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Bunte Lichter reisen weit
Ein rotes Pulsieren. Schaltkreise, Seit Jahrhunderten im Wartezustand. Algorithmen lauschen in nachtschlafende Finsternis. Hintergrundrauschen. Summen. Seit den letzten Sonnenstürmen, unendlich weit entfernt. Summen.
Rote Schrift auf schwarzem Grund: Abweichung.
Eine Spitze im Grundsignal vom Anfang allen Seins. Der Datenspeicher erwärmt sich, Bits werden eingelesen, interpretiert. Das vierhundertsechsundzwanzigste mal. Eine wenn-dann Abfrage nach der Anderen untersucht das Signal.
Verdikt: Kein Kontakt.
Ein rotes Pulsieren. Seit Jahrzehnten im Wartezustand. Sieben komma sechszwoneun Lichtstunden seit dem letzten Analysedurchlauf der neu empfangenen Radiosignale.
Zickzack in Bernstein, golden, heimelig, Geborgenheit, suggeriert demjenigen glücklichen, den das System aktiviert, auf dass er die Routinemäßige Inspektion der Missionar durchführe. Leben, für zwei bis drei Stunden, alle paar hundert Jahre.
Die Regelmäßigkeit der Linien auf den verbliebenen Sarkophagen wirkt maschinell; Kein normaler Mensch, kein fühlender, erwählte sich freiwillig ein Leben als Toter. Es sei denn er strebte dereinst nach Profit, ermordete das sentimentale Gewese seiner Seele in Anbetracht der sterbenden Heimat. Vom damit der eigenen Vernunft abgetrotzten Mammon aber konnten hinterbliebene zehren. Welch Heldenmut, welch Noblesse. Diogene die bloß noch ihrer biologischen Eigenschaften wegen als Menschen bezeichnet werden können, kaum aber ob ihrer übermenschlichen Selbstvergessenheit, benötigen nichts, das eine Missionar nicht ohnehin böte.
Die Lieben zuhaus konnten essen und waren doch längst fort.
Ein oranges Rotieren. Keine Begleitmusik. Subjekt siebzehn hat sie deaktiviert, vorläufig. Siebzehn hatte es nicht geschafft, die Ursache des Alarms zu lokalisieren.
Späte Konsequenzen. Hitze im Kabelschacht. Drähte glühen in einem Dickicht von Leitungen. Isolation fängt Feuer und Rauch dringt in einen Sarkophag. Subjekt neunzehn schläft. Der dazugehörige Bernstein schnurgerade. Minuten danach findet der Atmosphärenwechsel statt.
Zickzack in Bernstein, Jahre danach. Eilig im Rhythmus, auf, ab, auf, ab, höhe null - und von vorne. Minutenlang. Die Kammer ein Flammenmeer das Vier zähmen muss. Die Anderen retten, dem Tod gegenüber treten und Held werden. Keiner nimmt davon Notiz. Am Ende werden zerfallende Schaltkreise ihre Aufzeichnungen wohl unbesehen mit ins Grab nehmen.
Eintrag ins Log:
Subjekte drei bis acht, elf bis siebzehn, neunzehn bis einundzwanzig, dreiundzwanzig bis neunundzwanzig entschlafen.
Überreste weitgehend zerstört.
Grund: Feuer.
Brandursache: Nicht feststellbar.
Anzahl verbleibender Diogene: sieben, fünf männlich, zwei weiblich.
Zustand Hibernationskammer: Einundzwanzig prozent funktionstüchtig.
Zustand Sarkophagenarray: Ausfallrisiko dreiundneunzig prozent.
Ein rotes Pulsieren. Schaltkreise, seit Jahren im Wartezustand, werten Signale aus, prüfen den Status Quo. Drei Sarkophage übrig. Algorithmen in Aktion, Analyse unkonklusiv. Signalstärke neun Prozent über Standard.
Zickzack in Bernstein. Spannung unregelmäßig. Nach Tagen erste Aussetzer, um null Uhr zweiundzwanzig des siebten zerbricht die Hoffnung auf Kontakt trotz mehrfacher Reanimationsversuche ein Stück weiter an den Grenzen menschlichen seins.
Ein rotes Pulsieren. Schaltkreise, seit Jahren im Wartezustand, erforschen eine Signalspitze. Fünfhundertundacht Prozent über nominal. Backupsysteme werden zugeschaltet, prüfen erneut.
Resultat: eindeutiger Kontakt.
Subjekt neunundzwanzig muss finale Feststellung vornehmen. Der Computer prüft Umgebungsdaten der Hibernationskammer, stellt erhöhten Kohlendioxidanteil fest. Im gefährlichen Bereich; Atmosphärenwechsel erforderlich.
Poren in blassgrauem Wachs, kein Teint. Die Augen geschlossen. Der Prozessor startet Routinen, Heizspiralen unter Strom. Stunde um Stunde für gerade drei Grad. Tage vergehen. Das Herz braucht Zeit.
Das Licht der Hibernationskammer wandelt sich. Bernstein. Morgenlicht gleich. Kameras fokusieren Lider, registrieren Bewegung. Die Augen geschlossen. Mikroimpulse schwappen durchs EEG in den Prozessor.
Diagnose: REM.
Surren. Summen. Ein Ventil öffnet mit wichtig aussehender Choreografie, Gas entweicht. Sarkophag achtzehn klappt auf, Hinter der Wand ein Knall, Zischen. Organgenes Blinken. Dieser Spalt lässt keinen hinaus. Ein Piepsen ruft um Hilfe. Eine Stunde lang.
Blauer Schimmer auf der Membran im Inneren des defekten Sarkophags. Sie wird porös sobald er sich vollständig geöffnet hat. Normalerweise stimmt das auch. In diesem Fall jedoch maximal beim eventuellen Ausfall beteiligter Baugruppen.
Diogenenschwund im fortgeschrittenen Stadium. Zweiundzwanzigtausendundachtundreißig Jahre ohne Kontakt. Jeder begründete Verdacht ist von Diogenen zu prüfen.
Rote Leitlinien am Boden. In gleichmäßigen Abständen gluckst eine Sirene. Rot blinkt auch der Schacht zum Ausstieg. Mit jedem An oder Aus der Leitlichter ein Klicken.
Die Missionar taumelt, als Metall über Metall schrammt. Ein Teil der Rückwandpaneele bricht in die Hibernationskammer. Verschmorte Kabel werden sichtbar. Verkohlte Schläuche wippen als wehte der Wind. Einer davon ist unter dem Schnellverschluss abgerissen und trägt die Zahl achtzehn.
An der äußeren Luke registrieren Sensoren Bewegung. Außenkameras starren in das Dunkel. Die Bildauswertungssoftware kann nichts aussergewöhnliches herausfiltern. Diogene sollen nicht im Ungewissen bleiben, womit sie es zu tun bekommen, doch das Infrarotspektrum ist gleichermaßen informationsgeizig wie der Ultraschall.
Rotes Leuchten durchbrochen von grünem Blinken rund um die mit einem Kreis markierte Luke nach draussen. Vakuum wird erzeugt.
Grünes Dauerlicht. Metallisch dumpf erklingt der Lukenmechanismus. Die Luke öffnet sich, ruckelt Stück für Stück zur Seite. An Klammern erinnernde Greifwerkzeuge packen den Rand der Luke, deren Beschichtung sich aus dem Staub macht. Sekunden später stemmt sich ein Wesen, bestehend aus einem Kugelkörper und fünf identischen Beinen, die gleichzeitig auch die Funktion von Armen erfüllen, gegen die Luke und bezwingt, was auch immer sich quer gelegt haben mag. Die Schiffe für Projekt "Gehet hin" hatten schon direkt nach ihrer Fertigstellung als Billiglösungen gegolten.
Vorsichtig bewegt sich der Besucher bis zur Mitte der Schleuse und dreht sich schließlich einmal im Kreis. Nach Beendigung der Drehung schnellt ein Greifer hin zur Schleusenkonsole, drückt wahllos auf der Konsole herum und verharrt für eine Weile. Als nichts geschieht, dreht sich das Kugelwesen auf seinen Greifern noch einmal im Kreis, wobei es seinen Körper in die Höhe schraubt. Es reckt einen Greifer bis knapp über die Kreistaste der Konsole. Erst nach Minuten scheint sich das Kugelwesen entschieden zu haben und betätigt sie. Die Luke schließt sich, was das Wesen damit quittiert, dass es nach der Reihe seine Extremitäten blitzartig zur Seite streckt und wieder senkt.
Grün zu rot rund um die Luke nach draussen. Rot auch um die innere Luke. Das Wesen dreht sich rechts und links herum, fährt auf und ab. Luft wird eingepumpt. Rot zu grün erstrahlt rund um die Luke nach drinnen. Plötzlich hält er inne, lässt einen Greifer hervorschnellen und drückt, als handle es sich um reine Routine, die Quadrattaste. Die Innenluke öffnet sich geräuschlos und das Glucksen der Sirene endet. Das Kugelwesen streckt und senkt seine Arme, jeden einmal. Kurz bevor es den Schacht betritt bleibt es stehen und tippelt millimeterweise bis an die Schwelle der Luke. Das Wesen beugt die Gelenke seiner Arme, sodass sein Körper in den Schacht spähen kann, ohne ihn wirklich zu betreten. Keine Gefahr auszumachen.
Greifarme wollen sich strecken und senken, doch die offenbar schwierig zu balancierende Haltung ist mit dieser als Programmanomalie zu bezeichnende Erleichterungsbekundung nicht vereinbar. Wie in Zeitlupe, mit den Armen nach Gleichgewicht rudernd, kippt es um und poltert in den Schacht. Es scheint sich von diesem Schrecken erholen zu müssen, denn erst nach Minuten richtet es sich wieder auf. Wie zum Trotz versucht es einen weiteren Durchlauf seines Greifarmrituals. Diesemal ohne Zwischenfälle.
Das Kugelwesen setzt seine Erkundungstour fort. Einem neugierigen Kind nicht unähnlich wippt es auf und ab, dreht sich hierhin, dorthin, betätigt Tasten die Beleuchtung ein- und ausschalten oder Wandpaneele öffnen. Es braucht eine kleine Weile bis es begreift, dass die Paneele manuell wieder geschlossen werden müssen.
Rotes Pulsieren. Ein Knistern im Grundrauschen, zeitgleich flackert die Diode, wird heller und heller, flackert erneut und verlischt. Der letzte noch verschlossene Sarkophag wird unter Summen und Surren entriegelt. Gas entweicht.
Eine nahezu farb- und strukturlos gewordene Bildplatte, mit der dauerhaftesten drucktechnologie seiner Zeit hergestellt, lässt das Kugelwesen inne halten. Das Bild war von einem mit der Inspektion betrauten Diogenen zwischen zwei Paneele geklemmt worden. Der gerade noch auszumachende Schatten dreier Personen, eine davon im Kleinkindesalter.
Blau fluoresziert die Membran. Der Sarkophag ist nun fast vollständig geöffnet und das Leuchten verblasst. Erst jetzt, da die Membran vertrocknet, fällt auf, dass sie unablässig in Bewegung war. Sie scheint abzusterben und dennoch zeigt die Konsole des Sarkophags Zickzack in Bernstein.
Behutsam greift das Kugelwesen nach der Bildplatte. Stundenlang betrachtet das Kugelwesen die Darstellung. Gelegentlich tippelt es ein paar Zentimeter hin und her, doch seine Aufmerksamkeit bleibt auf dem hinfälligen Überrest vergangener Zeit.
Flocken abgestorbenen Gewebes lösen sich von der Membran ab und schweben Schneefall gleich, in der Hibernationskammer umher. Stunden vergehen, von Flocken oder Membran nichts mehr zu sehen.
Das Wesen steht im Schacht. Es beendet seine Betrachtung und lässt den Greifarm mit der Bildplatte sinken. Augenblicke später fällt das Bildnis zu Boden. Es bricht entzwei. Ohne weitere Regung dreht sich das Wesen um und tippelt weiter. An der Luftschleuse bleibt es stehen, rechnet Wahrscheinlichkeiten durch, vergleicht seine Direktiven mit der Situation vor Ort. Es lässt die Luftschleuse links liegen und setzt es seinen Weg fort. Nebenbei öffnet das Kugelwesen sämtliche Paneele, kümmert sich aber nicht weiter um deren Inhalt. Erst an der Luke zur Hibernationskammer hält es an und betätigt den Öffner.
Rot zu grün. Nie zuvor registriertes Piepsen irgendwo hinter der Innenluke ruft den Auftrag in den Arbeitsspeicher: Kontakt suchen, Kommunikation anbahnen, Informationen austauschen.
Immer lauter wird das Piepsen. Das Kugelwesen schaltet auf doppelte Rechenleistung; als die Öffnung breit genug ist, zwängt es sich hindurch, dann verharrt es, wippt auf und ab. Der geöffnete Sarkophag ist der Ort von dem das Piepsen ausgeht. Greifarme schnappen kurzzeitig zur Seite und das Wesen schiebt sich allmählich in die Kammer, dreht sich, registriert Konsolen, Bildschirme und allerlei ihm unerklärliches Gerät. Nur widerwillig scheint es bereit, sich dem Sarkophag zu nähern. Es neigt sich ein wenig nach vorne um besser zu erkennen. Als es Ähnlichkeiten ausmacht, interpoliert, vergleicht und schlussfolgern kann, registriert es eine bernsteinfarbene Linie auf der Sarkophagskonsole. Im Sarkophag: offensichtlich ein Junges der Spezies die auf der Bildplatte zu sehen war.
Monate vergehen bis das Kugelwesen sämtliche Datenbanken durchgearbeitet, kopiert und mittels Lichtkommunikation in seine Heimat abgesetzt hat. Lichtjahre sind zu überwinden, tausende, erst dann wird der graue Strom die Daten auswerten können, sollte er seine Existenz noch nicht aufgegeben haben.
Nachdem alles getan ist, verlässt das Kugelwesen die nunmehr unbemannte Missionar und setzt seine Reise fort. Diesmal mit konkretem Ziel.
Ein rotes Pulsieren. Algorithmen lauschen in nachtschlafende Finsternis.
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