Mitglied
- Beitritt
- 06.10.2017
- Beiträge
- 431
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 23
Café Ellinikós
Der Zug rattert bergan, gleichmäßig und unbeirrbar wie eine Lawine im Rückwärtsgang, und durchpflügt die flirrende Hitze. Die vertrockneten Grashalme am Rande der Böschung bewegen sich im Wind wie die Haare einer schlafenden Hexe. Ray setzt die Baseballkappe ab, wedelt sich Luft zu und streicht eine nasse Strähne aus der Stirn. Vorsichtig betastet er die Beule am Haaransatz und schaut aus dem Fenster.
„Ein Fisch“, sagt er, mehr zu sich selbst.
Der Mann neben Ray sagt nichts. Das liegt vor allem daran, dass er gar nicht dort sitzt.
„Wäre doch wirklich toll, Ray, wenn wir einen Hund hätten ….“ Jane nahm eine ihrer dicken, roten Haarsträhnen zwischen die Finger, wedelte ihm damit vor dem Gesicht herum, kitzelte seine Nase und machte leise Winselgeräusche.
„Guck mal, wie der sich freut! Der mag dich!“, sagte sie.
Ray lachte, schnippte den Wedelschwanz zur Seite und küsste Jane auf den Hals.
Auf die Stirn. Andere Seite vom Hals. Ohren. Brust. Überall.
Alles.
Später zupfte sie ein wenig auf ihrer Gitarre und begann, leise zu singen:
“Oh Ray,
won’t you buy me
a cute little dog … “
In gespielter Genervtheit stöhnte er auf, verdrehte die Augen, und plötzlich wechselte Jane zu Punk, griff abwechselnd drei Akkorde, haute hart in die Saiten und ließ ihre Locken durch die Luft fetzen. Ray war sprang auf, war bereit: der Meister der Luftgitarre, King of Headbanging. Er spielte zusammen mit Jane in perfekter Disharmonie, bis er nicht mehr konnte, bis er seine imaginäre Gitarre zertrümmerte und sich erschöpft zurück auf die Dielen fallen ließ. Mein Gott, dachte er schwer atmend, wir haben Massivholzdielen …
Vor zwei Monaten waren sie zusammen in die Wohnung gezogen, Ray und Jane, und noch immer fühlte er sich ein wenig wie ein Einbrecher. Mitten in der Stadt gelegen, in einer der hippen Ecken – natürlich war das kein Schnäppchen, aber die hohen Decken, die Holzböden, der Erker, der Balkon mit Abendsonne und Blick ins Grüne entsprachen genau dem, was Jane sich vorgestellt hatte.
„Du musst dann heute mit dem Hund gehen“, sagte Ray grinsend, als er sein weißes Hemd zuknöpfte. „Der Herr Ober muss jetzt leider los.“
„Wir spielen heute Abend im Krachhaus“, sagte Jane.
„Armer Hund“, sagte er und zerwuselte ihre rote Mähne, die sie gerade zu bürsten begonnen hatte.
Ray zusammen mit Jane in dieser Wohnung ... Things on strange places – so hatte er eine seiner Fotoserien genannt. Das Leben schien seinen Spaß daran zu haben, unpassende Dinge zu kombinieren. Er verbrauchte einen Großteil seiner Energie dafür, Jane nicht merken zu lassen, dass das so war. Schon recht irgendwie, wenn sie etwas stilvoller wohnten. Mit ein paar zusätzlichen Nebenjobs würde er das hinbekommen.
Er ließ die Kamera sinken, für den Fisch war er zu langsam gewesen.
Es war stickig und warm, und beim Anblick des alten Ehepaares, das ihm schräg gegenüber saß und angezogen war, als würde es nach Alaska fahren, schwitzte Ray noch mehr. Der Mann spielte mit den Kugeln eines Perlenkettchens, das er in der Hand hielt. Als er merkte, dass Ray ihn dabei beobachtete, zwinkerte er ihm zu. Die Lachfalten in seinem Ledergesicht ließen Ray an die Porträts denken, die er im Altersheim gemacht hatte. Er war geduldig gewesen, hatte lange mit den Leuten geredet, sie erzählen lassen und so getan, als hätte er selbst etwas zu erzählen. Am Ende waren es genau die Fotos geworden, die er sich vorgestellt hatte: Keine senilen, zahnlosen Sabbergreise mit trübem Blick, sondern verwegene Abenteurer, unsterblich Verliebte, verschlagene Halunken und neugierige Kinder, deren Augen die Vergangenheit spiegelten. Und allen stand zum Schluss die gleiche Verwunderung darüber im Gesicht, wie sie hierhergekommen waren.
„Komboloi“, sagte der Alte stolz und ließ den Perlenkranz zwischen seinen Fingern einen klackernden Tanz vollführen, und dann legte er selbst los und brachte seine Sprache zum Springen: ratterte labyrinthartige Sätze herunter, komplizierte Wörter, für die es besondere Buchstaben brauchte. Vielleicht erzählte er seine Lebensgeschichte, rezitierte ein Gedicht, erklärte, wie der perfekte Schnaps gebrannt wurde, schimpfte über den Zustand der Welt oder fragte Ray nach dem Woher und dem Wohin, nach seinem Ziel.
Einfach weg – das war Rays Ziel. Egal wohin, eigentlich. Hinter die Berge.
Der Zug erreichte eine Hochebene, Olivenhaine zogen vorbei, Feigenbäume, niedrige Eichen und schlitzäugige Ziegen, die durch die Macchia staksten und an den Rinden der Bäume knabberten.
„Ziegenhirte“, sagte Jane und führte ihre Zungenspitze an die Lippen, „Dimi sieht aus wie ein Ziegenhirte!“
Ray hatte seine neuesten Porträtfotos auf dem Esstisch ausgebreitet, betrachtete sie kritisch und überlegte, welche davon er für den Wettbewerb einreichen könnte.
Das Bild von Dimi wäre auf jeden Fall dabei. Er war einer der Vollzeit-Kellner im Hellas – der Neffe vom Chef. Ein echter Kumpel, und an den Tagen, an denen Ray dort aushalf, waren sie beide das Dream-Team, die Trinkgeldkönige.
„Tss, tsss, keine Vorurteile, du schlimmer Mensch! Nur weil er ein Ziegenbärtchen hat und Grieche ist …“ Ray lachte, biss Jane in den Hals, machte Hundegeräusche: winselte, knurrte, hechelte.
Die Sonne schien durchs offene Fenster und die hellen Vorhänge bewegten sich leicht im Wind.
„Guter Hund!“, sagte Jane und kraulte ihm das Kinn.
Ziegenhirte, dachte Ray grinsend, als er und Dimi an diesem Abend ihre Athenteller, Olympia-Spieße und Getränketabletts aneinander vorbei jonglierten. Dabei hätte Dimi alles sein können. Mit seinem Blick, der jede Kleinigkeit aufsaugte, als wäre sie bemerkenswert, dem Lachen, das selbst die griesgrämigsten Gäste gegen ihren Willen die Mundwinkel nach oben ziehen ließ, seinen Rabenhaaren und den strahlenden Zähnen – kleinen Leuchttürmen, die abwechselnd mit den Augen helle Blitze in die Umgebung schickten. In die jeweiligen Klamotten gesteckt wäre er als Juniorchef einer Investmentfirma durchgegangen, als Dirigent eines Symphonieorchesters, als genialer Astrophysiker – oder eben tatsächlich als junger Ziegenhirte, zufrieden in die Kamera blickend, abgelichtet unter einer knorrigen Olive, auf deren Zweige die Abendsonne schien.
Er war Kellner im Restaurant seines Onkels, aber das würde er nicht bleiben.
„Bald bin ich hier weg“, sagte Dimi, als beide nach Küchenschluss einen Absacker tranken. „Malaka“, zischte er leise – keine Vokabel, die es auf die bedruckten Servietten geschafft hätte – und deutete mit dem Kopf in Richtung seines Onkels. Dimi schenkte nach, und während er erzählte, richteten sich seine Leuchtaugen in die Ferne, auf bizarre, schneebedeckte Berge und in dunkle Schluchten, tiefer als der Grand Canyon, aus denen einst seine Großeltern gekommen waren. Noch immer nahezu unberührt, das Pindos-Gebirge, und genau darin läge das Potential. Eine Goldgrube wäre das: ein kleines, uriges Hotel, Trekkingtouren, Rafting, Mountainbiken, und am Ende eines aufregenden Tages die herrlichsten Speisen, direkt aus den dampfenden Kesseln der Götter, aus den Flüssen und Wäldern, von den sonnigen Hängen und aus den grünen Tälern. Forellen, Kaninchen, Pilze, Käse, Wein, Tsipouro ... „Hör auf“, sagte Ray, „ich krieg‘ Hunger!“
„Alles original und unverfälscht“, sagte Dimi. Ruhe pur, nur das Rauschen der Eichenwälder und ab und zu das Heulen der Wölfe, manchmal kämen ein paar Bären vorbeispaziert …
Dimi strich sich durchs Haar, während er erzählte, knippelte am Ouzo-Etikett, legte einen kleinen Kreis aus Papierkügelchen, zerstörte ihn wieder, begann von vorne und summte dabei leise. Dann sah er Ray fragend an, als hätte er ihn komplett vergessen. Schenkte nach. Ja, sagte er, das würde er machen, wenn er genügend Startkapital zusammen hätte. Zunächst wollte er hier etwas Eigenes aufbauen: ein kleines Café, ein Kafenion mit Stil, abseits der üblichen Athenteller-Gastronomie. Ein Geheimtipp würde das werden, ein paar kleine Gerichte, jeden Tag frisch zubereitet nach den Rezepten seiner Giagia. Orangenkuchen, Tyropita, Stifado … Die Einrichtung ganz im Stil dieser Bergdörfer, Naturstein und Holz, ein knisterndes Kaminfeuer, mit einer kleinen Bühne vielleicht sogar, und er könnte …
Ray schob sein Glas über den Tisch. Er schrieb am nächsten Morgen eine Klausur, die er nicht verhauen durfte – sowieso hatte er sein Studium ziemlich vernachlässigt in letzter Zeit … Aber es war gut, mit Dimi hier zu sitzen und seinen Visionen zuzuhören. Jemand, der wusste, was er wollte: das würde er auch gern sein.
Die Flasche war fast leer, als Ray sagte: „Lass uns das zusammen machen! Ich kann kochen lernen und alles, zum Großmarkt fahren, Salat putzen, servieren. Ich kann … Alles.“
Sie schoben ein Blech Moussaka in den Ofen, öffneten eine Flasche eisgekühlten Wein und redeten weiter. Sprachen über Details, über Nägel mit Köpfen. Es war ganz einfach, sie hatten eine Vision und Ideen und es konnte funktionieren. Es würde funktionieren.
„Kafé Ellinikós“, sagte Dimi und servierte schwankend zwei kleine Tassen sehr süßen, starken Kaffee.
Die Frau des Geschichtenerzählers öffnete ihre verbeulte Thermoskanne, und Kaffeeduft durchströmte das Abteil. Der Alte hörte schlagartig auf zu reden, als hätte man ihm den Stecker gezogen, und nahm den dampfenden Becher entgegen.
Ray malte mit dem Finger einen Kreis auf die Fensterscheibe, zwei Punkte für die Augen, ein Smiley ohne Mund. Die Landschaft wischte vorbei wie Fotos auf einem Smartphone: trockenes Gras und Ginster und Schafe und Eichen und Ziegen und nichts, NichtsNichts, NichtsNichts, NichtsNichts, bis sie den Tunnel verließen und eine neue Gegend erschien. Der Zug schrammte links millimeterdicht an den Felswänden vorbei und rechts am Abgrund – kein Platz mehr für irgendwas, um neben den Gleisen zu liegen. Eine Eisenbrücke tauchte auf, die ins Endlose zu führen schien; auf filigranen Stelzen überspannte sie eine Schlucht und wirkte wie die Hauptattraktion eines stillgelegten Vergnügungsparks. Die Männer, die das gebaut haben, dachte Ray, hätte ich gerne porträtiert.
Porträtaufnahmen waren inzwischen Rays Steckenpferd, obwohl er die Serie mit den Dingen an seltsamen Plätzen immer noch sehr mochte. Eine Blechgießkanne am Rand eines Roggenfeldes zum Beispiel, eine Luftmatratze auf zugefrorenem See, ein Fahrrad unterhalb der Klippen ...
Wenn sie ihr Café hatten, würde er ein kleines Studio im Nebenzimmer einrichten, er könnte die Gäste porträtieren, in seiner eigenen Galerie ausstellen … Er reihte Detail an Detail, redete sich in Ekstase, und Dimi und Jane verdrehten synchron die Augen. „Oh Mann, Ray! Ruhe jetzt, wir haben’s verstanden“, stöhnte Jane und hielt ihm den Mund zu. Ihre Hand roch nach frischem Oregano.
Jane und Ray hatten griechisch gekocht und Dimi zu sich eingeladen. Ihre Moussaka hatte sein Wohlwollen gefunden, die Aufnahmeprüfung bestanden, und das Joghurt-Kirsch-Dessert, das Jane danach servierte, quittierte er mit nach oben gestrecktem Daumen und Kussmund.
Jane nahm ihre Gitarre und zupfte etwas, das entfernt griechisch klang. „Und das Coolste ist, ich kann dann jederzeit mit meiner Band dort auftreten!“, sagte sie.
„Hm, solange wir nichts Besseres haben … manchmal ... Mal sehen“, sagte Dimi, ohne das Gesicht zu verziehen. Jane stutzte kurz, dann schüttelte sie ihre Faust unter seiner Nase, sagte Na warte! und boxte ihn mehrfach in die Seite.
Ray lehnte sich zurück. Er war sich sicher gewesen, dass es funktionieren würde, dass sie die gleiche Wellenlänge hatten: Jane und er und der Ziegenhirte, wie sie Dimi nun manchmal nannten, wenn er nicht dabei war.
Ray brachte drei Tassen Kaffee an den Tisch. Café Ellinikos, so wollten sie ihr Restaurant nennen.
Jane scrollte durch verschiedene Webseiten, machte Notizen, kaute an ihrem Stift. Sie hatte zwei Semester BWL studiert, bevor sie auf Pädagogik und später auf Schmuckdesign umgestiegen war, und nun fachsimpelte sie und kalkulierte, als hätte sie nie etwas anderes getan und Ray war wieder fasziniert davon, wie sie das immer hinbekam: gleichzeitig seriös und wild auszusehen.
„Geschmorte Kaninchenkeule“, sagte Dimi und schenkte allen Wein nach, „in Weißwein, mit Knoblauch und Thymian. Pfeffer natürlich und ein bisschen Zimt …“
Ein Hauch von Thymian wehte herüber, als die alte Frau die Thermoskanne wieder in ihrem Korb verstaute und dabei ein frisches Kräuterbündel berührte.
Die beiden Alten wären sicher ein gutes Motiv, dort, wo sie hingehören, dachte Ray, während das Ehepaar in seinen dicken Jacken diverse Koffer, Körbe und Tüten aufnahm und damit den Zug verließ.
Dimi hatte vorgeschlagen, gemeinsam in die Heimat seiner Großeltern zu fahren. Eine Studienreise, Inspirationen sammeln, alte Rezepte erfragen, wertvolle Überlieferungen vor der Versenkung bewahren – und Ray könnte fotografieren: Schluchten und gepflasterte Pfade, die tief in die Wälder und in die Vergangenheit führten, das schwarze Wasser des wilden Acheron, Natursteinhäuser mit Schieferdächern, die silbern in der Sonne schimmerten, und natürlich die Menschen, die darunter wohnten: eine Giagia, eine alte Bäuerin mit Kopftuch und krummen Beinen, die nie aus ihrem Bergdorf herausgekommen war, aber dennoch die ganze Welt gesehen hatte; einen kleinen Jungen mit abgeklebtem Brillenglas, der im Regen auf einer Steinmauer saß und einen nassen Hund umarmte; einen Ziegenhirten, zufrieden in die Kamera blickend, abgelichtet unter einer knorrigen Olive.
Sie würden alleine fahren, Dimi und Ray. Jane musste für ihre Klausuren lernen; Ray selbst hatte sein Studium abgebrochen, um mehr Zeit für die Jobs zu haben. Seit kurzem war er tagsüber als Fahrradkurier unterwegs: Speedy Ray, ein Pegasus mit bereiften Hufen, der über die Straßen der Stadt flog, von nichts und niemandem aufzuhalten, und mit diesen Fotos würde er seinen Durchbruch schaffen.
Ray musste geschlafen haben. Auf den Plätzen schräg gegenüber saßen mittlerweile drei Gestalten in schwarzen Gewändern, mit hohen Hüten und dichten Bärten. Märchenfiguren, diffusen Kindheitserinnerungen entsprungen: orthodoxe Priester, die mit ihren Perlenkränzen klapperten, während sie sich murmelnd unterhielten. Einer trug eine schwere Goldkette um den Hals und erinnerte Ray an einen alternden Gangster-Rapper. He, Brüder, stellte er sich vor, die drei zu fragen, was dagegen, wenn ich ein paar Porträts von euch mache?
„Schöne Kette“, sagte Ray, als er mit seinen Küssen an Janes Halskuhle angelangt war. Er betrachtete das silberne Amulett, das an einem Lederband hing. „Neu?“
„Ja“, sagte Jane, „Das ist so ein Griechen-Ding, ein Zauberkreis. Hat der Ziegenhirte mir gegeben, zur Besiegelung unserer Café-Ellinikós-Partnerschaft sozusagen. Total süß, oder?“
„Total“, sagte Ray und widmete sich wieder Janes Hals, den Ohren, der Brust und dem Bauch, aber dann kam Moff angejapst und kläffte hysterisch, sprang zwischen den beiden hin und her, und Jane sagte: „Oh! Kannst du bitte nachher mit Moff gehen? Ich muss gleich mit Dimi zu diesem Makler. Wenn wir Glück haben, bekommen wir heute den Zuschlag für die Räume!“
„Fuck - was ist das denn?!“, hatte Ray eine Woche zuvor gefragt, als er von seiner Kurier-Tour heimgekommen war, durstig und verschwitzt, und fast über eine graue Fellrolle gestolpert wäre, die im Flur auf den Holzdielen lag und ihn misstrauisch anblinzelte.
„Das ist unser Hund, Ray!“ Jane platze fast vor Begeisterung und ihre roten Haare standen wild nach allen Seiten ab.
„Wie, jetzt …“, sagte er und kratzte sich am Kopf. „Wir brauchen keinen Hund! Jetzt noch nicht, jedenfalls. Du weißt das auch … Aber das hier - das ist ein verdammter Mops! Vor allem brauchen wir keinen gottverdammten Mops!“
Janes Gesichtsausdruck schwankte zwischen beleidigt, traurig und trotzig, aber dann bewegte sich der Hund, schnupperte an ihr, sabberte, schniefte, musterte Ray mit skeptischen Knopfaugen und zerfurchter Stirn – und Jane sah einfach nur glücklich aus.
„Er heißt Zeus“, sagte sie leise und kraulte die Speckwülste auf dem Rücken des Tieres. „Ein Freund vom Ziegenhirten – also der Vater von dem Freund eigentlich, von dem ist die Mutter ins Heim gekommen. Ganz plötzlich. Und jetzt ist da Zeus … Na ja, und Dimi wusste ja, dass wir einen Hund wollen und …“
„Hund …“, sagte Ray tonlos.
„Wir können ihn auch anders nennen“, sagte Jane.
„Horst“, sagte Ray, „Klingt doof und nach kurzen Beinen. Passt.“
Jane verdrehte die Augen und presste ihre vollen Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Zeus atmete.
Die Welt ist voll von herrlichen Hunden, großen Tieren mit klugen Augen, ausdauernd und schnell, loyal bis in den Tod, dachte Ray, aber ein Mops, Heilige Scheiße …
„Moff?“, schlug er vor und kniff dem Tier leicht in den Nacken.
„Moff …“, probierte Jane nachdenklich. „Moff ... Moff!“
Sie lächelte entgegenkommend. „Ja, Ray - das klingt wirklich gut! Das klingt nach Mops und Wuff und tatsächlich auch nach kurzen Beinen: Moff!“
Ray unterdrückte ein Grinsen. Seine Intention war letztlich gewesen, eine Kurzform für Motherfucker zu finden. Tut mir leid, Jane, dachte er, irgendwann werden wir Kinder haben, freche, rothaarige Rotznasen, die einem riesigen Setter hinterherjagen, und allen werden wir wunderschöne Namen geben.
„Hätten wir ihnen gegeben“, sagte Ray leise zu sich selbst. Neben ihm saß ja niemand – der Mann, der eigentlich dort sitzen sollte, lag jetzt im Krankenhaus, den Kopf einbandagiert wie eine ägyptische Mumie.
Gut, vielleicht war es auch nicht ganz so schlimm.
Wahrscheinlich lag er zu Hause, erholte sich von den Blessuren, eine Schnabeltasse voll Tee in der Hand und neben sich seine fürsorgliche Freundin.
Seine Freundin.
Falls Jane nicht gerade kopf- und ziellos durch die Straßen rannte und Moff! rief, was ziemlich wahrscheinlich war: „Moff! Moooohoff!“
Ray liebte sie immer noch bei dieser Vorstellung.
Die Abendsonne scheint durchs offene Fenster, die Vorhänge bewegen sich im Wind.
Janes Haar glüht wie Kaminfeuer, aber ihre Augen sind starr vor Kälte.
„Rainer … Ich muss … “, sagt Janes Stimme.
Da weiß Ray, dass es vorbei ist.
Er betrachtet den Schatten an der Wand, ihr Profil an der grauen Tapete, der Mund bewegt sich, geht auf und zu und sagt Wörter wie Dimitris und passiert und Café und Schnapsidee und trotzdem Freunde. Ihre Schattennase ist viel zu lang, einzelne Locken springen auf und ab, und Ray denkt: Ich werde nicht miterleben, wie dieses Haar seine Leuchtkraft verliert.
Ray sagt ein paar sinnlose Sätze, die mit Aber beginnen. Er hört wieder auf, als er merkt, dass die Wörter noch gar nicht erfunden sind, die irgendetwas ändern könnten.
Moff liegt auf seinem Kissen und bewegt die Augen zwischen Jane und Ray hin und her, langsam und gelangweilt wie ein geschmierter Schiedsrichter.
„Hm“, sagt Jane, „blöd jetzt - aber ich muss wirklich zur Probe … Wir reden später weiter, ja? Tut mir leid … Alles …“
„Ja“, sagt Ray und schaut ihr ins Gesicht, sieht dort verschiedene, komplizierte Ausdrücke in schneller Folge miteinander verschmelzen wie durch Morphing: Bedauern, Erleichterung, Schuld, Verliebtheit, Trotz und …
Er wartet nicht ab, was davon am Ende stehen bleibt; er dreht seinen Kopf zurück zur Tapete, schaut zu, wie der Schatten verschwindet und eine leere Leinwand hinterlässt, als wäre es ein Film ohne Abspann.
Jane hat ihre Gitarre mitgenommen, also kann er sie nicht zertrümmern. Er denkt kurz darüber nach, die Wohnung zu verwüsten, die Dielen rauszureißen, die Fenster einzuschlagen, aber dann packt er nur die Kamera und ein paar Klamotten in den Kurierrucksack, stopft Moff obendrauf, springt aufs Rad und flitzt mit seinem wütenden Gepäck auf dem Rücken quer durch die Stadt, überfährt rote Ampeln, holpert Treppen hinunter, hält ein Tempo, als gälte es, eine Ladung Herzklappen in die Chirurgie zu bringen, und erst, als er eine ruhige Stelle im Stadtpark erreicht hat, bremst er schlingernd ab. Moff kriecht aus dem Rucksack und schnauft fassungslos. Ich hab immer gewusst, dass du ein Dreckskerl bist, sagt sein Blick. „Wir sind frei, Moff“, sagt Ray und fährt davon, ohne sich umzudrehen – er braucht das Gefühl, ein elender Fiesling zu sein.
„Hi“, sagt er, der Form halber, nachdem Dimi die Tür geöffnet hat; mehr wird nicht geredet und der Ziegenhirte ist viel zu überrascht, als dass er sich richtig wehren könnte. Trotzdem brummt Rays Stirn von dem Schlag, den er abbekommen hat, auch seine Fingerknöchel schmerzen: Er hätte nicht gedacht, dass ein Nasenbein so hart sein konnte. Zur Sicherheit schlägt er ein weiteres Mal zu, Malaka!, und dann zurück aufs Rad und im Herzklappentempo zum Bahnhof, Zug zum Flughafen und ab in die Luft und in die Hauptstadt von Hellas, wo er in einen graffitiverzierten Eisenbahnwaggon springt und weiterfährt, immer weiter, und der Zug rattert bergan, gleichmäßig und unbeirrbar wie eine Lawine im Rückwärtsgang, durchpflügt die flirrende Hitze, und die vertrockneten Grashalme am Rande der Böschung bewegen sich im Wind wie die Haare einer schlafenden Hexe. Neben den Gleisen liegt ein Fisch, weit entfernt vom Meer, glitzert silbern in der Sonne wie ein großes Amulett an einem schmalen Hals.
Auf der letzten Etappe wird Ray von einem Pickup mitgenommen, einem staubigen Toyota mit fünf schmalbärtigen Ziegen auf der Ladefläche. „Jásu, Bro“, sagt der Fahrer und begrüßt Ray mit Ghettofaust. Ein junger Typ mit Sonnenbrille und New-York-Yankees-Cap, der beim Fahren raumgreifend gestikuliert und dabei lispelnd schwierig klingende Flüche in seiner Muttersprache ausstößt. Sie schrauben sich auf engen Serpentinen langsam in die Höhe, holpern über Kopfsteinpflaster und näheren sich den versteckten Dörfern dieser Gegend, die Hinter den Bergen genannt wird.
Ray fühlt verstohlen die Beule an seiner Stirn, als befürchtet er, sich unbemerkt in ein Einhorn verwandelt zu haben: einen hornamputierten Ziegenbock.
„Was machst du?“, fragt der Fahrer in gebrochenem Englisch. „Hier. Hier ist nichts?"
Einen Traum begraben, will Ray sagen, aber er ist sich sicher, dass der Grieche ihn nicht verstehen wird. „Fotografieren“, sagt er stattdessen, „ich arbeite an einem Bildband über alte Kafenions in dieser Gegend.“ Das könnte ja so sein, denkt er, das könnte durchaus so sein. Als erstes wird er jetzt in dieses Dorf gehen und versuchen, etwas zu trinken zu bekommen, Wasser auf jeden Fall und vielleicht einen verdammten Kafé Ellinikós, und dann wird er sich umdrehen und nach Hause laufen. Pinienwälder durchwandern und Flüsse auf uralten Steinbogenbrücken überqueren: einzig dafür gebaut, die verschiedenen Seiten des Nirgendwo miteinander zu verbinden; und er wird an bizzaren Felsensäulen vorbeikommen, auf deren Spitzen wahnsinnige Mönche vor Jahrhunderten diese Klöster errichtet haben, die wie Luftschlösser aus dem Wolkendunst ragen.
„Fotografieren“, sagt Ray nochmal und hebt zur Bestätigung seine Kamera hoch. Der Ziegenrapper antwortet mit einem griechischen Sprechgesang. Kurz vor dem Ort hält er an, lässt Ray aussteigen, kontrolliert die Laderampe, zählt die Ziegen und tritt beiläufig nach einem struppigen Hund, der von irgendwo her angelaufen kommt. Dann verabschiedet er sich mit einer Abfolge diverser Handschläge und biegt auf eine Schotterpiste ab.
Ray atmet tief ein. Die Luft riecht nach absolut nichts, und noch nie hat er einen Geruch so deutlich wahrgenommen. Er läuft los, auf das Dorf zu, und der Hund trottet in vorsichtigem Abstand hinter ihm her wie ein kleines, mobiles Weizenfeld. Kommt dann näher, wedelt zaghaft mit dem Schwanz und schnuppert am Rucksack. Hier bin ich, sagen seine Augen, Ich komme mit.
Ray kann seinen Kopf kraulen, ohne sich zu bücken. „Komm!“, sagt er.