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"But Love," Ian Curtis
Sie hielt ihr Herz in ihrer Hand. Es war eine klumpige Kugel aus heißem, flüssigem Gestein,
nicht sehr viel größer als ihre brennende Handfläche. Terra legte ihr Herz in seine
Umlaufbahn, denn sie hatte, so wie ihre Geschwister auch, den Ruf ihrer Mutter gehört. Nervös
blickte sie in die Unendlichkeit und sah das imposante Herz ihrer Mutter, doch auch dessen
monströse Größe konnte weder die ewige Dunkelheit des Universums noch die Leere in Terra
füllen. Seit ihrer Geburt, wurde ihr Leben von Einsamkeit bestimmt. Häufig beobachtete sie
ihre Geschwister, wie sie auf ihren Sphären an ihr vorbei zogen, jedoch waren sie zu weit
entfernt, als das sie Kontakt zu ihnen hätte aufnehmen können. Ihr Anblick gab ihr nur ein
Versprechen, dass ihre Einsamkeit in Zukunft ein Ende finden wird.
Terra machte sich bereit zum ersten Mal in ihren jungen Leben einen Schritt aus ihrer
eigenen Sphäre zu bestreiten. Angst beherrschte ihren Körper und sie zögerte. Sie schien ewig an
der Grenze ihrer bisherigen Welt zu stehen. Sie vernahm eine Stimme.
„Wie lange willst du da noch stehen?“, fragte sie.
Terra drehte sich erschrocken um und konnte ihren Bruder erkennen. Er war kleiner als sie
es war, dennoch größer als sie vermutete hatte. Die Angst wich und Freude breitete sich in ihr
aus. Sie hätte Mars umarmt und geküsst, so groß war ihre Freude darüber, dass ihre
Einsamkeit endlich ein Ende gefunden hatte, doch sie waren Wesen der höchsten Existenz,
welche ihre einzigartige Würde und Grazie besaßen. Doch was bleibt von Würde und Grazie im Angesicht von sehnsüchtig erwarteter familiärer Liebe?
„Ist ja gut jetzt!“, rief Mars, welcher unter den Küssen und Umarmungen seiner Schwester zu
kollabieren drohte.
„All' die Ewigkeiten waren wir so alleine, Mars! Bist nicht auch du voller Freude, dass wir uns
endlich begegnet sind? Wie hast du nur diese Einsamkeit ertragen können?“, fragte Terra,
während sie Tränen der Freude vergoss.
„Einige von uns finden Gefallen an der Abgeschiedenheit“, erklärte er. „aber ich bin dennoch
froh darüber dich nun getroffen zu haben, Schwester!“, fügte er schnell hinzu, als er das
Entsetzten auf ihrem Gesicht gesehen hatte. „Wir müssen weiter! Vater hat uns gerufen.“ Er
nahm ihre heiße Hand in seine und gemeinsam verließen sie die Sphäre.
Die Sphären von Sternen sind nicht leer. Ihre Räume werden von der Präsenz ihrer Kinder
gefüllt. Tatsächlich existieren nur wenige Orte im Universum, die vollständig leer sind. Sogar
der Raum zwischen Sternensystemen oder Galaxien ist von dem Verlangen erfüllt, in ferner
Zukunft wieder zusammen zu finden.
Wahre Leere findet sich zwischen den Sphären der Planeten.
Terra hielt seine Hand mit all ihrer Kraft. In der Leere war es unmöglich zu wissen, in welche
Richtung sie sich bewegten oder ob sie überhaupt vorankamen. Sie war voller Furcht und
fragte sich, wie Mars diesen Weg zuvor alleine überstehen konnte. Raum, welcher von absolut
nichts durchdringt wird, ist das Gegenteil von Leben. Dies verstand Terra, als sie die Leere
verließen und die Sphäre ihrer Schwester erreichten.
„Ich bewundere dich! Wie konntest du den Mut aufbringen, diesen Weg alleine zu
beschreiten?“, fragte Terra.
Die Frage bedrückte Mars. „Es war nicht mutig“, erklärte er. „Ich wusste nicht, was mich
erwartete.“ Er hielt noch immer ihre Hand und erst jetzt bemerkte Terra, dass er ihre ebenso
fest drückte wie sie seine.
Terra erfühlte das Heim ihrer einzigen Schwester. Es wirkte vertraut, dennoch war ein
Unterschied zu ihrem eigenen Zuhause nicht abzustreiten. Obwohl Terra kein Verständnis von
Leidenschaft hatte, konnte sie diese zusammen mit der Wärme spüren. Mars suchte nach
seiner Schwester, konnte sie jedoch nicht erblicken.
Sie warteten einen Moment und bevor Terra vorschlagen konnte weiterzuziehen, sahen sie,
wie ihre Schwester das Herz in ihren eleganten Händen tragend, sich auf sie zubewegte. Sie
wäre an ihnen vorbei geflogen, hätte Mars sie nicht gefasst.
„Venus!“, rief er. „Hast du den Ruf unseres Vaters nicht gehört?“
„Hm?“, fragte Venus unschuldig und fixierte dabei weiterhin ihren Blick auf ihr Herz. „Ist es
nicht wunderschön, mein kleines Herz?“
Es war so groß wie ihr eigenes, bemerkte Terra. Sie bemerkte ebenfalls die Schönheit ihrer
Schwester. Häufig konnte Terra beobachten, wie sie fast so hell wie ihre Mutter leuchtete.
Zunächst beneidete sie sie, doch letztlich war sie ihre Schwester und das Verlangen mit ihr
zusammen zu kommen und sie in den Armen zu halten war größer als ihr Neid. Sie bewegte
sich auf sie zu um sie in die Arme zu nehmen, doch Venus wich erschrocken zurück.
Beschämt sagte Terra, „Mutter hat uns gerufen.“
„Ich weiß, ich weiß. Bei den Sternen, ich weiß. Aber warum sollte mich das interessieren?“,
fragte sie.
„Vater hat uns geboren! Du musst auf seinen Ruf hören!“, erklärte Mars.
Venus gab einen abfälligen Ton von sich. „Fein!“ mit dem größten Schmerz, der in diesem
System jemals gespürt wurde, legte sie ihr Herz in seine Umlaufbahn.
Gemeinsam gingen sie auf die Grenze der Sphäre zu. Mars und Terra hatten ihre Hände nicht
voneinander getrennt, doch keiner von beiden machte den Versuch Venus an der Hand zu
halten.
Die drei Geschwister tauchten aus der Leere in die Hitze. Terra hatte geglaubt, dass ihr
zweites Durchschreiten des Zwischenraumes einfacher werden würde, da sie dieses Mal
genau wusste, was sie erwartete, doch es war sogar noch erschöpfender und
furchteinflössender.
Venus zitterte vor Angst und Terra hätte sie in ihre Arme geschlossen, doch sie wusste, dass
sie sie nicht akzeptiert hätte.
Niemand konnte Merkur spüren, woraus sie schlossen, dass er bereits weiter vorgedrungen
sein musste. Daher gab es für sie keinen Grund weiter zu verharren. Terra und Mars schritten
gemeinsam, von einer zögerlichen Venus gefolgt, voran.
Zu ihrer Erleichterung entdeckten sie, dass keine Leere zwischen ihnen und Sol lag, so dass
sie sich ohne Beschwerden dem Herz nähren konnten. Während sie voran schritten, wurde das
Herz immer gigantischer, bis es ihr gesamtes Blickfeld einnahm. Es war ein lodernder
Feuerball von imposantem Ausmaß. Terra berührte seine heiße Oberfläche und wusste, dass
ihre Mutter inmitten der Flammen auf sie wartete.
Venus ging voran, während sie stolz verkündete, dass Feuer ihr nichts anhaben könne. Als sie
das Innere des Herzens ließen Mars und Terra voneinander los. Die Flammen tobten und
wüteten in einem Sturm aus peitschender Hitze, doch Terra fand Gefallen an dem Feuer. Sie
fühlte sich in ihnen geborgen. Nach einiger Zeit verlor sie zuerst Venus, dann Mars aus den
Augen. Wissend, dass ihre Geschwister mit ihr gingen und dass ihre Mutter sich im Zentrum
befand, schwamm sie furchtlos durch das Flammenmeer.
Ein Tempel aus goldenen Säulen offenbarte sich ihr. Die Säulen tanzten mit den Flammen,
während Terra an ihnen entlang lief. Sie war zum ersten Mal in ihrem Leben an diesem Ort,
trotzdem gab er ihr das unauslöschliche Gefühl von Heimat. Sie öffnete die glühenden Tore.
Keine Dunkelheit. Finsternis.
Terra verspürte ein ähnliches Gefühl, wie in der Leere, doch war dieser Ort nicht durch die
Leere erfüllt, stattdessen durch eine scheinbar unendliche Masse. Der Druck drohte Terra zu
zerschmettern. Fürchte dich nicht, Kind. Hörte sie die Stimme ihrer Mutter sagen.
„Wo bin ich?“, fragte Terra unter Qualen.
Dies ist unser aller Zukunft. Terra verstand die Bedeutung der Worte nicht, doch die Stimme
ihrer Mutter beruhigte sie.
„Wo sind meine Geschwister?“, fragte Terra.
Hier mit uns. Antwortete ihre Mutter. Es ist an der Zeit, dass wir uns offenbaren.
Die Finsternis wich und die Dunkelheit wurde von Hunderten, Tausenden, Millionen und
Unendlichen Lichtern in verschiedenen Farben erfüllt.
„Sterne“, stellte Terra beeindruckt fest.
Sie bemerkte, dass sie nicht länger im Herz ihrer Mutter war. Sie wusste nicht wo sie war,
aber sie wusste, dass dieser Anblick sie von nun an ihr Leben lang begleiten würde. Für einen
Moment sah sie ihre Geschwister. Jupiters riesige Ausmaße ergriffen als erstes ihren Blick.
Dann sah sie Mars, Venus und Merkur. Schließlich bemerkte sie auch den schönen Saturn, den
ernsten Uranus und Neptun, welcher einen forschenden Blick auf die Sterne und Galaxien
warf. Plötzlich waren sie verschwunden und Terra sah nur noch ihr eigenes Herz vor sich. Sie
war wieder alleine in ihrer Sphäre.
Die Lichter der Sterne legten den vorstellbar längsten Weg zurück, um sie zu erreichen. Diese
Anstrengung kostete ihnen ihre Wärme und so waren sie für Terra nur noch unzählige Punkte,
welche aus einer unüberwindbaren Entfernung schienen. Terra verlangte es nach Gesellschaft.
Als sie die Sterne nach dem Besuch ihrer Mutter sah, war sie sich sicher, dass sie niemals
wieder Einsamkeit fühlen wird. Schnell musste sie jedoch schweren Herzens feststellen, dass
der Anblick der Sterne und das Wissen über die Fülle des Universums sie noch weiter trübten.
Sie fragte sich, ob sie die Weiten bezwingen könnte, wusste jedoch im selben Moment, dass
nur Licht dazu fähig war. Sie überlegte, ihrer Mutter ihre Beschwerden vorzutragen und
verwarf die Idee sogleich. Schließlich beschloss sie, ihren Bruder Mars zu besuchen.
Die Leere zwischen den Sphären verstörte und bedrückte sie so stark wie nie zuvor. Sie war
sich nun sicher, dass sich dieses Gefühl jedes Mal in seiner vollen Stärke zeigen würde, sollte
sie ihre Sphäre verlassen. Es war der Preis, den sie und ihre Geschwister zu zahlen hatten.
Mars betrachtete die Sterne und versuchte sie zu zählen. Er hatte sich schon häufig bemüht
ihre Anzahl festzustellen und fast genauso häufig hatte er dieses Unterfangen aufgeben. Er
brach auch diesen Versuch ab, als er die Präsenz seiner Schwester vernahm.
Die Sphäre ihres Bruders war trocken, aber dennoch vermittelte sie ein Gefühl von Hoffnung
und Geborgenheit, eine Zusicherung, dass in ferner Zukunft dies eine neue Heimat sein
könnte. Ihr Bruder eilte zu ihr. Erst jetzt bemerkte Terra, dass er in einem angenehmen,
sanften Rot schimmerte.
„Was gibt’s?“, fragte Mars gleichgültig.
Terra betrachtete ihn einige Augenblicke, in denen absolute Stille herrschte. „Ich fühle mich
furchtbar einsam. Jeder Moment schmerzt mich mehr als der Vorherige. Wie könnt ihr alle
diese Isolation nur ertragen?“, klagte sie schließlich.
Mars machte eine ratlose Geste. „Merkur hat Vater, Venus hat sich selbst und unsere
Geschwister jenseits der seelenlosen Asteroiden haben ihre Monde“, erklärte er.
„Und was ist mit dir, Mars? Ist die Einsamkeit keine Last für dich?“, fragte Terra.
„Manchmal wird es etwas langweilig, dann zähle ich die Sterne. Um ehrlich zu sein
interessiert es mich nicht, wie viele es sind, aber wenn ich sie zähle, dann sehe ich genau hin
und bislang habe ich so bei jedem neuen Versuch etwas Neues entdeckt. Wenn das zu
langweilig wird, warte ich bis Jupiter, du, Venus oder Merkur vorbei rasen und winke euch zu.
Ihr winkt aber nicht zurück“, sagte Mars.
Ein schreckliches Gefühl überkam Terra. Sie war all die Zeit so sehr mit ihren eignen
Schmerzen beschäftigt, dass sie ihren Bruder nicht bemerkt hatte. Sie wollte sich tausendfach
entschuldigen, doch Mars unterbrach sie.
„Es macht mir nichts aus. Genaugenommen ist es so spannender“, erklärte er. „Was deine
Lage betrifft, sollten wir Jupiter befragen.“
„Mars, mein liebster Bruder, du hast schon so viel für mich getan, ich kann von dir nicht
verlangen, dass du mich durch den Friedhof begleitest“, verkündete Terra.
„Ich wollte das Gestein schon immer aus der Nähe sehen.“, gestand Mars und nahm Terra
abermals an der Hand. Sie durchquerten die Leere. Diese unterschied sich von den Anderen. Das Gefühl von einer erdrückenden Orientierungslosigkeit wurde durch eine sonderbare Empfindung des Falles eingenommen. Terra wusste nicht, welches Gefühl schlimmer war.
Die umher fliegenden Felsbrocken boten einen tristen Anblick. Gestein, welches einst das
Potenzial zu Höherem besessen hatte, wartete neidisch auf eine Möglichkeit
selbstzerstörerisch auf die Herzen ihrer Nachbarn zu stürzen.
Terra und Mars schritten behutsam voran. Je weiter sie in den Friedhof vordrangen, umso
größer und verlassener wirkte er. Terra kam nicht umhin die toten Steine zu bedauern, doch
gleichzeitig fürchtete sie ihren Zorn. Beide waren sich einig, dass sie das Ende keinen Moment
zu früh erreichten.
Die Leere, welche zu Jupiter führte, vermittelte weder das Gefühl erdrückt zu werden noch
die Sensation des Falles. Es war die Anstrengung, welche mit einem Aufstieg einhergeht. Auch
dieses Hindernis konnten sie letztlich bewältigen und gelangten in die Sphäre ihres größten
Bruders.
Jupiters Welt war gigantisch. Selbst Raum, welcher denselben Platz einnahm, erschienen in
Jupiters Sphäre größer. Mars und Terra sahen das Herz. Es kam auf sie zu und wuchs dabei
immer weiter. Terra glaubte für einen Moment, dass es die Größe des Herzens ihrer Mutter
erreiche, doch als das Herz vor ihnen stand, waren seine Ausmaße kein Vergleich zu der
flammenden Kugel im Zentrum des Systems. Sie sahen die natürlichen Satelliten; die Leblosen,
sowie die Erwachten. Sie erkannten die eisigen Herzen des Ganymed, der Kallisto und der
Europa. Auch Ios temperamentvolles Herz entzog sich nicht ihrem Blick.
„Was tut ihr hier?“, fragte Io. Die Strenge in ihrer Stimme erschreckte Terra und Mars. Sie
begannen an ihrem Vorhaben zu zweifeln.
„Werden auf diese Weise Gäste begrüßt, welche unglaubliche Strapazen auf sich genommen
haben?“, fragte Europa. Ihre Stimme war kalt, doch gleichzeitig beruhigend.
„Ihr sucht Jupiter“, bemerkte Ganymed. „Er befindet sich auf der anderen Seite dieser
Sphäre.“
„Habt dank, verehrte Monde“, sagte Terra und bemerkte wie Io höhnisch auflachte.
„Hört ihr? Wir werden verehrt“, sagte Io voller Spott. „Von einem Planeten!“
„Io!“, rief Europa. „Ihr solltet kehrt machen und die entgegen gesetzte Richtung einschlagen.“
Mars zerrte Terra in die genannte Richtung. Die Monde verstörten ihn sichtlich. Jedoch war
es nicht Ios Schärfe oder Europas Kälte, sondern das unheilvolle Schweigen Kallistos, welches
ihm Unbehagen bereitete. Auch Terra hatte das Schweigen bemerkt und war dankbar dem
Herzen ihres Bruders den Rücken zu kehren.
Sie wanderten durch die Sphäre, über welche ein stürmischer Nebel zu hängen schien. Terra
glaubte, dass jeden Moment ein gewaltiger Orkan über sie herein brechen würde, doch das
einzige was sich ihnen offenbarte, war die endlose Welt Jupiters, bis sie Jupiter selbst
erblickten. Er war kleiner als Terra erwartet hatte, nicht größer als sein Herz. Sie fragte sich,
wie er es in seiner Hand halten konnte.
„Mars. Terra“ seine Stimme hallte an nicht existierenden Objekten wieder. „Es beschämt
mich, dass ich eure Anwesenheit nicht bemerkt und euch nicht sofort willkommen heißen
konnte. Was ist es, das meine wundervollen Geschwister dazu veranlasst hat, die größten
Herausforderungen zu meistern?“
„Es ist die Einsamkeit. Jupiter, du größter meiner Geschwister, kennst du in all deiner
Weisheit kein Mittel, welche mich von diesen Schmerzen zu befreien vermag?“
Jupiter schwieg und war in Gedanken vertieft. Er streichelte liebevoll mit seiner großen Hand
Terra. „Selbstverständlich werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um meiner kleinen
Schwester zu helfen. Doch dir ist bewusst, dass so wie alles auch dies seinen Preis hat?“
Er sah die Entschlossenheit in Terras Blick und ohne ein weiteres Wort streckte er seine
langen Arme durch die Leere bis in die Tiefen des Friedhofes. Weder Mars noch Terra konnten
erkennen, was Jupiter damit bezweckte. Ohne ein Wort der Erklärung nahmen seine Arme
wieder ihre gewöhnlichen Ausmaße an.
„Was ist es, das dich zu mir führt, Mars?“, fragte Jupiter.
„Err. Nun ... Ich wollte nur unsere Schwester begleiten“, antwortete Mars beschämt. „Warum
bleibst du so weit von deinem Herzen entfernt? Hast du es deswegen nie gesehen, wenn ich
dir zugewunken habe? Ich kann nur dein funkelndes Herz sehen.“
„Wenn du nur mein Herz, welches das wundervolle Licht unseres Vaters reflektiert, siehst,
wie kannst du dann wissen, ob ich dich zurück grüße?“ wunderte sich Jupiter.
„So etwas weiß man einfach“, erklärte Mars.
„Ich verstehe“, sagte Jupiter. „Ich bin hier, weil mein Herz zu groß ist. Das Universum muss in
einem Gleichgewicht stehen und ich bilde das Gegengewicht zu meinem eigenen Herzen.“
Mars verwunderte die Erklärung seines Bruders. Selbst hatte er noch nie den Einfall, sein
eigenes Herz auszubalancieren. Er fragte sich, ob es die Langeweile vertreiben könne.
Plötzlich spürte Terra einen unsagbaren Schmerz. Es fühlte sich an, als reiße etwas mit
brachialer Gewalt ihr Herz auseinander. Sie drohte, das Bewusstsein zu verlieren.
„Du solltest sie zu ihrem Herzen bringen“, sagte Jupiter gleichgültig.
„Was ist mit ihr? Was hast du getan, Jupiter?“, rief Mars, während er Terra in seinen Armen
hielt.
Jupiter gab keine Antwort. Mars stieg mit dem Gewicht seiner Schwester auf seinen Armen
die Leere hinab, er eilte durch das leblose Gestein, stieg die Leere wieder hinauf und rann
durch seine eigene Sphäre nochmals in die Leere. Seine Kräfte begannen zu schwinden, denn
seine Schwester war größer und schwerer als er. Dennoch gelang es ihm ihre Heimat zu
erreichen und in demselben Moment, indem er die Sphäre Terras erreichte, kehrte Leben in
ihren Körper zurück.
„Danke“, sagte Terra geschwächt.
Mars machte einen abfälligen Ton. „Das ist es, was Geschwister für einander tun sollten.“
Es war sein Herzenswunsch noch eine Weile nach seiner Schwester zu sehen, doch der Weg
hatte ihn zu sehr erschöpft und er musste zurück in seine eigene Sphäre.
„Du musst dich erholen“, sagte Terra.
Mit seinen letzten Kraftreserven erreichte er sein eigenes Herz.
Terra fand ihr Herz und es war nicht mehr allein. Ein Mond umkreiste es. Sie verstand, woher
der Schmerz gekommen war. Jupiter hatte einen der toten Steine auf ihr Herz geworfen und so
ein Stück aus diesem hinaus gerissen. Der, relativ betrachtet, große Satellit reflektierte das
Licht ihrer Mutter in einem wundervollen weiß und umkreiste seinen Planeten in einer
gebundenen Rotation.
„Sind sie nicht wunderbar anzusehen? Wie sie sich drehen, als tanzten sie unwissend über
die Dunkelheit, welche sie umgibt und zu verschlingen droht“, sagte Luna.
Sie stand neben Terra und beobachtete zusammen mit ihr ihre Herzen. Ihre Gewänder waren
so schwarz, dass sie alles hinter ihr verdeckten und mit den Schatten des Universums
verschmolzen. Nur ihr Gesicht leuchtete in einem blassen Weiß. Sie war ein mächtiges
Leuchten in der Nacht und mit dem Gedanken, verstand Terra das Konzept von Tag und Nacht,
sie begriff was Angst und Hoffnung waren und sie wusste was Liebe war.
„Könntest du auch etwas sagen. Diese Stille ist mir ein wenig unangenehm“, sagte Luna.
Luna war kleiner als Terra, doch wenn sie an die Größenunterschiede zwischen Jupiter und
seinen Monden dachte, war sie riesig.
„Du bist Luna“, sagte Terra.
„Luna?“ Luna überlegte. „Ja, ich denke das ist mein Name. Luna. Aber ich akzeptiere auch
Dame der Nacht als Anrede.“
Sie nahm Terras Hand in ihre zarten, leuchtenden Hände. Mit der Berührung überfiel Terra
eine Sensation, welche sie nicht ansatzweise verspürt hatte, als ihr Bruder sie an der Hand
hielt. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück.
„Verzeiht, Dame der Nacht“, entschuldigte sich Terra.
Luna lachte und Terra glaubte für einen Moment, dass gesamte Universum bestünde aus
ihrem Lachen. „Luna. Luna ist in Ordnung. Allerdings auch nur für dich, Caerula.“
„Mein Name lautet Terra“, erklärte sie gänzlich verwirrt.
Luna zuckte mit ihren Schultern. „Wir werden sehen.“, sagte sie. „Sind die Sterne nicht
erstaunlich? Ich habe sie alle gezählt, während ich auf dich wartete.“
„Wie viele sind es?“, fragte Terra.
„Viele“, antwortete Luna. „was wirklich Schade ist. Stell dir vor es gäbe nur einen einzigen
Stern. Ein Stern, welcher tapfer gegen die Unendlichkeit der Dunkelheit ankämpft.“
„Mir wäre es lieber, wenn es keine Sterne gäbe. Sie geben mir das Gefühl von
Abgeschiedenheit“, gestand Terra.
„Das ist ziemlich Finster von dir“, bemerkte Luna mit einem Lachen. „Du bist in Ordnung,
Caerula. Ich zeige dir was!“ Sie schwebte ein Stück und ihre dunklen Augen trafen Terras
Gesicht. „Entspanne dich“ Terra fühlte, wie ihr Geist ruhiger wurde. „Schließe deine Augen. Deine Gedanken.“
Ein neues Gefühl überkam Terra und obwohl es nicht unangenehm war, wehrte sie
sich dagegen. „Es nennt sich Schlaf“ Terra fiel in einen Schlaf. „und wenn wir schlafen,
träumen wir.“ Terra träumte.
Sie träumte von einem riesigen Ozean und einem Kontinent und wusste, dass es Meer und
Land gab. Sie träumte von Flüssen, die Berge hinunter rasten und sie wusste, dass keine Form
beständig war. Sie träumte von tobenden Stürmen an Küsten und trockenen Wüsten. Das Meer
tobte und das Land erschütterte.
Terra sah Luna hoch an dem von Sternen erfüllten Himmel leuchten und sie sah ihre Mutter,
welche das Schwarz der Nacht in das Blau des Tages tauchte. Sie sah, wie sie ihre Position
wechselten. Sie spürte Trauer und Freude, Beständigkeit und Veränderung, Tag und Nacht.
Etwas ergriff ihre Aufmerksamkeit. Sie wusste nicht was es war, bloß, dass es von
unglaublicher Wichtigkeit war, wichtiger als alles andere in ihrem System, wichtiger als viele
andere Systeme.
Terra erwachte.
„Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte sie verschlafen.
„Lange“, antwortete Luna.
„Hast du geschlafen?“
„Unwichtig", sagte Luna. „wichtiger ist dies hier.“ Sie zeigte auf eine bestimmte Stelle auf
Terras Herzen und sie wusste sofort was es war.
Es war Leben.
Leben auf einem Herzen war das am seltensten vorkommende Phänomen im gesamten
Universum, weshalb Terra zum Epizentrum aller interessanten Geschehnisse innerhalb der
Familie wurde. Alle richteten zumindest für einen kurzen Moment ihre Aufmerksamkeit auf
sie.
Merkur lief aufgeregt seine Bahnen entlang. Venus schenkte Terra einen flüchtigen Blick, nur
um sich dann wieder ihrem eigenen Wesen zu widmen. Jupiter war stolz, das Ereignis durch
sein Eingreifen möglich gemacht zu haben. Saturn war erfreut über die Entdeckung und
versprach, ein Bild in die Sterne zu malen. Die Monde Titania und Oberon veranstalten
gemeinsam mit Uranus ein Fest, welches niemals enden sollte. Sogar Neptun in all seiner
Zurückgezogenheit bemerkte Terra und fragte sich, ob er statt in die Weiten des Weltalls zu
schauen, nicht seinen Blick in die entgegengesetzte Richtung lenken sollte.
Von all ihren Geschwistern war Mars jedoch der einzige, welcher die Leere überwand und sie
besuchte. Zu dritt betrachteten sie, wie sich die einfachen Zellen in primitive Lebewesen
entwickelten, welche bald die Meere, die Lüfte und das Land eroberten. Leben ließ sich überall
auf dem Herzen finden und je weiter es sich entwickelte, umso gespannter waren ihre
Geschwister. Nur ihre Mutter Sol wirkte besorgt und voller Melancholie.
„Ich bin schon zu lange hier.“ sagte Mars, als die Kinder Terras ihre gigantischen Ausmaße
erreicht hatten. Zwei- und vierbeinige Reptilien waren die Herren des Planeten. Ob Sol die
Landmassen erhellte oder Luna in den Tiefen der Nacht Licht schenkte, sie waren die Könige
ihrer Welt und alle anderen Bewohner waren ihre Beute.
„Das ist nicht unbedingt gelogen“, stellte Luna fest.
„Sei nicht so unhöflich!“, warf Terra ein.
„Er weiß, dass ich Scherze“, erwiderte Luna.
„Auch ein Scherz kann schmerzen“, sagte Terra.
„Dir gefallen meine Bemerkungen“, sagte Luna mit einem Lächeln.
Terra antwortete mit einem unterdrückten Lachen.
„Ihr macht dann mal weiter. Ich bin weg“, verabschiedete sich Mars. „Wir sehen uns.“
Sowohl Terra als auch Luna gaben ihn zum Abschied eine feste Umarmung, welche Mars
sichtlich unangenehm war.
„Deine Saurier sehen fürchterlich aus“, sagte Luna, als sie wieder alleine waren. „Sie bestehen
nur aus Zähnen und Klauen.“
„Es sind unsere Saurier, Luna“, sagte Terra.
Die Aussage verwirrte Luna. „Als ich das letzte Mal nachschaute lebten auf meinem kalten
Felsbrocken keine Eidechsen“, antwortete sie.
„Du hast mich gelehrt zu Träumen und es waren diese Träume, welche mein Herz formten,
welche das Leben ermöglichten“, sie machte eine Pause. „Es waren die Träume und meine
Liebe zu dir.“
Terra richtete ihren Blick nicht von ihren Kindern, weshalb sie die Rötung in Lunas Gesicht
nicht sehen konnte.
Luna verwarf das Geständnis mit einem abwertenden Schnaufen. „Ich liebe dich auch“, fügte
sie nach einer Pause hinzu. „Denke ich zumindest. Nicht, dass ich überhaupt wüsste, was Liebe
ist ... Schließlich bin ich die Königin der Schatten und ...“ Sie bemerkte, dass Terra in den Anblick
ihres Herzens vertieft war und ihre Worte nicht zur Kenntnis nahm. „Was auch immer“, sagte
sie mit einem sanften lächeln.
Sie rückte näher an Terra und nahm ihre Hand in ihre. Ihre Herzen so verschieden, wie sie
unzertrennlich waren, schlugen im Gleichtakt. Millionenfach beobachteten sie, wie der
Kontinent aus den Schatten in das Licht und aus dem Licht wieder in die Schatten wanderte.
Sie sahen die immer wieder auftretende Abfolge von Geburt und Tod. Die einzelnen Leben
waren voller Furcht und Anspannung, doch das Leben wuchs und wucherte. Es definierte die
Eigenschaften eines Wunders.
Vertieft ineinander und in das Schauspiel, welches sich ihnen bot, hätten sie bis zum Ende
der Existenz verharren können. So abgeschieden von der restlichen Welt waren sie, dass sie
die todbringende Gesteinsmasse nicht kommen sahen. Erst als er mit einem abscheulichen
Knall das Leben in Flammen und Rauch hüllte, bemerkten sie ihn.
Terra war kalt, doch sie fror nicht. Als der Meteorit einschlug fiel sie in Schock und hätte
beinahe Lunas Hände zerdrückt. Sie schrie und tobte, so dass all ihre Geschwister sie hörten.
Bemühungen seitens Luna, Terra zu beruhigen scheiterten, bis sie hinfort gestoßen wurde und
weitere Versuche aufgab. Auch Mars, welcher heran gestürmt kam, gelang es nicht, zu ihr
durchzudringen. Die Kräfte verließen Terra und sie fiel schließlich in eine tiefe, in
Verzweiflung getränkter Stille. Sie verbrachte jeden Augenblick damit, ihr hinter dunklen
Wolken verstecktes Herz anzustarren. Bloß zu einem einzigen Anlass richtete sie ihren Blick
auf etwas anderes.
„Ich sehe mir das nicht mehr an, Caerula“, sagte Luna und alles was Terra noch von ihr
erkennen konnte, war ein letzter kurzer Blick auf ihren dunklen Rücken, welcher von den
Strahlen ihrer Mutter erhellt wurde. Erst in diesem Moment bemerkte sie, dass sie noch nie
zuvor ihren Rücken gesehen hatte. Es war ein schöner Rücken, dessen Krater und
Verletzungen von der Hingabe zeugten, mit welcher er das Wesen, das er liebte, vor den
Gefahren aus dem All schützte.
Bislang hatte sie ihre Trauer in sich bewahrt und behütet. Tränen verließen ihren Körper,
doch war niemand mehr anwesend, um sie zu bedauern. Nachdem die letzte Träne vergossen
war, fühlte Terra keinen Schmerz mehr, aber auch Freude war ihr fremd. Kein einziges Gefühl
regte sich noch in ihr. Nicht einmal ihre eigene Gesellschaft war ihr geblieben. Unter absoluter
Einsamkeit nahm sie ihr Herz in beide Hände und begann es zu zerdrücken.
Die Leere war nicht annähernd so grausam wie Terras Anblick.
Zunächst begrüßte Luna die Endlosigkeit des Nichts, doch als sie die andere Seite nicht zu
erreichen drohte, intensivierte sich ihre Schuld, Angst und Trauer. Erst als die Verzweiflung sie
in zwei zu teilen drohte gelangte sie aus der Leere in die nächste Sphäre.
„Luna?“, fragte Mars erstaunt.
Sie studierte ihren eignen Körper. „Tatsächlich!“, antwortete sie sarkastisch.
„Aber was ...“ Luna schritt ohne ihn anzuhören weiter.
Was verstünde Mars von ihrer Lage? Mars war immer alleine gewesen und ihm gefiel die
Abgeschiedenheit. Ein Wesen mit solch einer Beschaffenheit konnte nichts von dem Schmerz,
welcher mit Verlust einhergeht, wissen. Es war unmöglich für ihn, die Leid bringenden Seiten
der Einsamkeit zu begreifen, glaubte Luna.
Luna verließ die Sphäre und begann zu fallen. In einer Welt, in welcher Richtungen als
Entfernen und Annähern definiert waren, war Fallen eine erstaunliche Erfahrung, zu der ein
passender Vergleich fehlte. In einer Welt wie dieser brauchte ein Fall keinen Aufschlag, um zu
töten.
Der Friedhof fühlte sich lebendig an. Die Wut und der Neid, welche in den leblosen Brocken
loderte, verstärkten sich als Luna die Sphäre betrat. Mit welchem Recht besetzt du einen Platz
neben einem Planeten, obwohl du nicht mehr bist als wir. Schienen sie zu sagen. Jeder Stein jeder Felsen, drohte sie zu zerschmettern. Sie begann zu rennen und zu schreien. Sie erreichte
Jupiters Sphäre ohne überhaupt zu bemerken, dass sie den Aufstieg gemeistert hatte.
Vor ihr erstreckte sich das Herz Jupiters in all seiner Größe mit seinen vielen Monden von
denen nur Europa und Ganymed anwesend waren.
„Jupiter ist auf der anderen Seite“, sagte Ganymed automatisiert.
„Was für eine fürchterlich interessante Information“, antwortete Luna.
„Du suchst nicht nach ihm?“, fragte Europa.
„Nein“, sagte Luna. „Wo sind die anderen? Kallisto und Io.“
„Kallisto ist fort und Io sieht nach Jupiter“, erklärte Ganymed.
„Wohin gehst du, Luna?“, fragte Europa. „Bleib doch eine Weile bei uns. Wie ist das Befinden
Terras?“
Wohin ging sie?
Sie wusste es nicht, nur dass sie gehen musste. „Danke, aber ich muss
weiter.“ Sie überlegte Jupiter zu besuchen, schließlich hatte sie ihm ihr Leben zu verdanken.
Sie überlegte, ihm in sein Gesicht zu schlagen und ihn in eines der mysteriösen Schwarzen
Löcher zu werfen, welche sie einst beobachten konnte. Einst sah sie ständig zu den Sterne,
doch seit einer Ewigkeit hatte sie sie nicht mehr betrachtet.
Luna ging weiter voran und betrat die Leere.
Merkur raste um seine Mutter. Er hatte die Schmerzen seiner Schwester gehört und wollte
ihr zueilen, einerseits um ihr beizustehen und andererseits aus Neugierde. Schließlich
verstummten die Klagen und Merkur verwarf zunächst die Idee sie zu besuchen, bis er
feststellte, dass die Stille unerträglicher war als der Zustand zuvor. Er rannte durch die Leere
und durch die Sphäre seiner anderen Schwester. Es war kein angenehmer Flug, doch er hatte
es sich weitaus schrecklicher vorgestellt.
Für einen Momente glaubte er, Terra sei tot. Sie hatte ihre Hände fest um ihr Herz
geschlossen und ihr Körper strahlte keinerlei Energie aus. Neben ihr stand erschöpft Mars.
Merkur lief zu ihnen und bemerkte, dass seine Schwester noch lebte, doch fühlte sie sich mehr
wie die Leere zwischen den Sphären, als wie ein lebendes Wesen an.
„Wie lange stehst du hier schon, Mars?“, fragte Merkur.
„Lange“, sagte Mars langsam.
Es war ihm anzusehen. Anders als Monde, bezogen Planeten ihre Energie aus ihren Sphären
und konnten nur innerhalb dieser überleben.
„Du solltest nach Hause gehen“, schlug Merkur vor.
„Nach Hause?“, fragte Mars. „Weißt du ... das hier ist, glaube ich, immer noch besser als ständig
alleine zu sein.“
„Mars“, drängte Merkur besorgt.
„Warum schicken mich alle weg?“, fragte Mars müde, während er die Sphäre verließ.
Merkur versuchte vergeblich, mit Terra zu kommunizieren. Sie zeigte keine Reaktion
auf seine Bemühungen. Er betrachtete ihr Herz. Es war eine Welt aus Wolken, Asche und
Eruptionen. Er wischte die Wolken zur Seite und blickte durch Rauch und Lava, erhob Erde
und bewegte Berge.
Sie lebten versteckt und geschützt vor der Finsternis, welche ihre Welt geworden war, doch
sie lebten, und wenn der Zorn des Einschlags abgeklungen war, sollten sie die Welt erobern.
„Terra!“, schrie Merkur in seiner kindlichen Stimme.
Das Leben kehrte zurück.
Saturn war objektiv das schönste Mitglied der Familie. Seine Sphäre war angereichert mit
Inspiration und Kreativität. Der Ring, welcher konzentrisch um sein Herz lag, erregte
unbestreitbar die meiste Aufmerksamkeit. Seine perfekte Form passte sich ebenso perfekt an
die Form, Größe und Farbe des Herzens an. Es wirkte inszeniert, doch hätte natürlicher nicht
sein können.
Es war nicht die Schönheit Saturns oder die seines Herzens oder dessen Ring, von dem Luna
ihren Blick nicht nehmen konnte. Es war der Mond Titan. Sie waren nicht gleich, denn das war
unmöglich. Möglicherweise waren sie sich nicht einmal ähnlich, aber sie besaßen eine
Gemeinsamkeit, welche weder übersehen noch verleugnet werden konnte.
„Ich weiß. Sie haben etwas nicht bestimmbares, das sie verbindet. Nicht selten kreisten
meine Gedanken um eben dieses Phänomen. Ich vermute es ist Potenzial. Terra hat ihr
Potenzial umgewandelt, während Titan sich in Ruhe befindet, was wiederum ein Segen für
mich ist, denn nichts ist so inspirierend, wie ruhendes Potenzial“ erklärte Saturn.
Luna konnte den Anblick kaum ertragen.
„Wie ergeht es ...“, begann Titan zu fragen, doch er änderte seine Frage im letzten Moment.
„Jupiter und seinen Monden?“
„Ich habe nur zwei der Monde getroffen und die haben sich nicht beklagt“, sagte Luna.
„Verständlich, dass sie es nicht mit ihm ertragen“, sagte Titan. „Als ich ihn zuletzt sah, sprach
er nur von dem Einfluss, welchen er auf die Entwicklung des Lebens hatte. Natürlich nimmt
niemand seine Worte ernst. Dieser Planet ist nichts als Luft.“
Die Art und Weise wie Titan über die Ereignisse sprach verärgerte Luna zutiefst. Die
Tatsache, dass er sie dabei immer noch an Terra erinnerte verschlimmerte die Situation nur.
Sie wollte weiter ziehen, doch Saturn hielt sie auf.
„Warte, Luna“, sagte er. „Verzeih ihm bitte. Er kann durchaus ungehobelt sein. Wieso bleibst
du nicht bei uns? Ich bewundere deine Schönheit. Nein, es ist keine Schönheit. Schönheit ist
gewöhnlich. Sie lässt sich überall finden, wenn sie mit dem richtigen Auge betrachtete wird.
Deine Gestalt und deine Existenz ist Kunst. Deine dunklen Gewänder, Augen und, wie nanntest
du sie... Haare! sie stehen in einem Kontrast zu deinen hellen Händen und blassem Gesicht,
drohen sie zu verschlingen oder von ihnen verschlungen zu werden. Dazu bist du das Symbol
der Nacht, spendest aber Licht in den dunkelsten Stunden. Du bist die Hoffnung in der
Finsternis oder das Schrecken in dem Wunder der Dunkelheit. Selbst diese Unterschiede in
der Betrachtungsweise gehören zu dir. Du bist ein wahres Kunstwerk, Luna.“
„Wie ist der Ring entstanden?“, fragte sie nach einer kurz anhaltenden Stille.
„AH!“, rief Saturn dramatisch. „Mein Meisterwerk! Solch eine Tragik! Einst lebte ein Mond in
meiner Umlaufbahn, nein ... ich durfte in seinem Zentrum leben. Unsere Anziehung und Liebe
war so stark, dass wir immer näher aneinander gezogen wurden, bis meine eigene Gravitation
ihn zersprengte und er in einem letzten Akt der Leidenschaft dieses Gebilde schuf.“
Luna war angewidert. Sie lachte. „Deine Kunst hat deinen Liebsten zerstört. Das einzige
Wesen, welchem deine Kunst etwas bedeuten sollte, kann sie nicht mehr bewundern.“
„Ja! Ich wusste, dass du ein Auge für die Kunst hast. Du musst bleiben! Die Ironie ist es,
welche dieses Kunstwerk vollendet! Es ist wunderbar!“, verkündete Saturn.
„Nein, es ist bescheuert“, sagte Luna und verließ sie.
Immer wieder erschreckte es sie, wie unfassbar Schön sie war. Es handelte sich dabei um
keine Selbstverliebtheit. Es war eine schlichte Feststellung. Venus hatte nur die Hälfte von dem
gehört, was Jupiter gesagte hatte. Er ergriff grob ihren Arm. Sie riss sich los.
„Fass mich noch einmal an und ich vergesse all unsere familiären Verhältnisse!“, schrie sie.
„Dann höre mir zu! Intelligentes Leben! Verstehst du diese Worte nicht? Es ist das größte, das
überhaupt vorstellbar ist. Es existiert nichts in diesem Universum, welches es übertreffen
könnte. Wenn es sich erst richtig entwickelt hat, wird sich keine Seele mehr an deine
Schönheit erinnern. Wir ...“
Er wurde von einem lauten Gelächter unterbrochen.
„Jupiter, das einzige was dieses intelligente Leben vollbringen wird, ist meine Schönheit zu
bewundern. Wirf du nur weiter deine Steine, möglicherweise erschaffst du noch etwas
Größeres als intelligentes Leben, was mich dann vergöttern kann“, erklärte Venus und lachte
weiter.
Verärgert verschwand Jupiter in der Leere.
Es erwies sich als immer schwieriger die Leere zu durchdringen, doch Luna gelang in die
Sphäre des Uranus.
„Verschwinde!“, hörte sie Uranus rufen. „Ich habe genug von euch Monden und euren
Spielchen.“
Luna erschreckte nicht. Vor ihr standen Uranus in Begleitung von Titania und Oberon. Er war
groß, kleiner als Saturn und Jupiter, aber immer noch von einschüchternder Größer. In der
Ferne konnte Luna sein hellblaues Herz erkennen.
„Spielchen? Wir treiben doch keine Spielchen“, sagte Titania.
„Keine Sorge. Ich hatte nicht vor zu bleiben“, erklärte Luna.
„Was willst du dann hier? Ihr Monde glaubt, ihr könntet einfach überall durchmarschieren,
wie es euch beliebt und eure finsteren Pläne schmieden, aber nicht hier, denn ich habe nicht
vergessen, wie Phobos Mars ermordete, um seinen Platz einzunehmen!“, sagte Uranus zornig.
„Du bist paranoid. Niemand hat Mars ermordet. Er verstarb in der ersten Phase seines
Lebens. Es ist tragisch, aber gelegentlich ergeht es Planeten so“, erklärte Oberon müde. „Doch
genug davon. Wir haben Besuch, welcher einen langen Weg auf sich genommen hat. Wir
sollten ein Fest ihr zu Eh...!“
„Keine Feste!“, schrie Uranus. „Ich habe genug von euren Festen.“
Uranus wirkte tatsächlich paranoid auf Luna, doch sie konnte den Monden noch weniger
trauen.
„Sagen wir einfach, dass wir alle verrückt sind“, schlug Luna vor.
„Verrückt!?“, brüllte Uranus. „Siehe ihn dir an. Sieh` dir mein Herz an. Der Ring ist Zeuge
davon, dass ihr nicht einmal davor zurückschreckt eures gleichen das Leben zu nehmen. Alles
was ihr wollt ist eine höhere Position. Heimtückische, machtbesessene Monster seid ihr!“
Luna sah wie das Herz näher kam und konnte den Ring erkennen. Plötzlich stand Uranus vor
ihr und hätte sie erschlagen, wenn Titania und Oberon seine Arme nicht festgehalten hätten.
Luna schreckte nicht zurück und bemühte sich um keinen Fluchtversuch. Mit müden Augen
starrte sie Uranus an.
„Was tust du, Liebes? Renne!“, rief Titania.
„Er ist wahnsinnig! Er wird dich erschlagen!“, fügte Oberon hinzu.
Sie starrte ihn weiterhin an. Schließlich beruhigte Uranus sich und verließ wortlos die drei
Monde. Oberon und Titania betrachteten sie skeptisch.
„Es macht wohl wenig Sinn, ein lebloses Leben zu nehmen“, sagte sie in einem sarkastischen
Tonfall.
„Du solltest gehen“, sagte Titania kalt.
Luna zuckte mit den Schultern und ging fort.
„Es ist vergebens“, sagte Jupiter. „Ich kann sie nicht überzeugen.“
„Dann müssen wir einen anderen Weg finden“, sagte Io. Jupiter erkannte an ihrem Blick, dass
sie bereits einen anderen Plan ausgearbeitet hatte.
„Die Reichweite der Lanze reicht nicht aus, um Terra aus deiner Sphäre zu erreichen“, erklärte Io.
„Doch eine andere Sphäre ist nah genug.“
Jupiter verstand. Er richtete seinen Blick jenseits des Herzens seines Vaters, wo er sein
eigenes Herz vermutete. Ein fortwährender Sturm tobte auf seiner Oberfläche, welcher als das
Auge des Jupiters bezeichnet wurde. Die Ursache dessen war der Schaft einer für die
sterblichen Seelen unsichtbaren Lanze, der in den dichten Gasen und Flüssigkeiten versteckt
schwebte. Jupiter wusste, dass diese Lanze die Macht besaß, das Leben eines Planeten
auszulöschen. Natürlich konnte es funktionieren. Er selbst hatte schon häufig an diese
Möglichkeit gedacht.
„Jemand wird für seinen Tod die Verantwortung übernehmen müssen“, sagte er. Er dachte
daran, dass sein Bruder unschuldig sei und den Tod nicht verdiene.
„Dieser jemand wird Phobos selbst sein“, sagte Io mit einem grauenhaften Grinsen. „Seit dem
tragischen Tod seines treuen Freundes ist die arme Seele fürchterlich traumatisiert. Es wäre
grausam ihm nicht das Leben zu nehmen“ Jupiter zögerte. „Jupiter, du bist der Mächtigste in
diesem System und wenn etwas Leben beherbergen sollte, dann dein Herz.“
Jupiters Herz war das größte, doch es bestand zum größten Teil aus Gasen. Der vergleichsweise winzige Kern befand sich im inneren. Jupiter wusste dies und das Wissen schmerzte ihn. Er empfand es als die schwerste Bürde, ein so gigantisches Erscheinen, jedoch gleichzeitig ein so kleines Potenzial zu besitzen.
„Du hast recht“, sagte er schließlich. „Es existiert kein anderer Weg.“
Ihr Grinsen entstellte ihr Gesicht. „Gut. Mars hat keinen Mond und sobald er verschwunden ist, wird jemand seinen Platz einnehmen müssen. Dein Einfluss auf deinen Vater sollte groß genug sein, um einen Nachfolger zu bestimmen“, erklärte Io.
„Mit dir in seiner Sphäre wird es kein Hindernis zu Terra geben“, beendete Jupiter.
„Siehst du? Es ist ein guter Plan“, sagte Io.
Ihre Ungeduld wuchs stetig, doch ihre Angst war größer, weshalb sie nicht nach Neptun
suchte. Luna sah die Felsbrocken jenseits der Sphäre Neptuns. Keine Leere trennte sie,
sondern ein fließender Übergang befand sich zwischen ihnen. Der Friedhof unterschied sich
von dem, welcher sich zwischen den Sphären der Planeten befand. Das andere leblose Gestein
wurde von den Persönlichkeiten der Planeten durchdrungen. In ihnen war etwas zu erkennen,
was ihre physische Form erweiterte. Es existierte eine Illusion von Leben. Die Asteroiden vor
Luna waren exakt das, wonach sie aussahen: Steine im Weltall. Sie waren nicht tot, nicht
lebendig, sie hatten nie das Verlangen zu leben oder ein Verlangen überhaupt. Ihr Anblick
verstörte Luna.
„Faszinieren sie dich?“, fragte Triton.
„Sie sind nicht mehr, als das was sie sind. Ich wusste nicht, dass es so etwas geben kann“
antwortete Luna. „Unheimlich“, fügte sie hinzu.
„Ja“, sagte Triton. „Wie das Gegenstück zu uns, welche außer ihrer Herzen keine physische
Form besitzen, aber dennoch das Universum erfüllen könnten.“
„Wann wird Neptun zurückkehren?“, fragte Luna nach einer langen Pause. Sie hatte die Frage
bereits gestellt.
„Sobald seine Kräfte schwinden“, erklärte Triton.
Luna versuchte sich auf die Gefühle, welche die Sphäre Neptuns ihr vermittelte, zu
konzentrieren. Sie fühlte Ruhe, Wissen und den Blick in die Unendlichkeit. Das Heulen der
Nacht erhalte in ihren Ohren, das Wasser der Ozeane streichelte sanft die Küsten und eine
leichte Brise kämmte durch Wiesen. Luna fiel in keinen Schlaf, doch in eine schlafähnliche
Trance.
„Luna. Du bist bereits der zweite Mond, welcher mich aus einer anderen Sphäre besucht“,
sagte Neptun. Seine Gestalt war überraschend dünn und lang. „Was hast du gesehen?“
„Die dunkle Seite meiner Augenlider“, antwortete sie.
Neptun war von seiner Reise noch erschöpft und Lunas Antwort ermüdete ihn noch weiter.
„Sarkasmus und Zynismus sind effektive Methoden, um dich gegen die Grausamkeit der Welt
zu schützen, aber letztlich sind sie ineffizient, da sie dir mehr schaden als die Welt es jemals
könnte“, erklärte er.
„Gut“, antwortete Luna. „Wer hat dich vor mir besucht?“
„Kallisto“, sagte Neptun kurz.
„Und was wollte sie?“
„Warum bist du hier, Luna?“, fragte er, doch Luna antwortete nicht. „Sie wollte das einzige,
was ich geben kann: Wissen“, fügte er nach einer Weile hinzu „Es existiert eine Unmenge von
Wissen innerhalb und außerhalb dieses Systems. Wissen, das verloren ging und Wissen, das
vergessen wurde, aber es gibt kein unbekanntes Wissen. Wir tragen jede Information
verschlossen in uns.
Immer wenn ich auf meinen Exkursionen etwas scheinbar Neues entdeckte, musste ich
unmittelbar feststellen, dass ich dieses Geheimnis bereits zu einer anderen Zeit, in einem
anderen Leben gelüftet hatte.
Genauso wie unser System wird auch das Universum nicht ewig existieren. Es zerfällt und
mit ihm zerfallen auch wir, nur um dann neu zu entstehen. Ein Prozess, welcher sich bereits
unzählige Male wiederholt hat. Und aus diesen vorherigen Leben haben wir jenes Wissen.“
„Wann kommt das Ende?“, fragte Luna unsicher, doch Neptun antwortete nicht. „Unsere
Herzen entfernen sich. Nach jedem Moment, jeder Umdrehung entfernen sie sich ein winziges
Stück weiter. Es geschieht mit langsamer Geschwindigkeit, aber es geschieht und es wird die
Zeit kommen, da werden unsere Herzen getrennt sein.“
„Es sei denn das Ende kommt zuvor über uns. Hast du deswegen diese Odyssee bewältigt?
Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten?“, fragte Neptun und wartete die Antwort nicht
ab. „Ich kann sie dir nicht geben, denn sie befindet sich jenseits meines Wissens. Ich fürchte du
musst selbst entscheiden, ob du das Risiko auf dich nimmst, Kind“ er legte liebevoll seine
große Hand auf ihren Kopf und Luna fühlte sich wirklich wie ein Kind.
Eine Welle, welche sich schneller als das Licht bewegte, durchdrang das Sternensystem und
all ihre Bewohner richteten ihren Blick auf den selben Punkt.
Fürchterliches war geschehen.
Mars beobachtete die Menschen dabei, wie sie auf seinem Herzen eine Basis errichteten. Er
war froh darüber, dass die Kinder Terras ihn besuchten, doch die kleinen metallischen Wesen,
welche sie zuvor zu ihm geschickt hatten, hatten ihm besser gefallen. Sie rollten über seine
Landschaften und untersuchten neugierig jeden Winkel. Mars erkannte, dass sie ihre Energie
über schwarze Flächen bezogen, da sobald diese mit Sand überzogen waren, sie sich nicht
mehr bewegen konnten. Um ihnen die Energiezufuhr wieder zu ermöglichen, verursachte
Mars kleine Stürme, welche den Sand wegfegten. Er beschäftigte sich mit ihnen solange bis die
menschliche Rasse persönlich auf ihm landete. Nervös betrachtete er, wie sie aus weißen
Zylinder Förmigen Objekten ausstiegen und seine Oberfläche betraten.
In Stoffen gehüllt, bauten sie sich eine Überdachung, in welcher sie aßen, scherzten und
arbeiteten. Sie faszinierten Mars und er verbrachte jeden Augenblick damit sie zu studieren.
„Mars“, sagte Jupiter.
Als Mars sich umdrehte, bohrte sich eine lange Lanze durch ihn hindurch bis in sein Herz.
Dort wo sie einstach, entstand ein gewaltiger Sandsturm und die Menschen liefen in Panik in
ihre Behausung.
„Sie sehen dir ähnlich“, sagte Terra.
Luna war von ihrer Reise noch erschöpft. Auf ihrem Rückweg hatte sie niemanden
angetroffen. Sie hatte sie alle gemieden, bis sie Mars' Sphäre erreichte, wo sie nach seinem
Herzen suchte. Die Lanze ragte noch aus seinem Herzen, doch sein Körper, sein Geist und
seine Seele hatten sich wieder in den Kosmos gewoben. Der Gram wog schwer und auch Terra
war er anzusehen.
„Du siehst schrecklich aus, dein Herz auch“, sagte Luna, doch sie bemerkte auch, dass es nicht
nur der Verlust ihres Bruders war, der Terra bekümmerte. „Deine Kinder haben es geschändet
und verwüstet.“
„Sie sind nicht schlecht, Luna. Es ist tragisch. All das Leid, welches sie sich gegenseitig
zufügen, rührt von ihrer Unfähigkeit zu erkennen, dass sie Wesen des Wandels sind.
Stattdessen streben sie nach Definitionen und Allgemeinheit, wodurch sie sich selbst in den
Ruin treiben. Ich konnte sie so viel lehren, aber nur dies nicht. Sie lernten die Namen meiner
Geschwister, die Philosophie und die Liebe und sie lieben dich. Die Liebe einiger zu dir ist
sogar größer als ihre Zuneigung zu Mutter. Sieh doch nur.“ Sie zeigte auf den weißen Brocken,
welches Lunas Herz war.
Ein bemalter Stofffetzen, welcher an einer metallischen Stange befestigt war, war in seine
Oberfläche gerammt.
„Wir müssen zu Sol. Dein Bruder ist tot“, sagte Luna und half Terra sich zu erheben.
Ihre Blicke trafen sich für einen niemals endenden wollenden Augenblick. Luna berührte sie
mit ihren Lippen und Terra berührte ihre Lippe und für diesen Augenblick teilten sie alles.
Alles, was sie berührt, alles, was sie gesehen, alles, was sie geschmeckt, alles, was sie gefühlt,
alles, was sie geliebt und gehasst hatten. Sie teilten jedes Wissen und jede Idee, welche sie
erlangt und erdacht hatten. Ihre Herzen kreisten und verhüllten nacheinander das Licht Sols.
Es war kein Kuss. Es war kein Lied. Es war eine Hymne, von allem was ist, was gewesen war
und was kommen sollte.
Es entspräche nicht der Wahrheit zu behaupten, dass sie ab diesem Moment einander
verstanden, dass all ihre Differenzen beseitigt waren, doch für diesen einen Moment waren
diese Dinge belanglos.
Sie ließen voneinander ab, doch ihre Hände blieben beieinander.
Zivilisationen mussten errichtet und gestürzt werden, Landmassen verschoben und Götter
gefällt, bis beide wieder für einen Augenblick bedingungsloses Glück fühlen konnten. Hand in
Hand verließen sie die Sphäre und Hand in Hand betraten sie das Reich Sols.
Wände aus Flammenmeer und Böden aus manifestierter Energie. Die Form des Herzens Sols war
unbegreiflich. Alle Planeten und sogar ihre Monde waren in Trauer zusammen gekommen.
„Die Mehrzahl von uns wusste um den tragischen Zustand unseres Bruders, dennoch erfüllt
sein Ableben unser aller Herzen mit unendlichen Schmerzen“, sagte Jupiter. „Er war ein
sensibles Wesen, welches von Mitgefühl und Empathie für seine Geschwister erfüllt war. Es ist
die grausame Ironie der Realität, dass eben diese wundervollen Geschöpfe anfällig für
Melancholie und Trauer sind.
Es ist mir verborgen, wie er es vollbringen konnte die Lanze aus meinem Herzen zu ziehen
und sie für eine so grauenhafte Tat zu benutzten. Ich trage Schuld und Verantwortung,
weswegen ich einen meiner Monde opfere, damit sie seinen Platz einnehmen kann.“
Einige Stimmen des Beifalles und weniger der Abneigung waren zu hören, doch die meisten
enthielten sich. Jupiter erklärte, dass Io die Bürde übernehme und schließlich wurden die
Gegenstimmen vollständig übertönt.
„Ich danke euch ihr großartigen Planeten und Monde“, sagte Io. „Doch kann ich diese
Verantwortung nicht übernehmen. Mein Herz ist voller Schuld, denn ich kenne die Wahrheit,
welche ich nicht länger für mich behalten vermag. Mars nahm sich nicht das Leben. Es war
Jupiter, welcher ihn in seinem Wahnsinn erstach!“
Unruhe breitete sich aus.
„Dies ist eine Lüge. Wir alle wissen, dass es im Wesen eines Mondes liegt zu betrügen“, sagte
Jupiter ruhig und die Unruhe vergrößerte sich.
Terra und Luna wechselten einen sorgenvollen Blick. „Warum hast du ihn belogen, Jupiter?“,
fragte Terra.
Stille.
„Wovon sprichst du, Schwester?“, fragte Jupiter noch immer ruhig.
„Du erzähltest ihm, dass du die Masse deines Herzens mit deinem eigenen Körper
ausbalancierst, doch unsere Körper besitzen keine physische Form. Es ist unmöglich für sie als
ein Gegengewicht zu fungieren.“
Die Stimme ihrer Mutter, ihres Vaters durchbrach die Stille.
Entspricht dies der Wahrheit, Jupiter?
Er konnte seinen Vater nicht belügen, nicht wenn er ihn direkt ansprach. Jupiter schwieg.
Das unehrliche Wesen Jupiters wurde erkannt. Io, du hast die Wahrheit gesprochen. Du sollst
das Urteil vollstrecken.
Die Form des Herzens nahm eine konkrete Gestallt an. Die Flamen öffneten einen weiten Raum an dessen Seiten Bänke waren, auf denen die Planeten Platz nahmen. Jupiter erhob sich und bewegte sich in die Mitte des Saals. Io folgte ihm mit der Lanze in derHand.
Seine Monde sollen das Urteil fällen.
„Tod durch die Lanze“, verkündete Io.
„Tod durch Fall!“, rief Kallisto.
Wissen. Antikes Wissen. Urzeitliches Wissen, welches durch das alleinige Aussprechen in
Erinnerung gerufen wurde. Der Fall war eine Hinrichtungsmethode, welche eine Lücke im
Gefüge öffnete, in der die Existenz des Verurteilten ausgelöscht wurde. Es gab weder ein
Fortbestehen als Energie, noch eine Rückkehr in einem folgenden Universum, für ihn. Jupiter
zeigte keine Regung, doch Io war entsetzt, denn die Öffnung des Gefüges kostete Unmengen
von Kraft, welche kein Wesen im Universum aufbringen und überleben konnte.
Luna und Terra sahen zu Neptun, welcher traurig Kallisto fixierte. Sie wussten, wie Kallisto an das
Wissen gelangt war.
„Tod durch Fall“, sagte Ganymed erbost über die Intrigen, welche Jupiter und Io offensichtlich
gesponnen hatten.
„Europa ...“, flehte Io.
„Tod durch Fall“, sprach Europa voller Trauer.
Saturn und Uranus brüllten, einer in Ekstase der andere in Wut, Merkur vergoss leise Tränen,
Neptun betrachtete still das Geschehnis und Venus kehrte zu ihrem Herzen zurück alsbald das
Urteil gesprochen war.
Io vollzog den Akt ohne letzte noble Wörter zu sprechen. Ein kleines Loch öffnete sich, aus
dem keine Dunkelheit, keine Finsternis und auch keine Leere hinaus drang, absolut nichts war
in ihm. Der Anblick verstörte alle anwesenden. Io fiel zusammen und ihr Körper ging in seine
nächste Form über.
„Danke“, sagte Jupiter bevor er fiel.
Europa übernahm die Aufgaben von Mars und Kallisto jene Jupiters. Ihre ersten Namen
verloren an Bedeutung und gerieten in Vergessenheit. Luna und Terra saßen in ihrer Sphäre
beisammen. Sie sahen zum riesigen glühenden Herzen in der Mitte des Systems.
„Eines Tages wird ihr Licht erlöschen und wir alle werden schwinden“, sagte Terra.
„Die Menschen haben Methoden entwickelt, um Zeit zu messen“, sagte Luna. „Sie richten sich
dabei an deiner Rotation und bezeichnen eine Umdrehung als Tag. Der aktuelle Tag wir Heute
genannt. Deine Kinder sind Idioten, als ob sich die Zeit auf diese Weise messen ließe, als ob sie
sich überhaupt messen ließe.“ Terra wusste dies natürlich. „Wie dem auch sei“, führte Luna
fort. „Eines Tages wird das Licht erlöschen, aber nicht heute und auch morgen nicht.“