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Brief von F.
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Lieber K.,
ich halt’s nun doch für recht, Dir zu schreiben, doch gestritten hab’ ich mich, mit mir selbst habe ich gezankt Deinetwegen, denn sieh, guter Freund, gezweifelt scheint ein Teil in mir an Dir zu haben, der andere jedoch glaubte feste an Dich. Mein Lieber, seit wir uns zuletzt gesehen, sind schon viele Jahre vergangen, nur durch Zufall – obgleich ich doch seit jeher weiß: Zufälle gibt es nicht – besinne ich mich nun auf Dich und schreibe Dir dies.
All die Jahre lebte ich fern von Dir, doch waren meine Gedanken oftmals bei Dir. Den Grund meiner Absenz kann ich nicht genau bestimmen, ich war damals wie zerrissen und sonder Verstand und Vernunft, als ich so abrupt fort ging. Es war mir wie eine plötzliche Sicherheit, dass ich gehen müsse, dass ich nicht nachdachte, sondern dieser in mir brennenden Warnung folgte, nicht einmal weiß ich, auf was sich diese Warnung bezog, noch weiß ich ihren Inhalt, sie war da und befahl mir, wegzugehen und ich musste folgen.
In den weiteren Jahren nun war ich immer auf der Flucht; vor was, das weiß ich nicht, ich wusste es nie und das machte mir noch zusätzliche Angst, Angst davor, dass nichts mich verfolgte und ich also verrückt war, Angst, deswegen irgendwo hinein geschoben zu werden, ich hatte doch schon von solchen Kliniken gehört, in die sie Verrückte hineinstecken, die dort mit verrückt machenden Pharmazeutika voll gestopft werden, bis sie so verrückt sind, dass sie nie wieder hinausdürfen; und schließlich hatte ich Angst vor meinem Verfolger, der vielleicht gar nicht vorhanden war – doch dies wollte ich eben nicht herausfinden und es geschah etwas komisches, das Du vielleicht nicht verstehen magst: ich fing an, mich von diesem Verfolger abhängig zu machen, denn durch ihn war mein Leben nicht einfach sinnloses Dahinvegetieren, ich hatte ein Ziel, bald freute ich mich, wenn das Gefühl des verfolgt Werdens wieder in mir hochkam und mich alarmierte, mich daran erinnerte, weiter zu fliehen, immer weiter, verstehst Du: ich musste nie stehen bleiben und auf der Stelle treten – und es ist so grausam, stehen bleiben zu müssen und nicht weiter zu können und zu sehen, wie alles an einem vorübergeht, doch man selbst ist machtlos –, ich konnte immer weitergehen, immer fortfahren – oh, wie viele Menschen ich auf meiner immerwährenden Flucht traf, wie viele Gesichter ich gesehen, mit wie vielen Mündern ich gesprochen, freilich: nie lange, dennoch so lang, um in den Mund steigen und zum Herzen vordringen zu können, lange genug, um mich von den Augen auf eine Reise zur Seele hinreißen zu lassen. Wie viel sah ich dort unten, bevor ich weiter hab’ müssen, ich könnte Bücher schreiben! Doch ich schreibe nur diesen Brief an Dich und er ist das einzige, das ich je auf meiner langen Flucht geschrieben habe und schreiben werde, denn – es schaudert mir bei dem Gedanken – meine Flucht scheint bald zu Ende, nur ist es mir noch unklar, ob mein Verfolger aufgegeben, oder ob er mich nicht schon längst eingeholt, eines ist mir jedoch klar: ich habe Furcht davor, stehen zu bleiben und mich zu erinnern an mein Leben und an die Seelen, in die ich eingetaucht war und von denen manche mir ihr schrecklichstes Geheimnis offenbart hatten. In der Flucht habe ich mich nicht erinnern müssen, doch jetzt erinnere ich mich an Dich ganz fest und weiß deshalb, dass die Flucht bald endet. Bald wird sie sicher enden, bald endet vieles, bald muss ich weiterziehen, flüchten, in Hoffnung, dass die Flucht doch aus irgendeinem Grunde niemals ende.
Friedrich
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