Mitglied
- Beitritt
- 24.04.2017
- Beiträge
- 17
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Brodem
Kälte. Bahnsteige ziehen Kälte geradezu magisch an.
Die Winterjacke schützte nicht vor dem Wind. War schon damals ein Fehlkauf. Viel zu teuer und trotzdem unbrauchbar. Die Fingerkuppen versunken in den Jackentaschen. Der Wind blies gegen mein Gesicht. Härchen stellten sich auf. Der Körper zuckte bei der Kälte. Zehn Minuten wartete ich schon auf den Zug. Die Anzeige unverändert. Eine Verspätung. Inmitten der grauen Wetterlage umgaben mich unbekannte Gestalten. Kopfhörer kapselten mich von der Umwelt ab und indessen sozialisierten sie. Sie machten mich zu einem von ihnen. Die Hörer schufen Gruppenzugehörigkeit. Auch im Zug blieben die Stöpsel drinnen. An Gesellschaft hatte ich keinerlei Interesse. Musik, mein Begleiter auf dem Weg ins Ungewisse. Mein Begleiter durch dunkle Tunnel, karge Stadtlandschaften, triste Häusersiedlungen und Trostlosigkeit, die sich vor dem Fenster erhob. Draußen schneite es, im Zug wärmte die Klimaanlage. Die wohlige Atmosphäre breitete ihre weiten Flügel über mir aus. Gedimmtes Licht drinnen, düstere Stimmung und Kälte draußen. Dazu ein Buch und Musik, welche mich von der Geräuschkulisse abschottete. Vertieft in meine Lektüre bemerkte ich nicht, dass mich jemand ansprach.
"Haben Sie ein Tempo?", sprach das Mädchen zögernd von der Seite her. Ich, war perplex, als ich ihre unmittelbare Gegenwart bemerkte, die Kopfhörer nahm ich heraus. "Ein Taschentuch.", wiederholte sie angespannt, "haben Sie eins oder nicht?" Ich bejahte, zog eine Packung aus meinem Rucksack und fingerte nach einem, um ihr dieses zu geben. Ich musterte sie kurz. Unattraktiv schien sie in ihrer Verzweiflung nicht. Vielleicht etwas jung. Ich beschäftigte mich nicht weiter mit ihr, war froh, als sie sich bedankte und sich in ihren Sitz sinken ließ. Hinter mir, leises Schnäuzen. Es glich mädchenhaftem Schnäuzen, ich lauschte ihren Versuchen sich die Nase zu putzen. Sie schien sehr darum bemüht, nicht zu laut zu sein.
Musik, ließ mich wieder in die Lektüre eintauchen. Nach einer Weile bemerkte ich, wie jemand neben mir Platz genommen hatte. Ich versuchte mich, nicht weiter abzulenken. Der Duft, aufdringlich. Eine Dame hatte neben mir Platz genommen. Ich schätzte sie dreißig oder älter. Feministin schien sie mit solch einem Parfum nicht zu sein. Ich stellte sie mir nicht prüde vor. Selbstsicher und taff, geradezu lasziv.
Als ich von der Lektüre aufsah, neben mir die junge Dame. Sie musterte mich, das Taschentuch hatte sie noch in der Hand. Von Dame konnte nicht die Rede sein. Sie, vielleicht zwanzig oder jünger. Ich konzentrierte mich auf die Zeilen meines Buches, um ihrem Blick auszuweichen.
Die Worte auf dem Papier verblassten, lachten mir spöttisch entgegen, sprangen über die Buchseiten und ergaben keinen Sinn, gaben mir keinerlei Gelegenheit sie zu begreifen.
"Stimmt was nicht? Sie wirken angespannt", sprach sie, schaute mir in die Augen. Ich verlor mich in der kalten See, fragte mich, was sie von mir wollte. Ich hätte ihr Alter sein können. Ihr schien das nichts auszumachen.
Wieso sprach sie mich an, mich, der kein Interesse an einer Konversation zeigte? Kein Interesse an ihr zeigte? Wie kam sie darauf, mich nach einem Taschentuch zu fragen? Wozu sie eins brauchte, war mir genauso schleierhaft wie ihre Frage über mein Befinden. Sie putzte sich nicht die Nase, traute sich nicht. Wieso brauchte sie dann eins? Ein Trick, um mit mir ins Gespräch zu kommen? Ich hielt es für möglich. Ob etwas nicht stimme? Ich wirkte distanziert. Ihr Odeur umflügelte penetrant meine Nasenflügel. Ich inhalierte den Duft, der mir entgegen strömte. War dies wirklich ihr Duft? Hatte sie sich dieses Parfum aufgetragen? Kein Zweifel, der Geruch entstammte ihr. Das Aroma herb, etwas modrig und dennoch frisch, gar blumig. In Gedanken vertieft, bemerkte ich nicht, dass ihr erwartungsvoller Blick mich durchbohrte. Sie brach die Stille, knurrte mich an, ich hätte ihre Frage nicht beantwortet. Ihre blauen Augen stachen zu, ich ertrank.
Das Haar thronte auf den Schultern, Locken hingen herab, kitzelten mein Gemüt. Was kümmerte mich ihr Aussehen? Ich kannte sie nicht. Ich wollte sie nicht kennenlernen. Von ihrer Existenz hatte ich bis vor wenigen Augenblicken keinen Schimmer gehabt. nun hatte sie neben mir Platz genommen und mich verzaubert.
"Wir kennen uns nicht", platzte es aus mir heraus, „Lassen sie mich in Ruhe!“ Ich versank in meinem Sitz. Sie wollte eine Unterhaltung beginnen. Einen Plausch. Ich fuhr sie an, hatte keinen Grund dazu und tat es dennoch. Aus Angst.
Eine Entschuldigung ihrerseits durchbrach Schuldgefühle. Sie wollte sich nicht aufdrängen, sei zu forsch gewesen. Ich wollte mich rausreden, ihr entgegnen, sie hätte mich auf dem falschen Fuß erwischt, da streckte mir das junge Ding seine Hand entgegen. Elisa - der Name. Ich wäre ihr wohl schon früher aufgefallen. Ich ergriff die dünne Hand. Sie, eiskalt. Der Händedruck sanft. Ihrem Gesicht entwich ein Lächeln. Ich fragte, was sie amüsiere, sie antwortete nicht. Lächelte weiter, wollte meinen Namen wissen. Das Mädchen durchdrang mich mit ihrem Blick, die Wimpern klimperten und ihr Lächeln verzauberte mich, sodass ich ihr meinen Namen offenbarte. Darauf folgte beredtes Schweigen. Wir schauten einander verlegen an, sie zeigte mir Grübchen.
Keiner von uns wagte den nächsten Schritt. Wir verharrten in der Stille, die uns umgab. Unsere Beziehung endete in dem Moment, in dem sie begann. Nichts, außer Stille umgab uns. So wie mich ihr Parfum einhüllte, so ängstigte mich ihre Anwesenheit. Das Mädchen beängstigte mich, gleichermaßen faszinierte sie mich.
Ich stellte mir eine Zukunft mit ihr vor, sie und ich beim Essen in einem schicken Lokal, sie bei der Arbeit, sie vorm Traualtar, im Hochzeitskleid, als Mutter unseres Kindes, Liebhaberin, Lebenspartnerin, Geliebte, Freundin, Frau. Ich malte mir verschiedene Szenarien in unserem gemeinsamen Lebenslauf aus, ein erster Kuss, sanfte Berührungen, ein Spaziergang im Park, Kino- und Theatervorstellungen, ein romantischer Abend bei Kerzenschein, gemeinsame Nächte zu zweit, unsere kleine Wohnung, durchlebte Krankheiten, unsere Hochzeitsnacht, Urlaubsreisen, ein Krankenhaus, in welchem unsere gemeinsame Tochter das Licht der Welt erblicken sollte, Kindergärten, Schulen, Abhängigkeit, Schmerz, Qual, Unzufriedenheit gegenüber unserem Leben, unser Verlust, Streitigkeiten, die Scheidung, meine Einsamkeit.
Ich erwachte aus Gedanken, bemerkte den leeren Platz neben mir, sie war verschwunden, von uns gegangen. Hinterlassen hatte sie nichts, außer einen leicht wahrnehmbaren Hauch ihres Parfums. Ich erkundigte mich bei der älteren Dame, neben der sie zuvor gesessen hatte, ob sie wüsste, wohin das Mädchen gegangen sei. Die Alte schaute verwundert, fragte von wem ich spreche. Ich erzählte von Elisa, dass sie dezent ihre Nase geputzt hatte, nachdem sie nach einem Taschentuch fragte, dass müsse ihr doch aufgefallen sein. Sie verneinte. Neben ihr hatte nur ein Herr gesessen, dieser sei an der nächsten Haltestelle ausgestiegen. Seitdem hatte niemand mehr neben der älteren Dame Platz genommen. Schon gar kein Mädchen.
Ich konnte nicht klar denken. Hatte ich Elisa nur geträumt? Hatte sie erfunden, erschaffen? Sprach ich die Zeit lang mit mir selbst? Sie erschien mir in jenen Augenblicken greifbar. Den Duft ihres Parfums konnte ich unmöglich geträumt haben. Sowie das Gefühl ihrer kalten und dünnen Hand, dieser zarte Händedruck, ich konnte unmöglich davon geträumt haben. Ich hatte mir das doch nicht eingebildet? Ich schaute mich um, doch ich erblickte sie nicht. Was sollte ich glauben? Ich malte mir ein Leben mit ihr aus und entschied mich für die Einsamkeit. Hatte sie das umgebracht? Machte sie zu einem Objekt meiner Begierde. Sie, nur das Produkt meiner Fantasie? Durch die Sprechanlage des Zugs drang eine Durchsage. Der Zug werde demnächst halten. Der Endbahnhof sei erreicht. Ich schaute aus dem Fenster, es hatte zu schneien aufgehört. Die Sonne schien. Hinter der grauen Wolkenschicht spürte ich die Wärme einzelner Sonnenstrahlen auf meiner Wange. Der Zug hielt. Die Passagiere stiegen aus. Sie war nicht unter den Passagieren. Jeder ging seiner Wege. Die Gemeinschaft, welche sich vor ein paar Stunden einte, zerbrach. Ich schritt unter Gleichgesinnten, Fremden, anonym und dennoch Teil einer unmittelbaren Gesellschaft, inmitten menschenleerer Straßen