Brut
Unter der neuen Brücke im Gewerbegebiet schwirrten die Mücken am Wasser. Es begab sich gegen Nachmittag, daß jemand hinabstieg, sich setzte und eine Weile auf die andere Seite schaute.
"Nur Betrug und Verrat!" hallte es sanft von dort hinüber und der Hinabgestiegene zog seine Brauen ein wenig zusammen. Auf der anderen Seite lehnte ein bekanntes Gesicht neben einer auf der Seite liegenden Gefriertruhe. Schließlich fand der Hinabgestiegene eine Antwort:
"Aber ich bin ja auch noch da!"
Der Lehnende: "Was man aufbaut, irgendjemand macht es einem kaputt - wenn man nicht wird wie sie. Lügt und betrügt."
"Wie du weißt, geht es mir nicht anders."
"Und die schlimmsten Heuchler und Lügner haben die verantwortungsvollsten Posten und Gerechtigkeit kennen sie nur als Wort in ihren Sonntagsreden, denn Gerechtigkeit findet jeder toll und wer es mit ihr ernstnimmt, der darf vielleicht sogar ins Tollhaus."
Der Hinabgestiegene senkte seinen Blick und lauschte dem Plätschern.
Auch er selbst hatte in den zurückliegenden Jahren große Zweifel an der Menschheit entwickelt und sie hatten sich schon oft dazu ausgetauscht. Ratlos waren sie beide.
Der Hinabgestiegene: "Verliert ein Mensch seine Menschlichkeit, je mehr an anderen Menschen in der Lage ist ihn abzustoßen?"
"Wie menschlich wäre ich dann?"
Der Hinabgestiegene hob eine Zeitschrift auf und begann schmunzelnd in ihr zu blättern. Er deutete auf eine Seite:
"Soetwas meinte ich. Die Modesünde der Woche. Was macht es mit Menschen an soetwas zu glauben?"
"Und was, Gerechtigkeit vorauszusetzen?"
"Ist Mode gerecht?"
Der Lehnende richtete sich kurz auf und schaute herüber:
"Gerechtigkeit ist nicht nur etwas, an das jemand glaubt. Sie ist das Gegenteil von Abschätzigkeit, weil man die Erwartungen anderer Personen nicht erfüllt."
"Du meinst Gerechtigkeit beruht nicht auf Abschätzigkeit gegenüber denjenigen, der sie mißachtet?"
"Wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, dann übe ich Kritik am anderen. Zumindest sofern ich eine ausreichende Chance auf soetwas wie Gewissenhaftigkeit sehe."
Weiterblätternd wiegte der Hinabgestiegene seinen Kopf. Er schätze Gespräche mit dem Lehnenden. Viele Menschen kannte er nicht, mit denen echte Gespräche möglich waren. Die nicht bei jeder Begegnung davon überfordert schienen, sich darauf einzulassen. Die nicht in einer Welt des Vergessens waberten, im Rauch verflachender Akkordaufmerksamkeit.
"Wir leben in einer Welt, die das Sehen verlernt hat. Die sich an dem Halt verschafft, das schnell zu erfassen ist. Aus einer lebenden Welt ist eine ikonische geworden. Eine Welt falscher Klarheiten."
"Gerechtigkeit ist ikonisch. Das Prinzip Gerechtigkeit ist klar."
"Ich weiß nicht, ob es Gerechtigkeit gibt. Wohlwollen gibt es und Nichterkennen eines Menschen als Mensch."
Beide schauten sich müde an.