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Briefe von der Somme
Im Morgengrauen des 24. Juni meldete sich die Artillerie der Entente zu Wort. Tausende Geschütze entluden ihre Munition auf die Felder Nordfrankreichs. Sieben Tage lang walzten sie über das Land. Ein Gewitter von Menschenhand. Trug Hügel zu Ebenen ab und verwandelte Ebenen in Kraterlandschaften, die man sonst nur auf dem Mond finden konnte.
Am Morgen des ersten Julis lachte ihnen die Sonne entgegen.
„Das wird ein Spaziergang“, tönten die Offiziere, um ihren Männern Mut zu machen.
„Kein Mensch kann das Trommelfeuer überlebt haben“
Sie tranken eine letzte Tasse Tee. Die Offiziere schritten zwischen den Männern, die an der Wand des Grabens kauerten hin und her. Gesichter starrten in die Leere. Das einzige Ärgernis sollten die stinkenden Leichen der kaiserlichen Soldaten sein, die in der Julihitze viel zu schnell das Verwesen angefangen hatten. Die Kompanien sammelten sich in ihren Ausgangspositionen und in der angespannten Stille überprüfte mancher Soldat noch ein letztes Mal sein Gewehr. Ein junger Engländer kauerte an der Seitenwand des Grabens, sein Gewehr an die Wand gelehnt. Er trug eine Brille und seine Hände hielten ein Stück Papier fest umklammert. Still las er die Worte, die er am Abend zuvor zu Papier gebracht hatte. Die Zeilen an die Liebste ließen ihn erneut in tiefe Sehnsucht nach der Kleinstadt der Kanalküste verfallen. Die Möwen, wie sie im Sommer ihre Kreise am Himmel zogen. Die Kinder, wie sie in der Brandung spielten. Auch sie hatten es damals getan. Die Kirche, das prachtvollste Gebäude der Stadt, wo er sich so sicher war, dass sie heiraten würden. Denn irgendwann musste dieser Krieg enden.
Der Ruf seines Kompanieführers holte ihn in die Gegenwart zurück. Hastig steckte er den Brief weg. Er trat an die Leiter. Die Pfeife erklang. Die Sprossen trieben Splitter in seine Hände, als er sie mit voller Ausrüstung erklomm. Hastig stieg er aus dem Schützengraben. Der Erdwall, der diesen vom Rest der Landschaft trennte, geriet unter dem Gewicht seiner Stiefel ins Rutschen. Im Vorfeld sammelte sich die Kompanie. In engen Schützenreihen begannen sie ihren Marsch auf die Stellungen der Deutschen. Sein Herz schlug schneller. Seine Hände umklammerten fest den Griff des Gewehres.
Die Luft im Unterstand lastete schwer auf uns. Das Holz, welches die Decke hielt war modrig. Es stank nach Pisse. Ein Husten drang durch die Symphonie aus Donner, Detonationen und den konstanten Pfeifen der Granaten. Keinen Erdklumpen würden sie heute ruhen lassen.
Hier, zehn Meter unter der Erde, befanden wir uns in relativer Sicherheit. Schulter an Schulter saßen wir auf der Pritsche. Nicht mehr als ein Holzbrett auf das Erdreich gebettet. Die Artillerie feuerte weiter. Immer wieder fiel Staub von der Decke des Unterstandes auf unsere Häupter. Wieder hustete jemand. Der Lärm des Trommelfeuers war die neue Stille.
„Wie ist es daheim?“
Mein Blick fiel auf den Hauptmann. Ich betrachtete seine Brille und den verkrüppelten Schnurrbart. Die Gläser waren so sehr von Staub überdeckt, dass er sich fragte, wie er überhaupt noch etwas erkennen konnte. Der Schnurrbart war soweit gestutzt, dass die Gasmaske ohne Probleme angezogen werden konnte. Ich blickte für einen Augenblick nach unten. Der Boden war uneben. Neben meinen rechten Stiefel war eine kleine Pfütze voll braunem Wasser.
Ich blickte auf das Gewehr, welches zwischen meinen Beinen ruhte. Strich über das rötliche Holz. Ich hob meinen Kopf wieder und versuchte mich zu räuspern.
„Was soll man sagen“, antwortete ich. „Besser als hier.“
Der Hauptmann schmunzelte und klopfte mir auf die Schulter. Ich spuckte auf den Boden, etwas knirschte zwischen den Zähnen.
„Uns hat es doch bisher nicht schlecht erwischt“, die Euphorie in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er hatte Recht, unsere Verluste waren für das Regiment bisher unter ferner liefen zu verbuchen.
„Was nicht ist, kann ja noch werden“, antwortete ich.
Wieder schmunzelte der Hauptmann. Ein tiefes Grollen legte sich über den Unterstand. Es wurde lauter und mündete in einer gewaltigen Detonation. Dieses Mal kam uns kein Staub entgegen, sondern Erde. Ich schüttelte den Dreck aus meiner Kleidung. Der Hauptmann, für einen Moment abgelenkt, wandte sich wieder mir zu.
„Du hast einen derben Witz“, stellte er fest. „Bist du Jude?“
Jetzt musste ich lachen. Die Soldaten, die die Konversation nicht mitgehört hatten, warfen mir fragende Blicke zu.
„Wir sind das auserwählte Volk, ich wünsche nur, Gott hätte sich ein anderes Volk erwählt.“
Der Hauptmann grinste.
Die Kanonen schwiegen jetzt. Die Stille ließ schlagartig jedes Gespräch im Unterstand verstummen. Mit angehaltenem Atem warteten wir auf weitere Einschläge. Innerlich betete jeder, dass das Feuer wiederbeginnen würde. Doch die Stille blieb. Die Briten würden kommen. Der Hauptmann begann Befehle zu bellen. Träge erhoben wir uns von den Pritschen und begannen den mühsamen Aufstieg zur Oberfläche. Aus dem Unterstand gekommen, bot sich uns ein Bild der Verwüstung. Die Bretterverschläge, die die Erde an Ort und Stelle hielten waren vollkommen zerschossen und Holzsplitter und einzelne Bretter zusammen mit Erde und Steinen überall im Laufgraben verteilt. Wir mussten über Trümmer und Erdhaufen steigen um unsere Stellungen zu erreichen.
Die Uhr tickte. Mit jeder Minute, die verstrich, krochen die Briten näher an unsere Positionen heran. Mit jeder Minute wurde der blutige Nahkampf wahrscheinlicher.
Der Schütze brachte das Maschinengewehr in den Trümmern des Holzverschlages in Stellung. Der Ladeschütze das Magazin an die Waffe. Ich warf mich in den Dreck, Gewehr im Anschlag.
Ich bekam den ersten Briten ins Visier und zog langsam den Abzug. Der Schuss wurde vom konstanten Dröhnen der Maschinengewehre verschluckt. Der Rückschlag presste den Kolben in meine Schultern und ließ die Waffe gerade soweit steigen, dass ich mein Ziel aus den Augen verlor. Ich wusste nicht, ob die Kugel ihr Ziel gefunden hatte. Hastig repetierte ich.
Das Maschinengewehr rattertete monoton vor sich hin. Das Sterben fand gerade so weit weg von unserem Graben stand, dass wir die Schreie nur erahnen konnten. Die Wirkung unseres Feuers wurde nur dadurch deutlich, dass die anrückenden Reihen immer lichter wurden. Der Angriff verlor jedes Momentum. Die Überlebenden versteckten sich in den Kratern im Niemandsland. Mit der Dunkelheit kam die Stille. Die Sterbenden waren für immer verstummt. Wir harrten immer noch in unseren Gräben aus und starrten in die Dunkelheit. Jederzeit bereit, einen weiteren britischen Angriff zurückzuwerfen. Doch er kam nicht.
Der Hauptmann befahl einen Erkundungstrupp in das Niemandsland. Unter den Glücklichen, die für dieses Job ausgewählt wurden, befand ich mich. Wir schlichen uns in die Dunkelheit. Die Erde unter unseren Stiefel durfte keine Geräusche machen. Da der Mond sich hinter den Wolken versteckt hatte, konnten wir fast nichts sehen.
Wir kletterten über die Krater, die die feindliche Artillerie in die Landschaft gemeißelt hatte.
In die Steigung hinunter, im aufgelockerten Erdreich fanden unsere Stiefel keinen Halt. Unten angekommen, empfingen uns die toten Briten. Der Mond lugte wieder hinter den Wolken hervor und spendete uns ein wenig Licht. Ich hielt inne. Wir kauerten in der Mitte eines größeren Kraters, umringt von den Toten. Ich versuchte zu schlucken, doch meine Kehle war zu trocken. Wir waren auf einem Friedhof.
„Viele Briten haben den Tag nicht überlebt.“ Der Hauptmann zeigte keine Regung angesichts der Nachricht. Oberflächlich zeigten wir alle Freude über den Sieg über den gehassten Feind, doch tief im Inneren war jedem klar, dass sich die Rollen bald tauschen würden. Die Wochen krochen dahin und die Angriffe rissen nicht ab, mal verloren wir einen Graben, mal gewannen wir einen. Die Konstante war das Sterben. Ich warf einen Blick auf meine Taschenuhr. Die Mittagsstunde hatte bereit geschlagen.
„Männer“, meldete sich der Hauptmann zu Wort und hatte sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit. Sein Blick fand keinen von uns, denn wir blickten alle auf den Boden oder gen Himmel.
„Der Auftrag ist, denn Briten ein Stück Graben zu entreißen, ehe sie sich dort heimisch fühlen können“
Ich presste das Bajonett in die Halterung. Ein junger Soldat ging die Reihen der Kompanie ab und verteilte die Brotbeutel und Feldflaschen. Proviant für mehrere Tage, denn wir wussten nicht, wie lange wir in den gegnerischen Gräben verweilen würden. Eine weitere Gruppe Soldaten tauchte auf und verteilten die größeren Taschen. Sie enthielt die Hauptwaffe für den Sturm, die Handgranate. Sie war unsere einzige Möglichkeit, die gegnerische Verteidigung zu schwächen, ehe wir uns in den Graben stürzten um den Rest mit Messern und Späten zu erledigen. Die Pfeife schrillte in meinen Ohren, wir schossen die Leiter nach oben. Ich war der Erste, der die Sicherheit des Grabens hinter sich ließ. Im Laufschritt bewegte sich die Kompanie fort. Durch Regen und durch Schlamm. Wir hatten keine Artillerieunterstützung, sie würden den Feind nur warnen. Es wurden acht Gruppen gebildet, jede geführt von einem erfahrenen Soldaten. Wir schwärmten über das Niemandsland, der Regen prasselte auf unsere Helme.
Ohne unter Beschuss zu geraten erreichten wir den Stacheldraht, wir warfen Matten hinüber um den scharfen Draht von unseren Beinen fernzuhalten. Ratten stoben auseinander. Andere versteckten sich in den zerfressenden Körpern, lungerten zwischen den kahlen Rippen. Ich blickte stur weiter nach vorne. Ich presste meine Hände gegen den Gewehrkolben. Schweiß tropfte vom Helm herunter.
Wir hatten zwei Drittel der Strecke zu den Briten zurückgelegt, als sie das Feuer eröffneten. Der Gruppenführer wurde getroffen und brach zusammen. Zeit für den nächsten, sein Glück zu versuchen.
„Weiter, weiter“, brüllte ich, so laut ich irgendwie konnte und betete, dass meine Stimme nicht versagte. Wenn wir uns hier festnageln lassen, waren wir erledigt.
Das markante Rattern der Lewisgun hallte über das Feld. Es feuerten zwei Maschinengewehre auf uns.
Wir erreichten eine kleine Böschung, gerade hoch genug um dahinter liegend Deckung zu finden.
„Granaten“, brüllte ich und griff nach meinem eigenen Beutel. Ich holte die erste Handgranate hervor und zog die Sicherung. Die Kappe fiel auf die feuchte Erde.
Ich schmiss die Granate, wie die Soldaten zu meinen Seiten. Ein Schauer Granaten flog dem Feind entgegen. Ich hatte nicht die Zeit den Granaten mit dem Auge zu folgen. Diesen Luxus verwehrten mir die Gewehre der Briten. Die Detonationen schluckten die Schreie.
„Geben wir ihnen einen Nachschlag“, brüllte ich und warf die zweite Granate.
Kurz bevor ich hinter der Kante verschwand, sah ich wie die Granate über dem Graben explodierte und Schrapnell in alle Richtungen verteilte. Weitere Detonationen, dann nur noch die Schreie.
„Bereit machen zum Sturm“, brüllte ich über den Lärm des wiederauflebenden Gewehrfeuers. Der Trupp zu unserer Rechten griff bereits an. Ich griff nach meinem Gürtel, der angespitzte Spaten hing dort, wo er hängen sollte. Ich versuchte ein letztes Mal auszuspucken, doch meine trockene Kehle gab nichts mehr frei.
„Los, los, los“, brüllte ich mit so viel Autorität, wie ich noch aufbringen konnte. Ich sprang über die Böschung und den Stacheldraht direkt vor dem feindlichen Graben. Die Artillerie hatten die Sperre beschädigt, der Stacheldraht los- oder gar weggerissen. Bajonett voran ging es in den Graben. Ich fand den ersten Briten und sah seine Augen leer werden, als das Messer ihn aus dem Leben riss. Von rechts kam ein Zweiter herangestürmt, stieg über einen Körper, der mit dem Kopf nach unten im Schlamm lag. Ich versuchte das Bajonett herauszuziehen, doch es steckte fest. Der Brite kam schnell näher. Ich ließ das Gewehr los und griff hastig nach dem Spaten. Ein Gewehrschuss setzte dem Schauspiel ein Ende, der Verfolger fiel und rührte sich nicht mehr.
Wer noch lebte, ergab sich. Jetzt starrten wir mit zusammengebissenen Zähnen auf jene Menschen, mit deren Blut wir noch vor Sekunden den Graben gefärbt hatten. Nur für einen Augenblick kehrte echte Stille ein. Ich starrte in ausdruckslose Gesichter und presste meine Hände an das Gewehr, um nicht zu zittern. Wir entwaffneten die Überlebenden und trieben sie zusammen. Zusammen mit einem weiteren Soldaten, durchsuchte ich die Unterstände nach Informationen. Alles was für das Oberkommando von Interesse sein konnte.
Ich entdeckte ihn hinter einem zerschlissenen Vorhang. Dort in der Ecke, bedeckt von Staub und Blut, kauerte er. Seine Augen fixierten mich, sein Blick war leer und doch bedrohlich. Er hob seine Hand unter großer Mühe. Erst jetzt sah ich das gefaltete Papier zwischen seinen Fingern eingeklemmt. Die Tinte war an Stellen verwischt. Der Soldat röchelte und verstummte für immer. Mein Kamerad hatte den Unterstand bereits verlassen. Zögerlich beugte ich mich nach vorne und griff das Papier aus der schlaffen Hand. Ich starrte auf den Brief in meiner Hand, sein Blut hatte Teile der Tinte verwischt. Meine Augen blieben am unteren Ende des Briefes hängen. Von Hand war dort eine kleine Blume in ein graues Herz gezeichnet worden.
Die versprochene Verstärkung kam nie. Die Briten waren an einem anderen Abschnitt der Front zum Angriff übergangen. Unser Ersatz musste in die Bresche geworfen werden. Der Regen hatte aufgehört und zum späten Nachmittag schaute die Sonne hinter den Wolken hervor.
„Wir bleiben nicht die verdammte Nacht“, grummelte der Hauptmann. Als das letzte Licht versiegte, gab er den Befehl zum Rückzug. Mit den Gefangenen und Verwundeten machten wir uns auf den Rückmarsch. Wir erreichten unsere eigenen Gräben und igelten uns ein. Bereit für eine Racheaktion des Feindes, sollte eine kommen. Doch die Schlacht tobte weiter im Süden. Der Brite war beschäftigt. Nur der Regen trommelte auf unsere Helme. Aus der Ferne drang das Dröhnen der Artillerie. Im Unterstand hob ich meine Stiefel aus dem Matsch des Grabens und schmiss mich auf mein Nachtlager. Durch das zerschossene Dach des Unterstandes tropfte unermüdlich Wasser. Ich zog die Uniform enger zu und schloss die Augen. Eine innere Unruhe macht jeden Schlaf unmöglich, ich tastete in meiner Uniform nach dem Blatt Papier, welches ich dem Briten abgenommen hatte.
Der britische Soldat kauerte im Unterstand. Draußen rüttelte den Wegen an den morschen Brettern, die nur von alten rostigen Nägeln noch an Ort und Stelle gehalten wurden. In dieser mondlosen Nacht lag das Niemandsland wie ein schwarzer Teich vor ihm, der jedes Licht schluckte. Von seiner Stellung konnte er den Stacheldraht nur noch erahnen. In den späten Abendstunden war ein Gewitter aufgezogen und es waren die Blitze, die von Zeit zu Zeit das Schlachtfeld erhellten. Die grellen Blitze verhinderten, dass sich seine Augen vollständig an die Dunkelheit gewöhnten. Mit jeder Stunde fiel es ihm schwerer wach zu bleiben. Doch er konnte sich keinen Schlaf erlauben. Dort draußen lungerten die Hunnen, hatte man ihm gesagt.
Der Blitz erhellte die Silhouette direkt vor seiner Stellung, vom grellen Licht leicht geblendet, reagierte er nicht. Die Gestalt stand jetzt direkt vor ihm, zwei dunkle Augen fixierten ihn. Hastig griff der Brite nach seinem Gewehr, doch seine Hände fanden es nicht. Mit dem Blitz verklungen, waren sie wieder in völlig Dunkelheit gehüllt. Die Silhouette griff in ihre Tasche und zog ein Stück Papier hervor. In der Dunkelheit konnte er es nicht lesen. Zögerlich streckte der Brite seine Hand aus und griff nach dem Papier, er ließ die Gestalt keinen Augenblick aus dem Auge. Blitz und Donner grollten, der Brite kniff die Augen zusammen und als er sie wieder öffnete war der Besucher verschwunden.