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Buchenhain
Der Buchfink regte sich so auf, dass er ganz rot anlief.
„Du siehst aus wie ein Rotfink!“, witzelte seine Gattin, aber er konnte gar nicht darüber lachen, sondern flog in den höchsten Baumwipfel und begann, aus voller Kehle Alarm zu rufen: „Pink, pink“
Bald versammelten sich die Vögel des Buchenhains, wie der große Wald genannt wurde, um zu erfahren, was geschehen war.
„Fremde Vögel sind im Anflug!“, keuchte der Buchfink, der noch ganz erschöpft war.
„Habichte oder Adler?“ Die anderen Vögel flatterten aufgeregt umher.
„Nein, Finken.“
„Ja, und, was ist daran so entsetzlich, dass du hier Alarm gibst?“
„Wir haben doch jetzt schon viel Arbeit mit der Futtersuche und bekommen unsere Jungen kaum satt. Aber im Süden herrscht seit Jahren wegen des Klimawandels extreme Trockenheit. Und jetzt kommen die Vögel aus Afrika zu uns, weil sie keine Nahrung mehr finden. Schwarzzeisige und Zebrafinken, Angolagirlitze und Hottentottengirlitze und wie diese fremden Vögel alle heißen. Und wie sie erst aussehen! Kein anständiger Vogel ist quietschgelb. Gelbe Federn sind doch krank. Vielleicht färben die sogar ab und unsere guten althergebrachten Kleider werden verfälscht. Das müssen wir mit allen Kräften verhindern. Aber vor allem fürchte ich, sie werden uns verdrängen und am Ende müssen wir verhungern, wenn wir uns nicht jetzt wehren.“
Die Meisen schüttelten die Köpfe: „Das glauben wir nicht. Es gibt sicher genug Futter für alle. Man braucht halt nur Zeit, um genug zu sammeln. Aber es gibt so viele Kerne und Früchte, Würmer und Fliegen und was noch alles. Da ist bestimmt genug für alle da.“
„Und Nistplätze? Findet ihr das gut, wenn auf jedem Baum vier oder mehr Nester gebaut werden und man sich kaum noch rühren kann? Wollt ihr die totale Überbevölkerung? Und was nützen uns diese Eindringlinge? Bringen sie uns irgendetwas Brauchbares? Bereichern sie etwa unsere Vogelgesellschaft? Nein, sie bringen nur Unruhe und Unfrieden. Also dürfen wir einfach nicht zulassen, dass sie hier einfallen.“
„Und wie willst du das verhindern? Sollen wir etwa eine dichte Hecke um den Wald anlegen, die kein Vogel überfliegen kann?“
„Das ist doch eine hervorragende Idee, liebe Frau Eule.“
„Naja, die anderen sind dann ausgeschlossen, aber wir sind eingesperrt.“
Zahlreiche Proteste wurden laut, denn viele Vögel flogen im Winter in den warmen Süden und wollten nicht auf ihr Winterquartier verzichten.
Der Buchfink nahm einen neuen Anlauf: „Wer im Winter in den Süden fliegt, hat doch schon Erfahrungen gesammelt. Diese Fremden haben ganz andere Lebensgewohnheiten als wir. Sie fressen ganz seltsame Sachen und geben eigenartige Laute von sich. Jetzt verstehen wir uns doch, aber wenn diese ganzen ausländischen Sprachen unseren Wald überschwemmen, herrscht hier bald eine einzige Kakophonie. Unser Anliegen liegt doch auf der Hand: Wir müssen verhindern, dass die Fremdlinge in unseren Wald einfallen. Vielleicht könnten die Spechte ja alle Bäume, die als Nistplätze für sie in Frage kommen, unbewohnbar machen.“
„Den Wald zerstören, damit keine neuen Vögel kommen? Das ist doch Irrsinn.“ Alle Vögel zwitscherten erregt durcheinander.
„Ruhe miteinander!“ , schnarrte eine laute Stimme. Alle schauten zu einem Baum in der Nähe, auf den mehrere Elstern saßen und die Vogelschar höhnisch anblickten. „Wir wollen hier auch keine Fremden haben, die nur Unordnung und Unruhe in unseren Wald bringen. Also werden wir alle Vögel, die hier nicht hingehören, vertreiben. Damit tun wir euch sicher einen großen Gefallen.“
„Das gefällt mir gar nicht!“, murmelte die Eule aber alle anderen Vögel waren begeistert und beauftragten die Elstern, eine Vogelwehr aufzustellen.
Drei Tage später kamen die ersten Ausländer angeflattert. Müde und zerzaust von der langen, ungewohnten Reise suchten sie nach einem Schlafplatz. Aber kaum hatten sie sich auf einen Ast gesetzt, kam eine Elsternschar im Sturzflug auf sie zu und vertrieb sie. Anscheinend waren auch viele Elstern aus anderen Wäldern angereist, jedenfalls wimmelte der Wald von schwarz-weißen Vögeln. Schon nach einer Woche war keine einzige fremdländisch aussehende Feder mehr im Buchenhain anzutreffen. Auch einige Dompfaffen und Kernbeißer waren vertrieben worden, weil sie für die Elstern ausländisch aussahen. Ebenso waren alle Krähen, die den Elstern schon immer ein Dorn im Gefieder gewesen waren, verscheucht worden. Aber da kaum ein Vogel diese lauten und rücksichtslosen Gesellen leiden konnte, freuten sich die meisten über das rigorose Durchgreifen der Elstern. Endlich war die Gefahr gebannt, aber die Elstern aus den Nachbarwäldern blieben im Buchenhain. „Wir müssen wachsam sein“, erklärte die Oberelster. „Jederzeit kann eine neue Invasion über unseren Wald hereinbrechen. Aber wir sind auf alles vorbereitet. Kjää, kjää!“
Es vergingen drei Monate. Die Elstern patrouillierten unverdrossen durch den Wald und sorgten für Sicherheit und Ordnung. Ruhe war in Buchenhain eingezogen, nur hier und da hörte man den Elstergruß „Kjää, kjää!“. An einem Nachmittag kam der Buchfink müde in sein Nest geflattert und raunte seiner Gattin zu: „Pack alles ein, was du brauchst. Wir verschwinden noch heute Abend.“
„Warum das denn?“, keifte sie.
„Pscht, nicht so laut. Du weißt ja, dass die Elstern unsere Eier konfisziert haben. Aber jetzt verlangen sie von uns auch noch, dass wir den ganzen Tag Futter sammeln und Wintervorräte anlegen. Und wer wird diese Vorräte verbrauchen? Wir sicher nicht. Aber wenn wir nicht gehorchen, wird es uns schlecht ergehen. Einige Vögel sind schon mit Schnabelhieben getötet worden und die Elstern fressen jetzt ihre Kadaver. Wir müssen weg hier, bevor es zu spät ist.“
Innerhalb weniger Tage verschwanden alle Kleinvögel aus dem Wald und kehrten auch nicht mehr zurück. Heute ist der Buchenhain verwahrlost und verwildert. In allen Bäumen thronen große Nester und die Elsterweibchen brüten eifrig eine neue Generation aus. Der Landstrich heißt jetzt nur noch Elsterwald.