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Bunte glatte Kugeln

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26.12.2003
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Bunte glatte Kugeln

Bunte glatte Kugeln

Bunte glatte Kugeln

Um sieben betrat Karl das Lokal mit den Spieltischen. Es waren drei große mit grünem Filz bespannte Tische. Der an die Bar angrenzende Raum war groß und hell
erleuchtet, in der Ecke standen einige lautlos blinkende Flipperautomaten. Aus den Wandlautsprechern erklang laute Popmusik für ein nicht vorhandenes Publikum.

Freddy stand einsam an einem der Billardtische und stocherte lustlos mit einem Queue nach den bunten Kugeln auf dem grünen Filz. Er hatte schon auf Karl gewartet.
“Sorry, bin aufgehalten worden“, murmelte Karl seine fadenscheinige Entschuldigung heraus. Freddy sagte nichts. Er sagte nie etwas, wenn man ihn warten ließ. Seit seinem gesundheitlichen und sozialen Abstieg hatte er sich an seine neue Rolle als Arbeitsloser, als Dauerkranker, als klassischer „Loser“ gewöhnt. Nicht für wichtig genommen zu werden gehörte zu dieser Rolle .
Karl hatte sich manchmal gefragt, was für eine Art von Beziehung zwischen ihnen bestand. Eine lockere Freundschaft vielleicht, Ergebnis einer gewissen gegenseitigen Abhängigkeit . Eine Tauschbeziehung ? Einsamkeit gegen Einsamkeit ?
“Gemmas an,“ sagte Karl und rieb die Spitze seines Billardstockes mit blauer Kreide.
“Fang du an.“ Freddy legte die weiße Kugel auf den Anstoßpunkt, visierte kurz und ließ sein Queue vorschnellen. Mit einem lauten Knacken spritzten die in Dreiecksformation aufgelegten bunten Kugeln nach allen Richtungen auseinander. Eine von ihnen verschwand in einem der vorgesehenen Löcher. „Die vollen“, sagte Karl. „Du hast die vollen.“ Während Freddy sich über den Tisch beugte , studierte Karl dessen ausgemergeltes Profil. Es erinnerte ihn an ein altes , müdes Pferd. Falten und Krähenfüßchen zerfurchten das magere Gesicht. Die Krebskrankheit und die Scheidung hatten ihre Spuren hinter-lassen. „Armer Hund“, dachte Freddy.
“Du bist dran“, sagte Freddy und legte seinen Stock zur Seite, um von seinem Bier zu nippen. „Ich hab’ schon lang’ nimmer gspielt.“ Karl schickt eine Entschuldigung für seine schlechten Stöße voraus. Er mochte Billard, obwohl er es nur selten spielte. Die
glatten Kugeln fühlten sich angenehm kühl in seinen Handflächen an, ihr lautloses Huschen über die Tuchbespannung, das helle Knacken beim Aufeinander-prallen waren ein ästhetischer Genuss. Dazu kam die Symbolik des Spiels. Jede der bunten Kugeln konnte für eine Wunschvorstellung, für ein Traumbild, für eine Lebenslüge stehen. Nach einer Weile des anmutigen , verführerischen Hin-und Her-rollens verschwanden sie irgendwann plötzlich unangekündigt von der Bildfläche. „Zerplatzen wie Seifenblasen“, dachte Karl, während er an seiner selbstgedrehten Zigarette zog. Der aufsteigende Rauch brannte ihm in den Augen, doch er ließ die Zigarette lässig im Mundwinkel hängen. Das war für ihn ein Teil des Spiels, so wie im Kino. Alle billardspielenden Typen im Film rauchten . Blinkte da nicht das melancholische Grinsen Humphrey Bogarts auf der glänzenden Oberfläche der Grünen ?
“Klack“ ertönte es aus der hinteren Ecke des Tisches, eine der bunten, glatten Kugeln verschwand im schwarzen Loch. Ein flüchtiges Glücksgefühl zuckte durch Karls Gehirn, gleichzeitig war er wie jedes Mal erstaunt, wenn ihm ein Treffer gelang. Während er sich auf den nächsten Stoß konzentrierte , fing Freddy seine üblichen Internetgeschichten zu erzählen an.
“I hab an Mercedes im Internet gsehn. A Wahnsinn. Mit alle Spaßettln, und net teuer.“
Er wartete nicht auf eine Reaktion von Karl. „ So an kauf i mir ein Mal. Dann häng i ein’ Wohnwagen dran, mit Sat-Schüssel und Internetanschluß. Dann stell’i mich irgendwo in Italien ans Meer , mit einer geilen Blondine ,und des is es dann!“
“Mmh,“ kommentierte Karl, ohne vom Spiel aufzusehen. Er kannte Freddys Phantasievorstellungen zur Genüge , die endlosen Aufzählungen von Chat-Bekanntschaften und virtuellen Käufen von Luxusautos und Motorjachten langweilten ihn. Auch wenn er irgendwie Verständnis dafür hatte, dass sie Freddy halfen, mit seiner jetzigen Situation fertig zu werden .
“Italien is super“, schwärmte Freddy weiter. „Die Leut’ sind so offen, so warm. So wie das Klima. Und das guate Essen dort unten. I steh einfach auf Meeresfrüchte !“
“Die Muscheln aus der Bucht von Triest muss i aber net unbedingt haben“, ätzte Karl.
Er ärgerte sich, weil er den letzten Stoß versaut hatte. Die blaue Kugel war knapp vor dem anvisierten Loch liegen geblieben. „Die Übung. Mir fehlt einfach die Übung. So a todelsicherer Schuss !“
Es waren nur noch wenige Kugeln am Tisch.Eine „volle“, eine „halbe“, die schwarze und die weiße. Während sich nun Freddy ungeschickt mit dem Queue abmühte, brabbelte er fortwährend vor sich hin, seinen neuesten Internetschwarm beschreibend.

Mit einer Mischung aus Mitleid und Amüsiertheit betrachtete Karl Freddys faltigen Hals, die graue Haut, den Anflug von Bart, der ihn an einen ungewaschenen Topfrand erinnerte. Er dachte daran , wie Freddy im letzten Winter sämtliche Möbel in seinem Haus zerhackt hatte, um den Ofen zu heizen. Er dachte an seinen zerbeulten Kastenwagen und das abgemeldete Telephon. Er hatte es aufgegeben, mit Freddy
über dessen Mitschuld am Scheitern seiner Ehe und an seinem finanziellen Ruin zu diskutieren. Diese Gespräche hatten jedes Mal in Hasstiraden von Seiten Freddys gegen seine Exfrau, gegen Frauen überhaupt, gegen die Gesellschaft gemündet.
“Er ist das genaue Gegenteil von mir“, sinnierte Karl, an seiner Zigarette saugend. “Für ihn sind immer die anderen Schuld. Ich suche den Fehler zuallererst bei mir selbst.“

Plötzlich kam ihm eine Idee. „Die letzte Kugel steht für einen Wunsch. Wem es gelingt, sie zu versenken, dem geht der Wunsch in Erfüllung. Wie bei einer Sternschnuppe.“ Freddy hob den Kopf. In seinen tiefliegenden Augen glomm ein Schimmer . „Der Mercedes. Der vom Internet. I bin dabei. Und was is mit dir ?“

Karl, der bis jetzt immer mit einem gewissen Hochmut auf Freddys Phantastereien herabgeblickt hatte, musste plötzlich schlucken. Er begann fieberhaft nachzudenken.
Doch so sehr er sich auch bemühte, ihm fiel nichts Wünschenswertes ein. Er hatte, schien es ihm, alles erreicht. Beruf, Familie, Haus auf dem Land, Geld genug, um sich jederzeit in ein Auto oder Flugzeug zu setzen und an jeden beliebigen Punkt der
Welt zu reisen. Erschüttert dämmerte ihm, dass im Laufe der Jahre all seine Träume und Sehnsüchte sich im kalten Licht der Rationalität aufgelöst hatten. Berechnendes, nüchternes Effizienzdenken hatten unmerklich die Oberhand in seinem Weltbild übernommen. Es gab keine Ziele mehr, für die es sich zu leben, lieben , kämpfen lohnte. Er war leer und zynisch geworden.
Plötzlich beneidete Karl Freddy um seine abgedroschenen Phantasien voll flotter Weiber, schneller Autos und Motorjachten. „Ich selbst, ich bin der arme Hund !“
Karl spürte Wut in sich hoch kriechen, ausgehend von seinem Magen breitete sie sich wie heiße Lava in seinen Gliedern aus. Zitternd packte er sein Queue, beugte sich mit erzwungener Ruhe über den grünen Tisch und versetzte der weißen Kugel einen brutalen, kaum gezielten Stoß. Wie eine aufgescheuchte Forelle schoss der weiße Kunststoffball über den Stoff und knallte in spitzem Winkel auf die schwarze Kugel.
Einem Querschläger gleich prallte diese darauf mehrmals zwischen den Banden hin und her, um schließlich wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen gerade auf eines der Ecklöcher zu zugleiten. Lautlos verschwand die letzte Kugel im Maul des Möbelstückes. Karl hatte gewonnen.

 

Hallo, Mr.Natural -

eine sehr schöne Geschichte. Ich fand die Erzählung sehr "echt" - auch ich habe zwei, drei solcher Menschen in meinem Bekanntenkreis, und auch ich treffe mich - so selten, dass es schon fast peinlich ist - mit denen, aus dem Gefühl heraus, dass diese Menschen sonst Niemanden haben, und weil der Kontrast zu deren Lebenssituation bewirkt, dass ich das, was ich habe, besser zu schätzen weiß ("Gottseidank, so schlimm wie der Moni geht's mir doch noch nicht.")

Das scheint bei Karl aber nicht der Fall zu sein. Freddy konnte ich mir sehr gut vorstellen, aber Karl blieb ein wenig nebelhaft. Warum macht ihn ein gewöhnlicher Durchschnittswohlstand schon zynisch?

Den Schluss fand ich gelungen: Wo Tauben sind, fliegen welche zu.

Noch eine kleine Frage: Wenn Freddys Telefon abgemeldet ist, wie kommt er dann ins Internet?

Gruß, Alli

 

Hallo,
Mist, Alli hat mir die Frage mit dem Telefon und dem Internet schon vorweggenommen, denn das sprang auch mir direkt ins Auge. ;)
Aber zum eigentlichen Thema: Dein Text hat mir an und für sich recht gut gefallen, nur braucht er ein wenig zu lange, um in Schwung zu kommen. Zwischen dem Beginn und dem Ende, also dem eigentlichem Grundgedanken, fehlt der Zusammenhang und so könnte man die ersten Zeilen getrost überlesen, ohne etwas wichtiges zu verpassen. Einleitung gut und schön, aber hier ist sie ein wenig zuviel des guten. Umso gelungener finde ich aber das Ende, denn die Idee die Kugeln als Symbole für seine Gedanken, bzw. Wünsche zu nehmen find ich gut und vor allem: neu!
Gute Geschichte, doch das eigentliche Thema könnte ein wenig genauer behandelt werden.

Grüße...
morti

 

Ganz schnell ein Dankeschön für alle Feedbacks !
Sind für einen Neuling wie mich sehr motivierend.
Werde mich an Überarbeitungen machen , sobald es Arbeit
und Leben zulassen.

Alles Gute bei euren Projekten !

Mr. Natural

P.S. Glaube nicht, dass ich mit irgendjemanden
persönlich bekannt bin, auf meiner Finca im Südburgenland habe ich wenig reellen Kontakt
mit Schreibenden. Is auch egal, wer privat hinter den Texten steht, oder ?

 

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