Bullenjagd
In den 60er Jahren wohnte ich in einem kleinen Dorf in Friesland, und Helmut war mein bester Freund.
Wir waren elf Jahre alt, gingen in dieselbe Klasse, saßen an einem Tisch, und nach der Schule verabredeten
wir uns.
„Na Jungs, wieder butschern?“, fragte mein Vater wenn er uns sah, womit er draußen
herumstrolchen meinte.
Butschern war unsere Lieblingsbeschäftigung, und stundenlang streiften wir umher. Besonders das Wiesenland,
welches unser Dorf umgab, zog uns an. Wir überquerten ein paar Straßen und standen in der Wildnis.
In alle Himmelsrichtungen, bis zum Horizont, erstreckte sich das grüne, flache Land. Es waren Viehweiden,
von Elektozäunen umfasst, damit die Tiere nicht ausbüchsten.
Welcher Zaun funzte, wussten wir nie, denn kein Draht stand stets unter Strom. Es gab aber eine Mutprobe.
Hose auf, und an die Leitung pullern, und weil Wasser durchlässig ist, merkten wir sofort, wo es zappt.
Naturgemäß war Butschern in dieser Gegend nicht ungefährlich, weil im Sommer Kühe und Bullen auf den
Weiden grasten. Mit den Jungbullen hatten wir Spaß. Wenn wir kamen, taten sie, als bemerkten sie uns nicht.
Dann machten sie Luftsprünge, senkten die kleinen Hörner, und stürmten auf uns zu. Schnell suchten wir das Weite.
Auf einer der Wiesen gab es einen besonderen Bullen. Ein mächtiger Koloss, mit breiten Schultern und spitzen Hörnern.
Das arme Tier hatte einen Nasenring, und stand alleine auf der Weide. Am Nasenring hing eine drei bis vier Meter lange Kette,
und die Kette war an einem Holzpflock befestigt, der fest im Boden steckte. Obwohl er mir leid tat, weil er nicht wie die
anderen Tiere, frei auf der Wiese umher laufen konnte, war ich froh, dass er angebunden war.
Zweifelsohne, war der Bulle gefährlich. Wenn wir ihm nahe kamen, stampfte er wild mit den Hufen. Wolken aus staubiger
Erde wirbelten unter ihm auf, und er schnaubte böse.
Scherzhaft nannten wir ihn Jochen, nach einem unserer Lehrer, der eine ähnlich hünenhafte Gestalt besaß.
Die Wiese, auf der Jochen stand, war wie ein Rechteck geformt, und Jochen stand immer in der selben Ecke neben
der Wassertränke. Um ihn nicht zu reizen, hielten wir sicheren Abstand zu dem Wüterich. Aber an diesem Tag, war
Helmut auf Action aus.
„Lass und Jochen ärgern“, sagte er.
Jetzt fiel mir auf, dass mein Freund ein knallrotes T-Shirt trug.
„
Mensch Helmut, du hast ein rotes Hemd an“, sagte ich.
„Was hast du vor? Pass auf. Das mag der Bulle nicht. Bleib weg.“
„Egal. Jochen ist angebunden. Weißt du doch. Bangbüchs.“
Helmut ging geradewegs auf den Bullen zu, schnitt Grimassen und gestikulierte wild mit den Armen.
„Heho Jochen“, rief er, und streckte ihm frech die Zunge raus. „Blödes Rindvieh. Komm wenn du dich traust.“
Jochen stand einen Moment still und schnaubte. Wiegend und stampfend brachte er seinen massigen Körper
in Position. Der riesige Kopf mit den Hörner senkte sich. Mir wurde heiß, dann kalt, etwas stimmte heute nicht,
und auch Helmut bemerkte die Gefahr.
Jochen war nicht angepflockt. Warum auch immer? Wir haben es nicht erfahren, und als der Bulle losstürmte,
war uns das egal.
Mein Kumpel war ein Leichtgewicht, mit schmalen Schultern und dünnen Beinen. Dafür war er der schnellste Läufer
aus der Klasse, und das war jetzt sein Glück. Er rannte um sein Leben, und ich erstarrte vor Schreck.
„Lauf Helmut, lauf“, rief ich.
Jochen ahnte wohl, was Helmut vorhatte. Der Bulle preschte im spitzen Winkel
zum Zaun, und schnitt ihm den Weg ab.
Ich musste meinem besten Freund helfen, und rannte hinter her.
„Hierher, Jochen“, schrie ich und warf Erdklumpen, die auf der Wiese lagen, nach ihm. Eines der
Wurfgeschosse traf Jochens Rücken. Das Rindvieh bremste ab, als häte jemand den Stecker aus
einem Elektrofahrzeug heraus gezogen, und blieb wie angewurzelt stehen.
Helmut nutzte die Chance, flitze zum Zaun, hechtete mit einem Riesensatz darüber, und rollte auf der
anderen Seite gekonnt ab.
Jochen schnaubte, stampfte, dann drehte er sich um.
Ich robbte an einer anderen Stelle unter dem Zaun hindurch, blieb mit einem Bein hängen.
Zapp. Dieser Zaun funzte.
Endlich waren wir in Sicherheit. Jochen stand da, und glotzte.
Helmut kam um das Feld gelaufen. „Lass uns abhauen“, rief er.
Vom Butschern hatten wir diesmal genug. Am nächsten Tag in der Schule, betrat unser Deutschlehrer
Herr Jochen die Klasse.
„Kinder, holt eure Hefte raus. Heute schreiben wir einen Aufsatz über Tiere auf dem Bauerhof“, sagte er.
Helmut grinste. „Ob er auch etwas über Bullenjagd lesen will?“