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Bruchstücke
Wo gehe ich hin, wenn ich aufbreche, ohne Ziel, ohne den Weg zu kennen? Womit breche ich denn eigentlich beim Aufbruch? Was breche ich ab und was bricht an?
Da war doch die Treue zum Durchboxen. Was ich nicht haben wollte, das lief doch alles an mir ab wie Wasser. Und dann stand es mir plötzlich unter dem Kinn. Schwappte bei jedem Schritt in mein Gesicht. Wollte es mich wecken oder ertränken? War da noch ursprüngliche Lebensintensität? Nein, die war unkenntlich gemacht, gebrandmarkt mit den Brandzeichen von Viehdieben. Ich blickte nach innen, weil das Außen immer nur Abhängigkeiten bot, ließ mich nicht brechen, bis ich zusammenbrach. Ständig fühlte ich, dass ich an etwas Wichtigem vorbeiging. Hinter meiner unerkannten Angepasstheit schlummerte Abenteuerlust. Heißt Aufbrechen, sie hervorbrechen zu lassen?
Tag um Tag, reihte ich mich ein in den Kreislauf bis ich erbrach. Die Zwänge drückten meine Individualität zusammen wie die Presse ein rostiges Auto. Erst verbeulten sie mir die Stoßstange und sahen es als geringen Sachschaden an. Dann machten sie die Scheibenwischer kaputt und ließen mich bei strömenden Regen durch meine Kindheit tappen. Im sterbenden Licht der geborstenen Scheinwerfer sah ich meine Mutter die sich durch das Leben biss, im wahrsten Sinne des Wortes. Was sie zornig vermisste, war die gleiche Freiheit, welche mein Vater aufgab um es auszuhalten.
Nun sitzen sie da und starren aus den Fenstern. Jeder in seinem Zimmer, an der gleichen Front, getrennt durch eine Wand des Schweigens, nur ab und an niedergerissen um den anderen mit Vorwürfen kleiner zu machen. Vaters Traum vom Reisen in ferne Länder war längst zerfressen vom Krebs, zerfiel in Unwichtigkeit. Mutters grauer Körper, fest eingeschnürt mit einem Spagat zwischen Angst und Wut.
Kehrt Marsch, weg von diesem Bestreben es einem von ihnen nachzumachen.
Ich begehrte auf und schwamm gegen den Strom, ohne das gemauerte Flussbett auch nur einen Zentimeter zu verlassen. Dann, als das Leben mich bereits zu überholen schien, forderte ich es ein. Das ist mehr als viele je zusammenbringen und dennoch ist es nichts. Hatte das Wegggehen vom Vertrauten tatsächlich je begonnen? Alles gewechselt, alles vertauscht alles verblieb im selben, wenn auch eigenwillig bemalten und frisch begrünten Rinnsal.
Lacht euch nur kaputt, ihr Engel, die ihr mich von oben betrachtet. Habt ihr deswegen immer so aufgeblasene Wangen, weil ihr vor Lachen zu ersticken droht? Habt ihr euch auf die Schenkel geklopft, wenn ich meine Seele aus unterschiedlichsten Perspektiven, mal humorvoll und gelassen, dann wieder mit bestürztem Entsetzen betrachtet habe? Kichernd habt ihr euch die Flügel vor die Augen gehalten, wenn ich auf immer neuen Umwegen unbewusst auf das immer gleiche Ziel zuging. Ihr braucht mir nichts erzählen, ich weiß wie leicht es ist, die Heimatlosigkeit anderer Seelen zu durchblicken. Aber das eigene Niemandsland, das ist verwachsen und voll Gestrüpp. Da irrt jeder allein durch die Gegend. Wo fängt es an, wo hört es auf? Wisst ihr es?
Aufbrechen also. Wohin und womit? Die Überwindung der Haltegriffe ohne gleich den Boden aufzugeben ist ein gewagter Balanceakt. Die tappende Hand greift ins Leere. Die Füße wollen stattdessen abheben und müssen doch am Boden bleiben. Nun denn, ich werde einfach nach Irgendwo gehen. Abstand nehmen vom fremden Ich um dem wirklichen zu begegnen.
Wer wird am Ende mehr lachen, du dort, du mit der Posaune, oder jener dort hinten mit der Harfe? Oder werde ich es selber sein?