Annas Wahrnehmung verzerrt. Allerdings nehme ich dem Leser gerade die Möglichkeit, das ganze objektiver sehen zu können - noch ein weiterer Grund dafür, aus der Sicht von allen zu erzählen.

Es wäre sicher interessant, auch Camilas Sicht auf diese Dinge zu erfahren, allerdings ist das für mich nicht Teil der Geschichte. Camila selbst treibt die Handlung nicht aktiv voran, sondern ist einfach da, und obwohl sie nichts weiter macht, bringt sie das ganze eingespielte Cliquengefüge auseinander.
Abgesehen davon bin ich hier in Costa Rica anfangs überrascht gewesen, dass besonders Jugendliche (bei weitem nicht alle, natürlich) das schwul/lesbisch-sein eher locker sehen. Allerdings besteht vermutlich noch einmal ein Unterschied zwischen Costa Rica und Honduras.


Danke an euch drei für eure Kommentare, sie haben mich ziemlich weitergebracht.

 

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