Caged
~"Caged"~
Sie hielt mich dort gefangen. In einem Zimmer fast ohne Licht. Das große Fenster war von außen mit Holzbrettern zugenagelt. Vor ein paar Tagen jedoch riss bei einem Gewitter eines ab. Einige wenige Sonnenstrahlen fielen nun frühmorgens durch den Spalt und wärmten mein Gesicht. Alles in diesem Zimmer war verstaubt, der kleine Tisch mit der Häkeldecke darauf, der altmodische Sessel, der Boden und scheinbar auch alles im angeschlossenen Bad, welches nur sehr dürftig war, aber immerhin ein Waschbecken und eine Toilette enthielt. Keinen Spiegel. Doch ich hatte ein Stückchen zersplitterten Spiegels unter dem Bett gefunden und so war mir ein vager -es war ja sehr dunkel- Blick auf mein bleiches Gesicht gewährt. Eine Haarbürste, einen Kajal und ein Rosenparfum waren meine sonstigen Habseligkeiten. Keine Bücher, kein Fernseher, kein Kuscheltier und erst recht kein Telefon. Ich ging nicht mehr zur Schule und hatte keine sonstigen menschlichen Kontakte. Mein Reich war eben dieses finstere Zimmer, das Haus (womit Küche, Wohnzimmer und Bad gemeint sind, denn die anderen Räume waren mir zu betreten nicht erlaubt) und der eingezäunte Garten.
Sie war verrückt. Aber nicht bösartig. Morgens gegen zehn kam sie an mein Zimmer, klopfte zweimal an die Tür und trat ein. Sie brachte mir ein Kleid, Hausschuhe und frische Unterwäsche zum Anziehen, ging mit mir in die Küche und servierte das Frühstück. Jeden zweiten Tag duschte ich anschließend. Ihre Tochter war dann bereits in der Schule.
Man kann nicht sagen, dass mich dort in ihrem Haus niemand bemerkte -ihre Tochter hatte oft Besuch von Freunden und in letzter Zeit war auch er immer wieder da, um Sachen im Haus in Ordnung zu bringen. Vielleicht auch nur deshalb, weil sie mich nicht gern alleine ließ. Suizid war nicht mein letzter Gedanke. Doch ich hatte nicht erlebt, dass sich jemals ein Mensch darum gekümmert hatte, mich aus diesem Gefängnis zu befreien. Ein kleiner Ort war das eben und man ließ den Einzelnen in seiner Verrücktheit gewähren, sah artig darüber hinweg und schaffte sich keine unnötigen Probleme wegen "Fremden" heran.
Die argwöhnischen Blicke, wenn sie mich beim Einkaufen an der "Leine" hinter sich herzog, das Geflüster hinter meinem Rücken -"....schau wie bleich und die schwarzen Augen....wo hat sie bloß die Kleider immer her...." Doch wandte ich den Blick nach ihnen um, die "Leine" schnürte sich schmerzhafter in meinen Rücken ein, starrten sie mich bloß anklagend an, ganz so, als wäre ich irgendwie falsch und verdreht.
Nach dem Frühstück wurde ich wieder in mein Zimmer gesperrt. Irgendwann hatte ich damit angefangen -und es mir seither angewöhnt, mich dann zu schminken. Da es ja lange Zeit wirklich immer stockfinster gewesen war, schmierte ich mir den Kajal bloß um die Augen. Wohlwissend, dass es fürchterlich aussehen musste,....aber fürchterlich.... so fühlte ich mich auch. Gegen Mittag letztendlich, sobald ihre Tochter aus der Schule gekommen war, wurde ich wieder in die Küche geholt und aß dort. Anschließend passte ich auf ihre Tochter auf, indessen putzte sie das Haus. Schleierhaft war mir während all der Zeit, woher sie ihr Geld bezog. Wahrscheinlich von ihrem Ehemann. Überall standen zwar Photos von ihm, aber ich hatte ihn nie persönlich zu Gesicht bekommen. Geschieden vielleicht?! Manchmal gingen ihre Tochter und deren Freundinnen auch in den Pool, der im Garten angelegt war. So auch heute.
Es war wenigstens ein wenig Abwechslung und weil das Geplansche so laut war, konnte ich sogar ein bisschen mit den Mädchen reden. Die Mutter wäre sehr verärgert, hätte sie davon etwas mitbekommen. Zum Glück war die Tochter trotz ihrer gerade mal elf Jahre recht erwachsen und mochte mich auch ganz gern und erzählte ihrer Mutter nicht, dass ich mit ihr sprach. Einmal hatte die Verrückte es aber mitbekommen und war in entsetzliches Geschrei verfallen, warf mit Gegenständen und donnerte mir entgegen: "Du bist stumm, du kannst nicht reden, du bist stumm, du kannst nicht reden, du bist..." Seitdem war ich vorsichtig. Mit allem war ich vorsichtig. Auch mit ihm hatte ich nie ein Wort gewechselt. Er war einfach da. So wie andere vor ihm. Er würde auch wieder gehen. Natürlich beobachtete er mich auch hin und wieder, wenn ich durch den Garten schwebte oder mit der Tochter sprach. Alles in allem dürfte er mich aber für irre und langweilig halten.
Doch ich muss gestehen, ich beobachtete ihn auch. Verfolgte jeden seiner Schritte, hing seinem Parfum hinterher, starrte in seine Augen -woraufhin er immer einen Moment verharrte und dann verwirrt wegsah-, studierte seine Handbewegungen, was er machte, wohin er dies oder jenes brachte... Unvorstellbar wie viel Arbeit ein so altes Haus machte. Alle diese "er’s" hatte ich derart ausgesaugt. Ich kannte nicht einen Namen und dachte mir auch keine aus, konnte sie aber im Traum haargenau beschreiben. Nach diesem Sommer war er ohnehin wieder verschwunden und nächstes Jahr folgte ein anderer "er".
Manchmal, morgens in meinem düsteren Zimmer, fragte ich mich, wie sich wohl seine Hände anfühlten, waren sie ebenso kalt wie meine oder warm wie die der Tochter?! Die Art, wie er sich bewegte, faszinierte mich. So fremd und doch so echt. Waren seine Lippen so rauh wie die meinen und schmerzten, wenn man darauf biss? Aber es waren immer Fragen, die ich für mich behielt und niemals stellte.
Als ich im Schatten saß und der Tochter mit meinen Blicken folgte, immer darauf bedacht, sie im Notfall aus dem Pool zu fischen und vor dem Ertrinken zu retten, dachte ich wieder an Selbstmord. Beinahe wäre ich tatsächlich aufgesprungen und hätte mich kopfüber ins Wasser gestürzt, soviel wie möglich eingeatmet -verrecke doch bald, du elendiger Körper!! Die Sonne verzog sich verbleichend hinter einer schleierhaften Wolke. Da lag eine Gartenschere. Er arbeitete einige Meter entfernt und stand mit dem Rücken zu mir. Ich griff nach dem Metall und rammte mir die kalte Spitze in den linken Unterarm. Sie war etwas stumpf. Ich tat das gleiche noch einmal. Derweil floss das Blut aus meinen Adern, hinterließ rote Striemen auf der blassen Haut, schmerzte grauenvoll, zwang mich aber zu keinem Schrei. Diesen entäußerte die Tochter. Wieder stieß ich zu -das Geräusch war abscheulich, das Blut, mein Blut auch... Geschrei gab es noch immer. Er wandte sich erschrocken um und rannte zu der Tochter, bemerkte, dass mit ihr alles in Ordnung war und dann fiel sein Blick auf mich. Entsetzen. Ein wenig Panik. Und Angst sogar. "Hör auf!" kreischte er. Noch einmal in den verhassten Arm. Niemand braucht dich! Seichtes Verschwimmen der Umgebung.
Ich wachte auf. In meinem Zimmer. Benommen. Tränen rannen unweigerlich aus meinen Augen. Ich lebte noch! Um meinen Arm ein Verband, das Blut noch am Kleid. Ich hörte ein Klacken an der Tür. Es war bereits dunkel! Was wollte sie hier? Aber er war es. "Sie ist Kegeln." Dann musste es Wochenende sein. Die Tür ließ er einen Spalt weit offen und trat dem Bett näher. Das Licht aus dem Flur war mir schon fast zu hell.
"Wieso läufst du nicht weg?" Ich wandte den Kopf gleichgültig zur Seite. Ich sollte besser nicht mit ihm reden. Abermals kam er einen Schritt näher, verharrte dort eine Weile. Sein Atmen klang in der Dunkelheit unwahrscheinlich laut und nah. Nach einiger Zeit erhob ich mich und stellte mich vor ihn. "Was wird das?" Schweigen. "Wir sollten nicht miteinander reden. Mach deine Arbeit und dann geh nach Hause. Ich...." -"Du lebst hier wie eine Puppe, wie eine Gefangene –oder noch schlimmer! Und all das nimmst du so stumm hin? Ich glaube, du bist einfach dumm. Zwecklos...." Er wollte gehen. Ich hatte mich mit ihm unterhalten, oder? Es interessierte ihn. "Du weißt es also nicht....?" Seine Kleidung raschelte, als er sich wieder zu mir umdrehte. Fragender Blick. Nein, das wusste er wohl nicht.
"Sie hatte noch eine Tochter. 'Renn weg und ich bringe sie um.' Das hatte sie wirklich gesagt. Der Druck auf mir wurde zu groß. Ich hielt es hier nicht mehr aus, wollte einfach nur weg! Die eigene Tochter umbringen -der Drohung glaubte ich nicht! Klingt doch auch absurd, oder? Ich lief davon, ihre Tochter war am nächsten Tag im Pool 'ertrunken'. Ich erfuhr es einen Ort weiter.... Würdest du ausreißen?" Er schluckte und sah mich ernst an. Dann musterte er mein Gesicht. Die Grillen zirpten laut von draußen herein, Wind rauschte durch die Trauerweide vor meinem Fenster –schien der Mond? Ich denke, es war das erste Mal seit Jahren, dass ich jemandem einfach nur in die Augen gesehen hatte. Für Minuten standen wir bloß so da. Vier Schritte voneinander entfernt. Seine Augen waren klar und blau, das konnte ich trotz des dämmrigen Lichts erkennen. Dann ging er.
Etwa eine Woche später planschten die Kinder wieder im Pool und er sollte den Abfluss reinigen. Irgendwann wurde es langsam dunkel, doch die Mutter schien es nicht bemerkt zu haben. Er setzte sich neben mich und stützte sich mit den Armen ab, wobei er meine Hände, die beinahe leblos auf der Wiese lagen, streifte. Ich musste in seine lebendigen Augen sehen. Bitte nimm mich ganz, lass mich ertrinken, gib mir nichts, schrei mich an, töte mich, zerfetze mich, nimm mich gefangen in diesen Augen, scheiß drauf! Ich riss meinen Blick von ihm und starrte auf die Wiese. Kleine weiße Blumen hoben sich von der mittlerweile dunklen Farbe des nächtlichen Grases ab. "....die Sternenwiese leuchtet...." Ein Wunder, dass er dieses Flüstern überhaupt wahrnahm, geschweige denn verstand. Ich wusste nicht, wie mir geschah -er riss mich am Arm hoch, zog mich eisern hinter sich her Richtung Gartenzaun, auch darüber und hechtete mit mir davon. Weg von diesem Alptraum, hinein in den nächsten Unerträglichen.
Die Tochter war tot. Diesmal allerdings zerfleischt, während wir zu ihm nach Hause flüchteten. Und als ich es erfuhr, weinte ich bittere Tränen der Schuld und der Furcht und Trauer....
Und was meinst Du erst, wie ich dann geschrieen habe? Zunächst als ich ihn mit völlig entstelltem Körper in seinem Bett gefunden habe, später als ich mich auf der Beerdigung durch die kleine Menschenmenge wühlte und in das Grab sprang, den Schmerz des Aufpralls gar nicht wahrnehmend. Pures Entsetzen blitzte in den Augen der anderen, einige versuchten mich vom Sarg zu entreißen. Das machte die Schreie bloß noch lauter und erstickter. Sie hassen mich!