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Caldera
Xaver beobachtete eine Fliege auf dem alten Papier. Sie war auf der Tastatur der mechanischen Schreibmaschine gelandet und dann über die Typen auf die Walze gekrabbelt, wo sie jetzt hektisch am Papier schnüffelte. Oder was auch immer diese Biester mit ihren Rüsseln machten. Er hasste Fliegen. Er hasste dieses Gewitterwetter, mit den schwefelgelben Wolken. Und dieses Kaff am Rande des Yellowstone.
Aber vor allem hasste er sich selbst und diese alte mechanische Reiseschreibmaschine, die sein Urgroßvater damals bei der Flucht nach Amerika mitgenommen hatte. Sie war der Grund, warum er Reporter geworden war. Sie war der Grund, warum er jetzt in diesem Kaff saß und keine verdammte Ahnung hatte, was er schreiben sollte. Er hatte so sehr berühmt werden wollen. Aber jetzt war er am Ende. Am liebsten hätte er die Maschine mitsamt der Fliege vom Tisch gefegt. Du bist jämmerlich. Der Gedanke kam ungebeten, aber er hing in seinem Kopf, wie an einer dieser klebrigen Fliegenfallen.
Was er gestern Abend geschrieben hatte, war auch jämmerlich. Aber was sollte man schreiben über eine Welt, die verrückt geworden war?
„Fahr nach Yellowstone!“, hatte Malcom gesagt. „Wir brauchen einen Bericht über die Beben.“ Er hatte Xaver mit den Augen fixiert, um seine Entscheidung zu unterstreichen. Das hatte er in irgendeinem bescheuerten Seminar für angehende Chefredakteure gelernt. Im Grunde genommen hatte er lächerlich ausgesehen. ‚Durchdringender‘ Blick, weißes Leinenhemd und diese geknöpften Hippster-Hosenträger. Xaver hatte trotzdem keine Wahl gehabt und das wussten sie beide. Seine letzten Artikel waren einfach schlecht gewesen und so saß er jetzt im Buffalo Inn. Was für ein Name. Bei der Online-Buchung hatte das toll geklungen. So richtig nach Western und Cowboy-Romantik. Und nur fünf Minuten vom berühmten ‚Old Faithfull‘ und dem ‚Grand Geyser‘ entfernt. Drauf geschissen. Die Realität war ein flacher, liebloser Bau aus den 80ern. Das letzte Beben hatte seine Spuren hinterlassen. Schräg über die vorher schon schäbige Fassade verlief ein handbreiter Riss. Nur noch die Zimmer im rechten Flügel waren überhaupt bewohnbar. Den Rest hatte die örtliche Feuerwehr gesperrt. Die Touristen waren fast alle weg.
Zum Geysir traute sich keiner mehr. Xaver hatte die Leichen gesehen, die sie gestern Abend zu den Wagen getragen hatten. Schwarze, unauffällige SUVs. Der Schriftzug ‚Coroner‘ abgeklebt. Wen wollen die täuschen? Als ob noch irgendjemand die Märchen glaubte, die der Gouverneur heute Morgen im Radio verkündet hatte. Der Yellowstone war nicht mehr sicher. Das wussten alle. Pete von der NY Post hatte ihm Bilder der Leichen gezeigt. So etwas hatte er noch nie aus der Nähe gesehen. Völlig verbrannte Haut, rosa mit schwarz gemischt. Xaver rieb sich über die Augen im vergeblichen Versuch, die Bilder loszuwerden. Er dachte an das Ribb Eye Steak vom Vorabend und die Übelkeit kam so heftig, dass er nur noch bis zum Papierkorb kam, bevor sein Magen zum dritten oder vierten Mal an diesem Morgen Galle spuckte.
Danach lag er erschöpft auf dem Boden, hielt sich den schmerzenden Magen und versuchte, sich wieder zu sammeln. Scheiß auf Malcom, diesen blöden Hippster. Scheiß auf meinen Job. Ich muss hier weg. Er würde noch genau den einen Artikel absenden, den er gestern Abend geschrieben hatte, auch wenn es wieder einmal schlecht geschriebener Mist war. Mit der reißerischen Überschrift und den Ausschnitten aus dem Interview: „Caldera kurz vor dem Bersten! Breaking News aus dem Yellowstone.“ Bis vorgestern hatte er überhaupt nicht gewusst, was eine ‚Caldera‘ ist. Der Info-Teil des Artikels war das einzig Gute. Supervulkane wie der Yellowstone hinterlassen keinen Vulkankegel sondern eine riesige Senke, die Caldera. Xaver erinnerte sich an den alten Katastrophenfilm „Dantes Peak“. Am Schluss war der alte Vulkan in einer riesigen Aschewolke in die Luft geflogen. Wenn die Caldera explodierte, würde genau das auch passieren, hatte der Experte erklärt. Nur in einem unvorstellbar größeren Ausmaß. Der Rest des Artikels war nicht gut. Ich werde eh keine Auszeichnungen mehr kriegen. Ich bin ein lausiger Reporter. Was für ein verschwendetes Leben. Er schnappte sich seinen Laptop, checkte kurz die Verbindung, loggte sich ein und schickte den Artikel weg.
Die Tasche war die ganze Nacht gepackt gewesen. Er hatte die kleineren Nachbeben in der Nacht gespürt und kaum geschlafen. Hektisch stopfte er den Laptop in seinen Rucksack. Er zögerte kurz, packte dann auch die Schreibmaschine ein. Warum hänge ich so an diesem Ding?
Dann kam wieder ein Beben. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, sie eher zu hören als zu spüren. Meistens wie ein Knall, manchmal auch ein tiefes Grollen. Die Ohren sind empfindlicher als die Füße. Diese hier spürte er durch die Füße bis in den Bauch. Xaver hielt sich am Türrahmen fest. Er hatte mal gelesen, dass bei einem Erdbeben unter einem Türsturz der sicherste Platz sei. Hoffentlich stimmt das. Halbwissen kann tödlich sein. Das klang wie ein schlechter Online-Artikel. Irgendwo sprangen Fensterscheiben mit einem nervtötenden Klirren. Aber das Gebäude schien zu halten. Als die Erschütterungen abklangen, rannte er los in Richtung Ausgang.
Die Rezeption lag verwaist da. Xaver schaute sich um. Niemand zu sehen. Keine Zeit zu warten. Er nahm zwei Fünfziger aus dem Portemonnaie und klemmte beides mit seiner Visitenkarte unter die altmodische Glocke auf dem Tresen. Das muss reichen. Er drehte sich um, schnappte seine Reisetasche und drängte sich so schnell wie möglich durch die Drehtür.
Der Parkplatz war leer bis auf drei Autos. Die meisten Gäste waren schon heute Nacht geflohen. Der eine war der kleine Smart, den er gestern gemietet hatte. Ein lächerliches Auto für den Yellowstone, aber alle anderen waren längst weg gewesen. Daneben stand eine Familie bei einem Grand Cherokee. Der Vater beugte sich über die offene Motorhaube und versuchte, den Wagen zu reparieren. In einer Hand hielt er eine offene Wasserflasche, mit der anderen versuchte er, den Kühlerdeckel aufzuschrauben. Zwischen den Vorderrädern glitzerte eine ölige Wasserlache in allen Regenbogenfarben. Die Schönheit in der Katastrophe. Mein Hirn hat einen kranken Humor.
Die Mutter versuchte, zwei Mädchen zu trösten. Eine klammerte sich an ihren Oberschenkel, das Gesicht fest an Mamas Bein gepresst. Das andere stand neben ihr. Mit einer Hand zog es an Mamas Jacke, in der anderen hing verloren ein verblichener Teddybär. „Ich will nach Hause, Mama.“ Über ihre Wangen liefen Tränen. Die großen blauen Augen unter den rot-blonden Locken versetzten Xaver ein Stich. So hätten seine Kinder aussehen können. Wenn ich meine Ehe nicht versaut hätte. Seine Frau war das einzige Gute in seinem Leben gewesen, seit er in die Staaten gekommen war. Und selbst jetzt, nach fünf Jahren, schmerzte die Trennung immer noch.
„Michael“, fragte die Frau. „Können wir los?“
„Gleich Sarah.“ Die Antwort klang fahrig. „Der Kühler ist schon wieder fast leer.“
Xaver ließ seine Taschen fallen. „Sir!“, rief er. „Um das Gebäude herum ist eine Zapfsäule. Da gibt es Wasser.“ Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern rannte los. Direkt hinter der Hausecke fand er zwei volle Kannen und lief zurück, so schnell er konnte. Dabei blickte er unwillkürlich in Richtung See. Er lag unter einer dünnen Nebeldecke, darüber zogen einzelne dünne Schwaden, ein mystischer, friedlicher Anblick. Hinter dem See – genau zwischen Silvertip Peak und Avalanche Peak – ging gerade die Sonne auf. Sie kämpfte sich mühsam zwischen dicken Wolken hindurch und tauchte den Nebel in ein fahlgelbes Licht. Der Schwefelgeruch war wieder stärker, fast schon beißend.
Xaver unterdrückte einen Fluch, riss sich von dem Anblick los und steuerte direkt auf die Familie und den SUV zu. Der Vater hatte inzwischen den Kühler geöffnet. Die Wasserflasche war schon leer. Xaver reichte ihm die erste Kanne und der Inhalt verschwand vollständig im Kühler. Unter dem Motor bildeten sich neue Tropfen. „Nehmen Sie die zweite Kanne mit. Und dann nichts wie weg hier.“ Xaver deutet nach hinten. „Im Yellowstone Lake ist schon wieder Schwefel ausgetreten. Geben Sie Gas!“
„Und Sie?“, fragte Sarah.
Xaver zog den Schlüssel aus seiner Jacke und deutet auf den Smart. „Ich bin auch gleich weg.“
Sie schaute fragend zwischen Xaver und dem Smart hin und her, zuckte dann mit den Schultern. „Danke und viel Glück.“ sagte sie.
Der Vater hob gerade das zweite Kind in seinen Autositz und schloss den Gurt. „Danke, Mann.“
Xaver grinste sein schräges Grinsen. „Gerne. Meine letzte gute Tat ist lange her.“ Mit einem angedeuteten Pfadfinder-Salut wandte er sich um, schloss den Smart auf und warf Tasche und Rucksack auf den Beifahrersitz. Der Kofferraum verdiente den Namen nicht einmal. Als er sich hinter den Fahrersitz geklemmt hatte, sah er, wie der SUV Fahrt aufnahm. Offenbar trat Michael das Gaspedal bis zum Anschlag durch, denn der Wagen bog driftend auf die Straße ein. Die Räder drehten durch und spritzten Kies.
Xaver nahm sich ein Beispiel und gab Gas. Der Smart war gnadenlos ungeeignet für solche Aktionen, aber endlich kam er von diesem Hotel-Parkplatz weg. Und aus dieser ganzen verfluchten Gegend.
Zehn Minuten später war er auf der Route 191 in Richtung Süden unterwegs. Er passierte die Lewis Falls ohne anzuhalten. Das hier war nicht die Zeit für Sehenswürdigkeiten, egal wie spektakulär sie waren. Auf der Straße war niemand zu sehen, die meisten waren längst weg. Noch 10 Meilen bis zum Südausgang des Parks. Xaver biss die Zähne zusammen. Wenn der Experte im Interview recht hatte, dann erstreckte sich die eigentliche Caldera deutlich über die Grenzen des Nationalparks hinaus und umfasste insgesamt über 1300 Quadratmeilen. Beim Anstieg zu Lewis Ridge wurde der alte Smart merklich langsamer und Xaver fluchte leise vor sich hin. Erst nach der Passhöhe zog der Wagen wieder besser durch. Von hier an ging es nur noch bergab, vielleicht hatte er noch eine Chance. Mach Dir nichts vor. Niemand wird Dich vermissen. Malcom würde die Gelegenheit nutzen und einen flammenden Artikel über die Disziplin und journalistische Leidenschaft seines Teams schreiben und das wäre es gewesen. Heather wird nicht einmal merken, wenn ich hier sterbe. Wieder so ein klebriger Gedanke, der einen bitteren Geschmack in seiner Kehle hinterließ.
Dennoch prügelte er den Smart durch die engen Kurven, ein Teil von ihm wollte immer noch hier weg. Dadurch wäre er nach der nächsten Kurve beinahe in den schwarzen Grand Cherokee gerast, der am Straßenrand stand. Xaver trat auf die Bremse, der Smart blieb schlitternd vor dem SUV stehen. Über der Motorhaube verflog eine kleine Dampfwolke. Kaum sichtbar, aber mit tödlichen Konsequenzen. Der ist hin. Er hatte immer ein Faible für Autos gehabt und wusste, was hier passiert sein musste. Wenn der Kühler leer ist, dauert es nicht mehr lange bis zum Motorschaden.
Xaver schaute auf den Grand Cherokee und auf seinen Beifahrersitz. Und plötzlich wurde es ruhig in seinem Inneren. Er lächelte. Dann stieg er aus, rannte um den Smart herum und riss die beiden Taschen vom Beifahrersitz. Achtlos ließ er sie an den Straßenrand fallen. „Los, kommt her!“, schrie er.
Die Mutter, Sarah, stand neben dem Wagen und kam jetzt langsam auf ihn zu. In ihrem Blick mischten sich Verzweiflung und Angst mit Unverständnis.
„Nehmt den Smart! Die Kinder auf den Schoß, dann passt ihr alle rein.“ Er schob die Frau auf den Beifahrersitz und hob ihr die größere der beiden Mädchen auf den Schoß.
Michael war näher gekommen. Er wirkte verwirrt. „Und was ist mit Dir?“
Xaver schob ihn zur Fahrertür. Die Kleine mit den blauen Augen hielt sich an Papa fest. Sie schaute ihn verständnislos an. „Ich hab' mein Leben sowieso völlig versaut“, sagte er zu Michael, der sich nicht mehr wehrte. Xaver schob noch einmal bis sich der große Mann in den Sitz fallen ließ. Er hob das Mädchen auf und setzte sie auf Papas Schoß. Dann kniete er sich hin und schaute die Familie einen Moment lang an.
„Ich heiße Julian Xaver Mahr.“ Die Familie saß im Auto, sie blickten ihn an. Alle hatten diese großen Augen. „Vergesst mich nicht, wenn ihr hier lebend raus kommt!“, sagte er schloss die Fahrertür. Wieder hob er zwei Finger an die Schläfe.
Der Vater bewegte den Mund. „Danke“, sagte er und trat das Gaspedal durch.
Xaver schaute sich um. Nicht einmal zehn Meter bergauf bog ein kleiner Wanderpfad von der Straße ab. Er schien in Richtung Gipfel zu führen. Xaver nickte, hob seinen Rucksack auf und begann mit dem Aufstieg.
Der Blick über das Valley raubte ihm fast dem Atem. Zwei Stunden hatte der Pfad steil bergauf geführt. Der Wald schien friedlich, nirgends ein Hauch von Schwefel. Nur die Erdbeben zeigten, wie instabil die Region geworden war. Sie kamen jetzt in kürzeren Abständen und wurden immer stärker. Zweimal hatten sie ihn von den Beinen gerissen. Trotzdem war er weiter aufgestiegen, bis er dieses kleine Plateau unterhalb des Mount Sheridan gefunden hatte. Von hier konnte er den Yellowstone Lake in seiner ganzen Ausdehnung sehen. Weiter links lagen Lewis Lake und Shoshone Lake, beiden sahen von hier oben faszinierend irreal aus. Das Blau des Wassers war an vielen Stellen vermischt mit Gelb, Grün und sogar violetten Schattierungen.
Dazu kamen die Geysire. Soweit er sehen konnten waren alle gleichzeitig aktiv und schleuderten Wasser und Dampf in unglaubliche Höhen. Er erkannte Old Faithfull und den Grand Geyser an ihrer Nähe zum Buffalo Inn. Das Hotel schien nur noch ein Trümmerhaufen zu sein. Weiter hinten im Gebirge türmten sich Wolken auf. Zusammen mit den gelben Nebelschwaden unter einem strahlend blauen Himmel sah der Park in seiner Schönheit unwirklich und fremd aus.
Wieder schossen neue Geysire in die Höhe, mitten im See. Der Yellowstone Lake wölbte sich nach oben. Die Wasseroberfläche schien sich auszubeulen, es wirkte, als ob es anfangen würde zu brodeln und das Wasser strömte nach außen, überflutete die Ufer, riss Bäume um und zertrümmerte Häuser. Die Uferstraße wurde auf der ganzen Länge mitgerissen. Das Grollen war hier oben nur gedämpft zu hören, aber die Kraft des Wassers schien gewaltig zu sein.
Xaver wandte den Blick ab. Er hatte die alte Schreibmaschine aus seinem Rucksack geholt und ein neues Blatt eingespannt. Jetzt setzte er sich und schaute sie gedankenverloren an. „Es ist wichtig, dass Du etwas bewirkst, mein Junge“, hatte sein Großvater gesagt, damals am Krankenbett. „Damit sich die Menschen an Dich erinnern.“ Er nahm die alte Maschine auf den Schoss, strich langsam über die Tasten und begann zu tippen. Das leise Klacken der alten Typen machte seine Gedanken Zeichen für Zeichen sichtbar: „Diese eine Familie wird sich an mich erinnern.“
Er lächelte. Manchmal bist Du echt theatralisch.
Dann explodierte die Caldera in einer Wolke aus Feuer und Asche.