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Café rêve mal

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21.03.2003
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Café rêve mal

Traber, gegen vierzig, geschieden, zwei Kinder, grundsätzlich glücklich, starker Zigarrenraucher, schütteres Haar, korrekt gekleidet, im Café Rêve sitzend, Zeitung lesend. Wie so oft mussten die Tagesgeschehnisse, die Traber wie jeden Samstag im Café Rêve, das sich in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung befindet, seinen abschweifenden Gedanken weichen. Er dachte an früher und daran, wie er in diese, von ihm nicht sonderlich geliebte Vaterrolle geraten konnte. Er liebte seine Kinder, ohne Zweifel, doch hatte er oft das Gefühl nicht der geborene Familienmensch zu sein, was schliesslich darin endete, dass ihn seine Frau Beate mitsamt seinen Kindern verliess. Früher wünschte er sich viel Geld, viel Frauen und ein sorgenfreies Leben. Dafür hatte er jahrelang geschuftet, Akten gewälzt, spätabends, nur um sich schliesslich in der Lage desjenigen wiederzufinden, der für den finanziellen Aufwand aufkommt. Hätte er doch nur diese rassige Argentinierin, die er jeweils bei seinen Geschäftsreisen nach Madrid in ihrem Lokal zu besuchen pflegte, überzeugen können mit ihm in die Schweiz zu kommen. Es wäre alles anders gekommen. Lange hatte er ihr die Vorteile eines Lebens in der Schweiz vor Augen geführt, bis ihn Beate dermassen vereinnahmte, dass selbst Traber keine Kontrolle mehr über sein Leben hatte. Wie konnte er nur ja sagen, am Altar stehend, wissend, dass die Gegenseite sich in diesem Augenblick glücklicher fühlte als er es tat. Immer das gleiche Szenario flutete seine Gedanken, bis er nur noch Wiederholungen von „Darf’s noch was sein?“ vernahm, immer lauter werdend. Es war die Bedienung, die aufgrund ihres Schichtwechsels die letzte Bestellung aufnehmen wollte. „Nichts, danke“, antwortete Traber und bezahlte seinen Kaffee. Er drückte die Zigarre, die er nur zur Hälfte geraucht hatte aus, zog seinen Mantel an, schlug den Kragen hoch, glitt beim Hinausgehen auf einer Eisfläche aus und blieb tot liegen, ohne je Geld, Frauen und ein sorgenloses Leben gehabt zu haben.

© m.j.s.

 

Moin m.j.s.,
eine wunderschöne Depri-Geschichte, auch wenn sie mir eher wie eine Aufzählung vorkommt. Besonders der erste und der letzte Satz vermasseln mE den "kick". Keine Lust mehr gehabt, daran zu feilen? Die Aufzählung "ohne je Geld, Frauen... gehabt zu haben", finde ich als Ende nicht schön. Dafür blieben ihm ja auch Lungenkrebs, Raucherbeine und Rachengeschwüre erspart - du siehst, man kann auch den totalen Gegensatz dazu sehen. Obgleich - er war doch geschieden, also hatte er doch "eine Frau" gehabt. Das widerspricht dem letzten Satz.
Ich glaube, da ist noch mehr in Deiner Geschichte drin, als du glaubst.
Gruß
Ralph

 

hallo ralph, hallo kristin

der erste satz sollte einleitend wirken, dies haben selbst schweizer koryphäen wie dürrenmatt praktiziert...aber wahrscheinlich hast du recht...
ohne je frauen gehabt zu haben wird so verstanden, dass er ursprünglich von einem frauenerfüllten leben ausgegangen war (mehr als eine!!! --> deshalb nicht
wörtlich zu verstehen.....

rêve ist die dritte form des verbes rêver, das "le" (artikel) habe ich bewusst weggelassen und so gelesen träumt das café schlecht, da der langjährige kunde traber vor den "toren" des cafés verendet und deshalb der schlechte traum....

aber danke für die anregungen

m.j.s.

 

Hallo m.j.s.,

der Text ist kurz, pregnant, gut. Er vermittelt dichte Atmosphäre, gibt für sein Verständnis notwendige Details wieder, hält den Leser knapp bei Leine.
Das Leben von Traber im Zeitraffer, sein Tod eine Sekundenangelegenheit.
Mehr bedarf es hier nicht.
Ausgezeichnet.

Liebe Grüße - Aqua

 

hallo aqualung

besten dank für die gute kritik. hat mich persönlich ein wenig überrascht von einem senior-mitglied auch "wohltuende" worte zu lesen.

danke

m.j.s.

 

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