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Burn-in
"Stefan! Hab dich ja ewig nicht gesehen!"
"Rainer?"
"Genau der!"
"Ist ja nett, dich mal wieder zu treffen. Was machst du denn so?"
"War gerade Blumen kaufen, und eine Packung After Eight. Daniela liebt die Dinger! Hat sich den Arm gebrochen, kann nicht arbeiten, und langweilt sich zu Hause zu Tode."
"Oh, das tut mir leid! Grüß sie mal schön von mir."
"Na klar, mache ich. Falls ich es nicht vergesse. Ist nicht böse gemeint, ich weiß bloß zurzeit nicht, wo mir der Kopf steht. Auf Arbeit ist die Hölle los. Abteilung wurde vergrößert, zig neue Kollegen."
"Ich glaube, da habe ich gerade schlimmere Sorgen. Außerdem ist doch spannend."
"Ja, aber der Chef hat ausgerechnet mich dazu verdonnert, die alle einzuarbeiten. Und die kapieren gar nichts! Ich hab da auch eigentlich überhaupt keine Zeit für. Auf meinem Tisch stapelt sich die Arbeit. Die Präsentation für die Investoren muss morgen fertig sein. Schon morgen! Und dann haben wir eine einstweilige Verfügung von einem Kunden bekommen, da müssen wir jetzt sofort reagieren. Mein Chef hat mir das wütend hingeknallt und nur gesagt 'regeln Sie das!', bevor er rausgestiefelt ist - als wäre das meine Schuld!"
"Klingt nach Stress. Aber bei mir–"
"Warte, geht noch weiter. Ich also vorhin schon total am Rotieren und frage mich, wie ich das alles schaffen soll, da geht mein PC aus. Sicherung rausgeflogen, weil so ein Idiot seinen Wasserkocher von zu Hause mitbringen und anstöpseln musste, damit er für seinen beschissenen Tee nicht die 20 Meter bis in die Küche laufen muss. Natürlich hatte ich die Präsentation noch nicht abgespeichert, vier Stunden Arbeit einfach futsch!"
"Wer arbeitet denn vier Stunden an etwas, ohne zwischendurch mal zu speichern?"
"Normalerweise speichere ich regelmäßig, aber in der Eile habe ich es einfach vergessen."
"Und dann?"
"Bin ich zu dem Kerl hin, und habe ihm ordentlich die Meinung gegeigt, zum Thema Wasserkocher an einer sowieso schon überfüllten Steckerleiste, wo zig Computer dran hängen."
"Oh oh, Rainer auf dem Kriegspfad."
"Da rennt das Arschloch doch ernsthaft direkt zum Chef und beschwert sich über mich! Das muss man sich mal vorstellen, haut aus purer Dummheit die Sicherung raus und hat dann noch die Nerven, sich über mich zu beschweren!"
"Moment, ich dachte, du hast ihm nur die Meinung gesagt?"
"Vielleicht habe ich mich etwas - na ja - derbe ausgedrückt. Es ist wohl das eine oder andere Schimpfwort gefallen. Mein Chef hat mir gleich an Ort und Stelle noch die Abmahnung ausgesprochen."
"Ich will wohl besser gar nicht wissen, was du alles zu dem Kollegen gesagt hast."
"Ich war halt sauer, hatte ja gerade meine ganze Arbeit der letzten Stunden verloren! Und nicht nur das. Weil ja begriffsstutzige Neulinge, eine Präsi für Investoren und einstweilige Verfügungen noch nicht reichen, haben sich für übermorgen die Wirtschaftsprüfer angekündigt. Sie hätten da ein paar Ungereimtheiten entdeckt und mein Chef hat sie natürlich direkt zu mir geschickt, ich könnte das bestimmt alles klären. Einen Scheiß kann ich! Ich hab mir das schon angeguckt und ich sage dir, die haben Recht, da ist was oberfaul. Irgendjemand hat Mist gebaut! Wie soll ich das denn bitte jetzt ausräumen?"
"Sei mir nicht böse, aber ich habe da auch gerade keinen Kopf für, mich plagen ganz andere Sachen. Vielleicht solltest du da einfach eine Nacht drüber schlafen, morgen sieht das alles schon viel besser aus."
"Morgen muss das alles schon längst erledigt sein!"
"Und trotzdem denkst du jetzt noch dran, Daniela was mitzubringen? Der Rainer, den ich von früher kannte–"
"Ja, ja. Wie könnte ich das auch vergessen!? Sie schreibt mir schon den ganzen Tag alle 20 Minuten eine SMS und nimmt es gleich persönlich, wenn ich nicht sofort antworte. Sie weiß zu Hause nichts mit sich anzufangen und ist offenbar der Meinung, ich müsste sie gefälligst von Arbeit aus unterhalten. Als ich nicht mehr geantwortet habe, sind ihre SMS immer böser geworden, bis gar nichts mehr kam. Da muss ich ihr wohl jetzt was mitbringen. Trotzdem wird sie unausstehlich sein, so wie gestern. Zu Hause ist es gerade fast noch schlimmer als auf Arbeit, am liebsten würde ich gar nicht nach Hause gehen. Aber ich habe heute schon locker 15 Stunden gearbeitet und erst Feierabend gemacht, als wirklich nichts mehr ging."
"Das klingt, als wärst du kurz vor dem Burn-out."
"Pah! Das war ja nur das, was in den letzten Tagen passiert ist. Eigentlich geht das schon seit Wochen nur noch so. Der Stress hat sich bei mir schon eingebrannt, 'Burn-in' sozusagen. Ich weiß, damit ist nicht zu spaßen, sagen sie ja auch immer in den Nachrichten."
"Ja. Ist bei mir auch alles gerade nicht lustig. Aber bei dir...vielleicht solltest du einfach–"
"Was? Kündigen? Hätte ich längst gemacht. Aber das Beste weißt du ja noch gar nicht: Daniela ist schwanger! Und sie weiß so gut wie ich, dass ich so schnell keinen anderen Job finde, der auch so gut bezahlt ist. Meint wir brauchen bald jeden Cent. Eine größere Wohnung, der Umzug, ich soll jetzt bloß nichts riskieren und so. Oh verdammt, von der Abmahnung habe ich ihr noch gar nichts erzählt, sie wird total ausflippen!"
"Du wirst Vater?"
"Das kommt noch dazu! Keine Ahnung, wann ich da auch noch die Zeit für haben soll. So langsam weiß ich echt nicht mehr weiter. Das ist doch alles–"
"Rainer!"
"Hat das alles überhaupt noch einen Sinn? Da kann ich doch gleich–"
"Rainer!!!"
"Was ist???"
"Ich war gestern zur Vorbesprechung für meine zweite Chemo. Der Krebs hat sich wieder weiter ausgebreitet. Der Arzt versucht, mir Hoffnung zu machen, aber ich bin ja nicht blöd."
"Du hast Krebs? Ist das jetzt ein schlechter Scherz oder so?"
"Leider nicht."
"Als wäre nicht alles schon beschissen genug! Komm, lass uns einen Trinken gehen. Ich muss dir unbedingt noch erzählen, was letzte Woche passiert ist. Du wirst nicht glauben, was die Kollegen..."