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Brief für mich
Ratlos durchstöbere ich den kleinen, schmutzigen Karton auf der Suche nach dem alten Foto mit dem abgerissenen, rechten Rand. Ich wühle mich durch Berge von Papier, inzwischen Müll, und alte Bücher. Am Boden des Kartons finde ich, wonach ich suche. Eine kleine Zigarrenkiste, die einst meinem Großvater gehört hatte. Ich nahm sie, viele Jahre bevor er starb, für ihn war sie Müll, genau wie der Unrat, von dem sie nun bedeckt war, es für mich ist. Meine Hände zittern. Mein Herz klopft. Ein Geistesblitz. Er ist noch da drin. In Gedanken öffne ich die alte Kiste langsam, in Wahrheit öffne ich sie schnell und ungeschickt, viel weniger theatralisch, als es angemessen gewesen wäre. Der halbe Inhalt ergießt sich über den staubigen Boden. Ganz unten liegt er. Still. Würdevoll. Ich hatte ihn vergessen. Wie konnte ich ihn nur vergessen? Ich nehme das fleckige Stück Papier in beide Hände, entfalte es langsam, diesmal wirklich. Die aufgebaute Spannung entlade ich wieder, indem ich direkt anfange zu lesen. Eigentlich sollte ich es spannender machen, Film-artiger denke ich mir.
Ich halte kurz inne, beginne dann von vorn:
„Erster Brief an dich, 7. Januar 2013, 05:08 Uhr
Ich bin 18 Jahre alt. Damit erspare ich meinem zukünftigem Ich, dir, mir, das Rechnen. Falls du vergessen hast, warum ich dir um diese Uhrzeit schreibe, es ist der letzte Tag der Weihnachtsferien, und ich bin schlaflos. In zwei Stunden werde ich zur Schule gehen und der Alltag geht wieder los. Vermutlich weißt du nicht mehr sehr viel vom Alltag eines Schülers, doch ich halte es nicht für erwähnenswert, dir davon zu schildern. Ein andern mal vielleicht, in einem anderen Brief. Eigentlich habe ich drei Gründe, dir diesen Brief zu schreiben:
1: Ich will dir, mir, uns ein paar fröhliche Stunden bescheren, wenn du ihn findest und liest (Ich weiß, das du ihn vergessen wirst).
2: Mir ist langweilig. Wenn mir langweilig ist, schreibe ich gern, aber das weißt du ja, du kennst mich.
3: Dazu komme ich noch, lies weiter!
Ich hoffe, du schreibst noch. Im Moment habe ich Ideen für zwei Romane und unzählige Kurzgeschichten. Das ich jemals eine dieser Ideen tatsächlich zu Papier bringen werde, glaube ich nicht. Etwas anzufangen und nicht zu Ende zu bringen gehört gewissermaßen zu meinen maßgeblichen Charaktereigenschaften, und ich bin davon überzeugt, auch zu deinen. Im Moment ist in meinem Leben einiges los. Mein Freundeskreis verändert sich, mir kommt es so vor, als wäre früher alles besser gewesen. Ich will nicht wissen, wie es dir gerade geht. Ich denke, so ist das Leben, Menschen verändern sich eben. Auch wenn die Zeiten damals besser waren, wünsche ich mir mit keiner Sekunde meines bisher erstaunlich kurzen Lebens zu ihnen zurückzukehren, denn: Lerne aus der Vergangenheit, aber lebe nicht in ihr! Lebe auch nicht in der Zukunft, lebe in der Gegenwart und las sie so zur Vergangenheit werden, damit du etwas daraus lernen kannst und deine Zukunft zu einer besseren Gegenwart, und zu einer noch besseren Vergangenheit werden kann, aus der du wieder lernen kannst. Du siehst, das geht ewig so weiter. Doch wie zum Teufel soll man aus seiner Vergangenheit lernen, wenn man nur noch so wenige Augenblicke daraus bewusst wahrnimmt? Mir geht es bereits so. Ich erinnere mich nur an wenige Ereignisse aus meinen früheren Kindheitsjahren, und längst nicht an alle aus meiner frühen Jugend. Ich wünschte, ich hätte mir Briefe geschrieben. Das ist der Hauptgrund, aus dem ich dir schreibe. Um dir eine Schatzkiste der Erinnerung zu bieten, etwas, das ich in meinen jungen Jahren nur zu gern gehabt hätte. Kommen wir also zu mir: Ich bin 1,83 groß, wiege erbärmliche 56 Kilo, habe hellbraune, dunkelblonde Haare, die in einem Pony über meiner Stirn liegen, an der Seite und hinten sind sie etwas kürzer. Ich trage in letzter Zeit gerne Hemden, hauptsächlich in Discos, ich trinke auf jeden Fall mehr als mir gut tut, und bin ständig hoffnungslos verliebt. Es fällt mir relativ leicht, Charmant zu Mädchen zu sein, wenn mir nichts an ihnen liegt, und das ein oder andere mal war ich auch bereits erfolgreich. Wenn ich jedoch mal wieder (Ja, es ist sehr häufig) „verliebt“ bin, verfliegt mein Selbstvertrauen und ich werde eine Art Neville Longbottom (Ich hoffe, du liest immer noch ab und zu die Harry-Potter-Bücher, wenn nicht dann leg sofort los). Ich bin ein elendiger Jammerlappen. Ich beklage mich gern, ich motze gern, ich rede gerne über mich selbst. Mit Sicherheit wirst du das ein oder andere von dir selbst erkennen, falls nicht: Sehr gut, denn wie gesagt, Menschen verändern sich eben. Zu meinen engsten Freunden pflege ich einen sehr guten Kontakt. Ich denke, auch du wirst noch mit Thomas, Alex und Edgar befreundet sein, falls nicht hoffe ich, du hast eine gute Ausrede. Den Rest der alten Freunde erwähne ich nicht, in der Hoffnung das du sie vergessen hast. Ich werde dir nicht durch Namen helfen, nach ihnen im Internet zu suchen. Wahrscheinlich kannst du dich sowieso erinnern. Das Verhältnis zu meiner Mutter ist absolut großartig. Sie ist so liebevoll und fürsorglich wie eine „coole“ Mutter eben nur sein kann. Mir wird gerade bewusst, das sie vielleicht tot ist, wenn du das liest, und der Gedanke daran Schockt mich. Bei meinem Vater wäre mir das egal. Falls er versucht Kontakt aufzunehmen: Fall nicht darauf herein, du wirst wieder enttäuscht! Du merkst, meine Handschrift wird schlechter, ich habe länger gebraucht, als ich dachte. Ich muss los, mich fertig machen für die Schule, aber ich werde wieder schreiben, und mehr berichten. Ich hoffe, auch du schreibst einen Brief.
Ich.
Ich lese den Brief dreimal und noch einmal frage ich mich: Wie konnte ich ihn nur vergessen?
Ich wusste, was zu tun war, nahm den Brief in die Hand und stieg die Kellertreppe empor, Richtung Arbeitszimmer. Angekommen setzte ich mich an den Schreibtisch, öffnete die oberste Schublade und nahm zwei feine, weiße Blätter Papier heraus. Ich würde zwei Briefe schreiben, den einen kürzer, den anderen lang. Meine Hand griff nach dem Füller, die andere zog das Papier etwas näher. Ich schrieb.
Brief in die Vergangenheit, 19. März 2036, 17:57 Uhr
Ich bin 41 Jahre alt. Damit erspare ich uns das Rechnen, wir konnten es beide nie besonders gut. Wir sind typische Schreiberlinge, und du wirst es nicht glauben, ich schreibe noch. Keine Romane, keine Kurzgeschichten, ich bin Journalist. Du hast recht, vom Alltag eines Schülers verstehe ich nicht viel, doch ich meine mich zu erinnern, dass du damals auch nicht viel davon verstanden hast, so selten wie du da warst oder zu spät kamst. Ich werfe es dir nicht vor, so sind wir eben. Vielleicht wird es dich freuen zu hören, dass sich in meinem Freundeskreis seit Jahren nichts verändert hat. Es sind die gleichen Menschen, mit denen ich schon vor 15 Jahren befreundet war, und ein paar wenige von ihnen kennst du. Vielleicht wirst du überrascht sein, dass einige jener Namen,die du mir nicht nennen wolltest, nun eine Kurzwahltaste in meinem Smartphone belegen. Aber wie du schon sagtest, Menschen ändern sich. Mit Edgar bin ich leider nicht mehr befreundet. Unsere Wege trennten sich nach der Schulzeit und ich habe keine Ausrede dafür. Auch Thomas ist mir entronnen, doch ich treffe mich alle paar Jahre mit ihm. Mit Alex pflege ich bis heute eine tiefe Freundschaft, ich hoffe, das freut dich. Doch kommen wir nun zu mir: Ich bin 1,83 groß, wiege erbärmliche 61 Kilo, habe hellbraune kurze Haare, die leblos auf meinem Kopf liegen, doch wenigstens hab ich sie noch alle. Ich trage noch immer gerne Hemden, doch gehe nicht mehr in Discos, und das mit dem Trinken habe ich vor Jahren aufgegeben. Wir haben es zu weit getrieben. Nun eine wirklich gute Nachricht:
Ich habe eine langjährige Freundin, jedoch keine Kinder. Ich weiß, du wolltest welche, doch Menschen ändern sich eben. Ich kann dich erleichtern, unsere Mutter lebt. Sie ist „cooler“ als je zu vor, und hat im Alter das Grasrauchen für sich entdeckt. Ach übrigens – das ist jetzt legal (Ich mache es trotzdem nicht)! Was unseren Vater angeht... Nun tatsächlich hat er vor einigen Jahren Kontakt zu mir aufgenommen, und ich habe ihn verstoßen. Er ist der Grund, warum ich deinen Brief fand. Er ist gestern gestorben. Ich suchte nach dem alten Foto von uns, als ich noch ein Kleinkind war. Vielleicht war das seine letzte gute Tat, vielleicht auch nur Zufall. Ich muss mich nun verabschieden. Ich muss noch einen wichtigen Brief schreiben, an mich. Ach und bevor ich es vergesse: Natürlich lese ich immer noch ab und zu die Harry-Potter-Bücher und finde sie immer noch grandios!
Mit freundlichen Grüßen: Du