Brief für Mum
Hallo Mum.
Ich dachte mir, da ich nicht die Möglichkeit habe, mit dir zu reden, schreibe ich dir. Weiß der Teufel (entschuldige den Ausdruck) ob du das hier lesen wirst. Denn ich weiß nicht, wie ich anfangen, geschweige denn wie ich das hier zu Ende bringen soll.
Als deine Freundin Gabi gestorben ist, habe ich gehört, wie ihre kleinen Mädchen ihren Dad gefragt haben, wo ihre Mum ist. Er antwortete: Sie ist jetzt da oben. Im Himmel. Und sie schaut die ganze Zeit von da oben runter und passt auf euch auf.
Ich denke, wenn die beiden nicht irgendwann Atheisten oder so werden, werden sie immer, wenn sie ein Problem haben in den Himmel schauen und fragen: Mum, was soll ich nur machen. Ich denke, sie werden sich beschützt fühlen.
Es ist jetzt zwei Jahre her. Vor zwei Jahren musste ich mich von dir trennen, obwohl ich das nie wollte. Du warst doch meine Mum. Ich hab nie jemandem so vertraut wie dir. Ich dachte immer, egal was passiert, du bist da. Wie konntest du mich allein lassen?
Ich habe mir nie auch nur ein kleines Bisschen gewünscht, dass du tot bist, das musst du mir glauben. Aber ich habe mehr als einmal darüber nachgedacht, dass es leichter für mich wäre.
Als dein neuer Stecher bei uns eingezogen ist hast du dich so sehr verändert, dass ich dich nicht mehr wiedererkannt habe. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Hätte mir vor 6 Jahren jemand gesagt, dass du mich einmal für einen Partner vergessen würdest, hätte ich gelacht. Jetzt ist mir nicht mehr nach Lachen zu Mute.
Verstehst du, warum ich denke, dass die Situation erträglicher wäre, wenn du tot wärst?
Selbst für mich klingt das so hart, dass ich mich frage, wie um alles in der Welt ich so etwas schreiben kann. Aber weißt du, wenn man keine Gewissheit hat, kann man hoffen.
Dass ich zu Dad gezogen bin war nicht gegen dich gerichtet. Ich wollte nicht von dir weg, sondern von diesen fremden Menschen in meinem Haus, die von mir als meine Familie betrachtet werden wollten, sich aber nie Mühe gaben, mir eine zu sein. Warum dachtest du, dass du dich entscheiden musst zwischen deinem Kind und deinem Lebensgefährten? Und warum hast du dich für ihn entschieden?
Existiere ich noch für dich? Bin ich manchmal noch ein Teil deiner Gedanken so wie ich mal ein Teil deines Körpers war? Bist du glücklich? Hättest du nicht gern mit angesehen, wie sich deine Tochter entwickelt, eine junge Frau wird?
Wenn du tot wärst, könnte ich in den Himmel schauen und mir sagen: Sie hat dich lieb. Wenn sie könnte, wäre sie hier. Sie passt auf dich auf.
Aber du bist nicht tot. Du könntest hier sein und bist es nicht. Du könntest auf mich aufpassen und tust es nicht. Du könntest mir zeigen, dass du mich lieb hast. Stattdessen tust du als gäbe es mich nicht. Fragst nicht einmal eine dritte Person, wie es mir geht. Da kann nicht einmal ich mir einreden, dass du noch das für mich fühlst, was eine Mutter für ihr Kind fühlt.
Weißt du noch, als ich mit neun Jahren zu dir gekommen bin, weil ich nicht mehr weiter wusste? Weil Dad immer nur geschimpft und geschrieen hat? Ich war so traurig, dass ich dir gesagt habe, am liebsten wäre ich tot. Du warst erschüttert. Hast mich getröstet. Hast mich gegen meinen Dad verteidigt.
Doch als es um deinen Neuen und seine Gören ging, hast du nicht mehr gemerkt, wie es mir ging. Hast mich nicht gefragt, warum ich mir die Arme aufschneide. Hast nicht gemerkt, dass es nur noch verdammt wenig war, was mich am Leben hielt. Wolltest du es nicht merken?
Weißt du noch, als ich dich gefragt habe, warum du ihn nicht einfach zum Teufel jagen kannst? Weißt du, dass du gesagt hast: Und wer kümmert sich dann um mich, wenn ich alt bin und meine Kinder eigene Familien haben?
Ist es alles nur das? Angst, allein zu sein? Dachtest du, du könntest dich nie wieder verlieben?
Was du nicht weißt ist, dass deine Eltern zu mir gesagt haben, dass ich Schuld bin, wenn du wieder Krebs bekommst. Ich bin Schuld. Wenn du stirbst bin ich Schuld.
Es gab einen Punkt, an dem ich beschlossen habe, dass mein Leben gut ist wie es ist. Ich habe versucht, wieder ein Teil von dir zu werden, aber du hast mir wieder und wieder gezeigt, wo deine Prioritäten liegen. Ich lasse mir keine Schuld geben.
Ich wollte Antworten auf die vielen Fragen, die mich quälten, aber du wolltest mir keine geben. Aber um wieder eine Mutter in dir zu sehen brauche ich Antworten. Ich weiß nur nicht, ob ich dir das antun darf. Weil ich weiß, dass alles über dir zusammenbrechen würde, wenn du dein Leben einen Moment klar sehen würdest.
Du hast gesagt, es wird nicht gut gehen, wenn ich zu meinem Dad gehe. Und jetzt bist du zu stolz, einzusehen, dass du Unrecht hattest. Deshalb willst du dich nicht mit mir auseinandersetzen. Was musst du für schreckliche Angst haben.
Mum, mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe Menschen, die mich wirklich lieben. Und wenn du glücklich bist kann ich damit leben. Aber je länger dieser Zustand dauert, desto mehr finde ich mich damit ab, dass du nichts mehr von mir wissen willst. Und ich hoffe nur, dass dir nicht in 10 Jahren einfällt, dass es doch nicht die richtige Entscheidung war, denn dann wird es zu spät sein. Dann wirst du keine Möglichkeit mehr haben, den erloschenen Funken Liebe in meinem Herzen wieder zum Brennen zu bringen.
Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du so glücklich wirst, wie ich es bin.
[ 10.05.2002, 13:02: Beitrag editiert von: Singerl ]