Bunt
Blau, Rot, Orange, Grün, Lila. Sachte fuhr er mit dem Daumen über die schillernden Farben. An einigen Stellen waren sie bereits abgeblättert und hinterließen klaffende Löcher auf der Oberfläche des Regenbogens. Als sein Finger über eine solche Stelle fuhr, entzog sie ihm die Hand für einen Moment, als müsste sie sich eine mentale Notiz machen, den Lack zu erneuern. Die Nägel ihrer anderen Hand zierten dieselben schrillen Farben, doch in einer anderen Reihenfolge. Der Weichheit ihrer Haut beraubt, griff er erneut nach ihren Fingern, umspielte sie, strich an ihnen auf und ab, zog sachte Kreise in der Handfläche.
Das Mädchen blickte ihm schüchtern entgegen, aus Augen, deren Glanz mit dem der künstlichen Farben nicht standhalten konnten. Er lächelte ihr aufmunternd zu und drückte ihre Hand ein wenig fester. Er war froh um die Farben, die sie mitgebracht hatte. Das weiße Bett, auf dem sie lagen war genau so monoton und steril wie der Rest des weißen Hotelzimmers. Aber das war wohl ganz gut so. Ein steril abwaschbares Zimmer würde sich nicht an sie erinnern. Gleichauf mit dem Untergehen der Sonne hinter den sterilen Vorhängen überließ sich das Pärchen der Dämmerung und erschufen selbst neue Farben, während das schwindende Licht den irdischen Farben nach und nach den Glanz raubte. Vor seinen Augen tanzten Grün, Blau, Rot… umschlangen sich, trennten sich wieder, vermischten sich, schlugen Wellen und brachen schließlich über ihm zusammen. Bunte Nägel krallten sich in Haut und weiße Laken.
Tage voller schöner Stunden vergingen, während die Zeit unbarmherzig an ihnen vorüberzog. Als er eines Abends ansetzte, ihre Hand zu küssen als sie zu ihm in den Wagen stieg, erstarrte er. Lila und Blau waren einem tiefen Schwarz gewichen. Überrascht sah er sie an, doch sie zuckte nur die Schultern und lächelte zaghaft. Dieses Mal suchten sie nicht das sterile Hotel auf, sondern er führ mit ihr an den See. Jener See, der im richtigen Moment funkelt wie Gold, genau wenn sich die Sonnenstrahlen hinter dem Hügel brechen. Der See war ein guter Ort, denn wer war schon im Winter am See? Und er behielt Recht, gerade als sie sich in Decken gehüllt niederließen begann der See zu funkeln. Stolz wies er sie darauf hin und betrachtete voller Wohlwollen, wie sich ihr Gesicht voll Staunen aufhellte. Nachdem sie sich von dem bezaubernden Anblick losgerissen hatte, wandte sie sich ihm zu, sah ihn voller Zuneigung an und bedankte sich flüsternd für den schönen Moment. In diesem Augenblick fragte er sich, ob sie je geliebt worden war.
Einige Tage später hatte der schwarze Lack bereits die gesamte linke Hand eingenommen. Er runzelte die Stirn, als es ihm auffiel, ließ es aber unkommentiert. Sanft verschränkte er seine Finger mit ihren und erneut betraten sie eine Welt, die nur ihnen gehörte. Versprechen wurden geflüstert und Schwüre geleistet. Das Rot der Lügen und das Grau der Vergänglichkeit hatten keinen Platz in dieser Welt.
Am letzten Tag war keine der schrillen Farben mehr übrig. Matt und leblos strich das Schwarz an seinem Arm auf und ab, bis sie es schließlich zur Faust ballte und die Dunkelheit so für noch einen Moment verdeckte. Das sterile Zimmer des Hotels erschien noch blasser als sonst. Dennoch hatten Erinnerungen es geschafft, sich in den Ritzen des weißen Zimmers festzusetzen wie Farbflecken. An diese klammerten sich die zwei Liebenden in jener Nacht, wie Ertrinkende. Gerade als die Verzweiflung sie zu übermannen drohte, packten schwarze Nägel ihre Tasche und verschwanden aus dem befleckten Zimmer und nahmen alle überbliebene Farbe mit sich. Eine Weile blieb er noch so sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Dann machte auch er sich auf den Heimweg. In zwei Stunden würde er seine Frau vom Flughafen abholen. Er wird ihr den Koffer abnehmen und ein Schaudern unterdrücken, wenn blasse, farblose Hände ihn dabei streiften.
Wie ein Mantra wird er flüstern: „Blau, Rot, Orange, Grün, Lila“.