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Callcenter

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19.03.2003
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Dienstag Abend, 22.00 Uhr. Udo Meester hatte kaum den Monitor eingeschaltet, als ihm auf dem Bildschirm der erste Anruf signalisiert wurde. Er nahm das Gespräch entgegen. Eine Reklamation. Geduldig hörte er sich die Beschwerde an, versicherte, sich um einen Umtausch zu kümmern und wünschte noch einen schönen Abend. Kurz darauf der nächste Anruf. Wieder eine Beanstandung. Udo blieb freundlich, versprach sein Bestes zu tun und legte auf. Alltag in einem Call Center. Ihm gefiel die Arbeit. Je näher der Uhrzeiger auf Mitternacht vorrückte, um so ruhiger wurde es. In der Nachtschicht war nur ein Drittel der Arbeitsplätze besetzt. Die Monitore schimmerten grünlich im dämmerigen Licht. Wie exotische Fische in einem Aquarium. Es war Udos liebste Arbeitszeit. Gleich einer Eule durchlebte er wachsam die Nächte. Seine Kunden waren wie er. Menschen, die nachts nicht schlafen konnten oder arbeiten mußten. Er war für einen Versandhandel tätig, der Kleidung aus natürlichen Materialien vertrieb. Damit konnte er sich identifizieren und verkaufte die Sachen auch gern, obwohl die Arbeitsbedingungen teilweise ziemlich mies waren. Der Streß tagsüber war manchmal enorm, die Pausen zu kurz und die Bezahlung hätte besser sein können. Aber er mußte froh sein, daß er überhaupt einen Job hatte.
Gegen 23.00 Uhr rief sie das erste Mal an. Die Stimme fiel ihm sofort auf. Zwischen all den kratzigen, bollernden, piepsigen und quietschenden Organen war sie eine Wohltat, die ihn die erste leichte Müdigkeit des Abends vergessen lies. Sie bestellte einen Rock und einen Pullover. Wohnte in Karlshöfen, geboren am 17.Juli 1970, 172 Meter groß, Lieblingsfarbe Braun,
Konfektionsgröße 40. Nach 5 Minuten wußte er mehr über sie, als mancher Ehemann in einem ganzen Eheleben über seine Frau weiß. Wenn sie vor ihm gestanden hätte, wäre es wahrscheinlich Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber so konnte er sich nur von ihrer Stimme faszinieren lassen. Als er das Gespräch beendete, schwang sie noch eine Weile in ihm nach, wohltuend warm.

Am nächsten Tag wurde er gegen 12.00 Uhr wach. Nach einer Nachtschicht brauchte er nie viel Schlaf und hatte meist mittags ausgeschlafen. Als er aufstand, befand er sich in einer aufgekratzten Stimmung, die er sich nicht erklären konnte. Er vertrödelte den Rest des Tages und machte sich gegen Abend wieder auf ins Center.
Sie rief um 22.00 Uhr an. Als er ihre Stimme hörte, wußte er mit einem Schlag, worauf er den ganzen Tag gewartet hatte. Sein Herz machte einen Satz. Könne er sich noch an sie erinnern? Und ob, dachte Udo. Sie hätte gestern etwas vergessen zu bestellen, ob er noch etwas hinzufügen könnte. Es war nicht leicht, zu ihm durchzukommen, aber eine sehr nette Kollegin, habe ihr geholfen. verriet sie ihm. Frauenpower, hörte er sie lachen. Ihre Stimme berauschte ihn. Seit über einem Jahr arbeitete er schon als Call Agent, aber zum ersten Mal war er von einer Stimme gefesselt. Für einen Moment war er sprachlos, bis er endlich nach ihren Wünschen fragte. Sie hätte gern noch eine Hose. Udo hatte sich wieder gefangen. Das sei kein Problem, erwiderte er ihr. Jetzt war er wieder ganz der Alte. Lachte, plauderte mit ihr, dessen ungeachtet, ob das Gespräch aufgezeichnet wurde und ihm der Teamleiter die Hölle heiß machen würde. Sie war auch so eine Nachteule wie er. Arbeitete bei einem Rundfunksender und hatte zwischendurch immer mal wieder Zeit zu telefonieren. Plötzlich mußte sie auflegen, weil irgendeine rote Lampe aufleuchtete und sie ein paar Knöpfe drücken müßte, wie sie ihm noch schnell erklärte. Udo konnte ihr gerade noch einen schönen Abend wünschen, dann war sie weg. Den nächsten Anruf nahm er kaum wahr. Irgendeine blöde Reklamation. Er wußte, als das Gespräch beendet war, kaum noch, ob er alles richtig in den Computer eingeben hatte. Die Nacht verging wie ein Traum. Er wollte nicht mehr daraus aufwachen und hatte ihre Stimme noch im Ohr, als er das Licht neben seinem Bett löschte und einschlief.

Der Tag ging nicht vorüber und zum erstenmal konnte er es nicht erwarten, endlich wieder zu arbeiten. Natürlich rief sie wieder an, und auch in der nächsten Woche. Sie fanden Gemeinsamkeiten heraus, die bis jetzt ihr Leben beeinflußt hatten, stellten fest, daß sie die gleichen Bücher lasen und für Vivaldi schwärmten. Udo hatte das Gefühl, nur noch für diese Nächte zu leben, bis dann der Moment kam, vor dem er sich am meisten fürchtete. Sie wollte ihn sehen. Er hatte Angst vor diesem Moment und sehnte ihn doch auch herbei. Sie hatten sich für den nächsten Nachmittag verabredet. Irgendwo draußen sitzen, Kaffe trinken, Kuchen essen und das tun, was sie bis jetzt immer getan hatten, zusammen reden. Die Nacht davor nahm kein Ende. Er fand keinen Schlaf, wälzte sich herum und als er endlich einschlief, wachte er kurze Zeit später schweißgebadet auf. Es ging nicht. Sich mit ihr am Telefon zu unterhalten, zu lachen und wenn es sein mußte auch zu weinen war eine Sache. Ihr aber gegenüber zu sitzen, ohne die trennende und zugleich schützende Entfernung, war etwas anderes.
Der Tag danach zeigte sich von seiner besten Seite. Strahlender Sonnenschein, auf der Terrasse des Lokals überall lachende Gesichter, während Udo in seinem Wagen saß und sein Herz bis zum Hals klopfte. Dann kam sie und sie war schön. Er wußte genau, daß sie es war. Groß, das dunkle Haar zum Zopf geflochten, das Gesicht mit slawischen Zügen. Ein Gesicht, das zu ihrer Stimme paßte. Eine Frau ,die wußte, was sie wollte. Sie blickte sich um und setzte sich dann an einer der freien Tische. Udo sah noch einmal zu ihr hinüber, dann fuhr er weg.

Ärger, Zorn und wahnsinnige Wut über sich selbst, dann jämmerliches Selbstmitleid, verbunden mit unsäglichem Haß auf den Rest der Welt, zuletzt Verbitterung, die sich in Resignation flüchtete , all das durchraste in den folgenden Stunden sein Gehirn und sein Herz. Er hätte bei ihr anrufen und irgendeine Erklärung für sein Fortbleiben geben können. Aber das würde sie ihm nicht abnehmen, so gut kannte er sie inzwischen.
Natürlich würde sie nicht mehr anrufen. Er schlich zur Arbeit, schaltete mechanisch den Monitor an, hörte sich Beschwerden und Bestellungen an, bis auf einmal ihr vertrautes „Hallo“ da war. Sie wollte keine Erklärungen hören, Udo versuchte aber zumindest, ihr zu sagen, daß es ihm leid täte. Das könne sie annehmen, erwiderte sie ihm lachend. Leider hätte sie im Moment wenig Zeit, da im Sender viel zu tun sei, aber sie würde sich schon sehr freuen, ihn zu sehen. Das wünsche er sich auch, sagte er, bevor er auflegte, und diesmal kam es bei ihm von ganzem Herzen. Aber war er sich wirklich sicher? In der Dämmerung des Großraumbüros verschwanden die grauen Konturen, als er sich für einen Augenblick zurück lehnte und seinen Gedanken nachhing. Für einen Moment war es still, keine Gespräche, nur das leise Brummen der Klimaanlage, die die Hitze aussperrte. Er nahm dies als ein Zeichen, sich zu besinnen, an sich zu glauben und er nahm seinen Schreibblock und fing an zu schreiben.

Die Nachtschicht war gegen sechs zu Ende. Er faltete fünf eng beschriebene Seiten zusammen und steckte sie in einen Umschlag. Auf dem Nachhauseweg war ein Briefkasten und er war sich sicher, daß sie nicht wieder anrufen würde.
Die frühe Morgensonne blendete ihn, als er aus dem Haus kam.. Es würde wieder ein schöner Tag werden, dachte er, da rief jemand seinen Namen. Ihm blieb das Herz stehen, als sie auf ihn zuging. Was er denn von einem Frühstück halten würde, fragte sie ihn. Sie
hätte schon alles fertig, es fehlten nur noch die Brötchen. Außerdem wohne sie im Erdgeschoß, da hätte er mit seinem Rollstuhl doch keine Probleme. Oder?

 

Hallo Tango,

diese Geschichte hat mir supergut gefallen! :thumbsup:

Naja, erstmal: herzlich willkommen auf kurzgeschichten.de! :)

Dein Einstand hier ist schon mal gelungen. Habe an deiner Geschichte nichts auszusetzen, sie liest sich flüssig und glatt runter und erzeugt eine schöne Stimmung. So richtig viel passiert nicht in dieser Geschichte, aber das ist kein Fehler, sondern soll nur eine kleine Aufmunterung sein, vielleicht mal etwas Handlungsreicheres zu erzählen.
Das trau ich dir nämlich zu.:)

Ein kleiner Fehler hat sich noch eingeschlichen:
"Sie ruf um 22.00 Uhr an"


Lieben Gruss
lakita

 

also ich finds noch besser als lakita - *smile*..

hallo tango,

ja, sehr schöne geschichte..fand sie sehr flüssig, romantisch ohne kitsch...etwas von der stimmung von franky und johnny - weiß auch nicht warum, wahrscheinlich wegen der atmosphäre des call-centers.. als bekennder feind des happy ends, hätte ich den hier sogar akzptieren können.. mit der "pointe" finde ich sie noch viel stärker..

glückwunsch...sehr rund und gut..

grüße, streicher

 

Hi,
vielen Dank für die Komplimente. Tut gut!!
Liebe Grüße
Tango

 

Hi Tango,

hat mir auch gut gefallen. Einfach, unspektakulär und doch so treffend und liebenswert.

Grüße
Visualizer

 

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