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Calo und das verlorene Glück
Die Großmutter kroch langsam aus der gemeinsamen Wohnhöhle und streckte ihre gichtigen Stielaugen dem einsamen Licht, da hoch droben am Weltengewölbe, entgegen. Leise und unverständlich brabbelte sie vor sich hin.
Mit ihrem vierten Bein blieb sie an dem Familienstein am Höhlenausgang hängen und zappelte vergeblich wie wild, doch schließlich stieß sie sich mühsam mit ihrem Sprungschwanz ab - trotz ihres hohen Alters hatte dieser noch nichts von seiner Kraft verloren - und verschwand trippelnd in der Dunkelheit.
Calo dämmerte friedlich vor sich hin, dann blickte er müde auf und erschrak, als er die Abwesenheit seiner Oma bemerkte. Das würde Ärger geben, er sollte doch auf sie aufpassen. Lustlos schälte er sich aus seiner Schlafschaukel und trampelte lautstark zwischen den Felswänden hin und her.
Von der Großmutter war nichts zu entdecken, doch seine neugeborene Nistschwester, beschwerte sich verärgert über die unzeitgemäße Störung ihres Tiefschlafes und fing lautstark an zu greinen.
Das würde noch mehr Ärger geben, wenn die Muta jetzt zurückkäme. Eilig ließ Calo kleine Felsbrocken auf seine winzige Nistschwester herabfallen, bis diese schließlich fröhlich lachte und glucksend ein paar der größeren Steine zerbiss.
Calo schenkte ihr, mit Bedauern, noch einen großen summenden Leuchtkäfer, der unverantwortlich leichtsinnig, ganz nahe an ihm vorübergeflogen war - eigentlich wollte er ihn lieber selber essen - doch seine Schwester schlürfte den Käfer schon schmatzend ein und rülpste zufrieden. Dann rollte sie auch schon wieder ihre Stielaugen ein und begann friedlich zu schnarchen.
Erleichtert setzte Calo seine Suche nach der Großmutter fort, doch diesmal etwas leiser. Schließlich kam er nicht darum herum zu erkennen, das Oma nicht mehr in der Höhle war. Das war schlimm und er würde noch mehr Ärger bekommen. Es sei denn, das es niemand erfuhr. Er musste die Oma wiederfinden.
Sein Kopfherz klopfte heftig, als der Junge über diese schwierigen Dinge nachdachte und als Calo dann unüberlegt aus der Höhle rannte, begann auch noch sein Brustherz heftig zu hämmern. Der Junge bekam Seitenstechen und nahm das Letztere schließlich verärgert heraus, das ihm solchen Ärger bereitete. Doch das war keine gute Idee und es wurde nur noch schlimmer. Schnell setzte er es wieder ein.
Die Großmutter war nicht zum ersten Mal verschwunden. Calo erinnerte sich genau, dass sie dauernd über den Verlust ihres Zweithirns jammerte und es ständig überall suchte. Und es war auch für die Familienhorde sehr betrüblich, das sie es nicht mehr hatte, denn die Oma erinnerte sich an nichts und war keine große Hilfe bei den täglichen Verrichtungen.
Calo erinnerte sich an die Geschichten aus alten Zeiten, die ihm Vata und Muta oft erzählt hatten, als er noch kleiner war. Früher hatte GORD auf sie aufgepasst, da musste niemand befürchten etwas zu verlieren, denn dieser wusste immer, wo alles war. Aber dann war GORD trübselig geworden und hatte etwas von Selbstbestimmung und Datenschutz erzählt - Calo hatte nie verstanden, was das eigentlich war - dann hatte GORD sich abgeschaltet und seitdem vermissten sie alle möglichen Dinge.
Er musste unbedingt die Oma wiederfinden, bevor die Familienhorde zurückkam, denn sonst würde er einen riesigen Rüffel bekommen. Doch er hatte schon eine Idee, wie er das anstellen sollte. Seine Großmutter lief häufig an ihre Lieblingsstelle und tatstächlich hatte er dort schon Glück.
Als Großvater gestorben war, wurde die Oma immer einsamer und schließlich wollte sie ihre Trauer nicht mehr länger ertragen. Deshalb versteckte sie ihr Zweithirn an dem Platz, an dem sie ihren Ehemann geheiratet hatte. Seitdem ruhte es dort vergessen in einer Felsspalte.
Nun erinnerte sich Großmutter tatsächlich nicht mehr an ihren Gemahl, doch sie wusste, dass etwas verloren war, wollte es wiederhaben und suchte seitdem unentwegt danach.
Niemand wusste etwas von dem Versteck und so konnte ihr niemand helfen. Doch wenigstens hatte Calo jetzt seine Oma wiedergefunden. Doch leider stolperte er in seiner Hast, sein Kopfherz wackelte und sein Brustherz polterte, am schlimmsten aber war, das ihm sein Zweithirn herausfiel, als er über seine Großmutter stolperte.
Nun saßen die Oma und Calo einträchtig nebeneinander und betrachteten das Himmelslicht, so lange, bis es langsam herabsank und sich immer rötlicher färbte. Schließlich fiel es irgendwo in die Tiefe und es wurde angenehm dunkel, fast so wie in ihrer heimatlichen Höhle. Von irgendwelchem Ärger ahnten sie nichts.
Doch schließlich wurde ihre angenehme Zweisamkeit unangenehm gestört. Ihre Familienhorde hatte die verlorenen Ausreißer endlich entdeckt. Vata und Muta näherten sich Calo und seiner Oma besonders eilig, betasteten diese gründlich und versuchten mit ihnen zu sprechen. Jedoch keiner der beiden reagierte darauf.
Da fiel Muta ein Glitzern in einer Felsspalte auf und sie fand das Verlorene zwischen zwei Steinen. Da lagen doch tatsächlich die Zweithirne von Calo und seiner Oma. Sie reichte sie triumphierend dem Vata .Dieser steckte sie freudestrahlend in die zugehörigen Hautfalten der Unglücklichen und schon regten sich die Zwei.
Nach vielen Jahren hatte die Großmutter endlich ihren Verstand wieder.
Da bekam Calo schon eine Kopfnuss: „Au“, schrie er empört. Jetzt hatte er sein Zweithirn wieder und wusste, wofür die Strafe war. Doch war es vorher nicht besser gewesen?
Die Familie zog sich ruhebedürftig in ihre Höhle zurück.
Der Vata polierte liebevoll die Glatze seiner Großmutter mit Erdöl, während die Muta lächelnd kleine Felsbrocken darauf warf. Die kleine Nistschwester sprang fröhlich den spritzenden Öltropfen hinterher und Calo freute sich über seine zufriedene kleine Familie.
Für diesen Tag war ihr Abenteuer jedenfalls unbeschwert beendet.