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Brief an einen alten Mann

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17.10.2001
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Brief an einen alten Mann

Im Sommer ´94 lebtest Du in New Hampshire in dem Apartment unter dem von Frank und mir. Ich muss zugeben, Dein Name wurde von anderen Dingen in meinem Gedächtnis begraben, wenn ich ihn überhaupt je irgendwo aufgeschnappt habe. Das stört mich. Es kommt mir so vor, als müsse ich Dein Lied als Ganzes singen, und als ob das Vergessen eines Verses einer Sünde gleichkäme.

Du und Deine Katze sind in dem Lied miteinander verbunden. Vor dem Dunkelwerden hast Du sie auf dem ungeteerten Pfad, der unser Gebäude umrandete, immer spazieren geführt; eine dünne, schwarze Lederleine lag um ihren Hals. In der anderen Hand hieltest Du diesen kleinen Baseballschläger, einen von der Sorte, die man bei Homegames immer als Souvenir bekommt. Du hieltest die Katzenleine in der linken Hand und die Schläger in der rechten, bereit, als müsstest Du jeden Moment jemandem oder etwas damit eine verpassen. Was hattest Du denn erwartet? Das die Katze auf einmal durchginge? Einen Hund, der hinter ihr her wäre? Irgendeinen pubertären Kleinstadtpunk mit Baggypants, Irokesenschnitt und nichts Besserem zu tun, als einen alten Mann zu belästigen, der seine Katze spazieren führte? Während all der Zeit, in der ich Dich von meinem Küchenfenster aus beobachtete, konnte ich nie rausfinden, was es mit diesem winzigen Baseballschläger auf sich hatte.

Deine Katze war so ein dünner Steg, der uns verband. Sie begann, mich zu mögen und schlich sich oft nach oben, um sich auf meinem Schoss einzurollen und einzuschlafen. Die wenigen Male, als Frank und ich Dich aus der Nähe sahen, waren, wenn Du hochgekrochen kamst, um sie zurückzuholen. Du hast immer geklopft aber unsere Antwort nie abgewartet, sondern hast einfach die Tür einen Spalt breit aufgemacht, Deinen mit schütterem Haar und Leberflecken bedeckten Kopf hereingesteckt und mit einem starken Lispeln gerufen: „Komm her, Thylvethter... komm hierher, Baby!“

Sylvester. Welch ein Name für eine Katze, deren Besitzer lispelte?

Sie kam immer gleich zu Dir rüber und hinter Dir her, aber da war immer diese Spur von Furcht in Deiner Stimme, wenn Du nach ihr riefest. Als befürchtetest Du, dass dies der Tag sei, an dem sie Dich für einen Augenblick mit kalten, gleichgültigen Augen ansah, kurz mit dem Schwanz ausschlug und dann wieder wegsah, um ganz bei uns zu bleiben; als würde Dich von nun an nur noch ein Schläger auf Deiner Sonnenuntergangsrunde begleiten.

Dann war da noch Dein Auto: Ein verrosteter, zweifarbiger 64er Mustang mit drei fehlenden Radkappen und einer gesprungenen Rückscheibe. Die Karre sah beschissen aus, aber an den wenigen Tagen, an denen Du den Wagen fuhrest, grollte der Motor wie ein Dämon aus dem achten Kreis der Hölle. Und dann das Nummernschild: ELIMIN8R. Ich wünschte, ich wüsste, wie in Gottes Namen Du, ein alter, lispelnder Mann, der seine Katze an einer Leine um den Block führte, an so ein Auto und vor allem auf so ein Nummernschild gekommen war.

Ich war jung und der Überzeugung, dass Selbstmorde stattfanden, nachdem die Sonne unterging. Du zerstörtest diese Illusion, und so erging es uns, Deinen Nachbarn über Dir: Es war ein heißer, träger Sonntagnachmittag. Frank und ich waren kurz davor, miteinander zu schlafen, auf diese leichte, direkte Art und Weise, mit der junge, unbekümmerte Paare mit Sex umgehen, als zwei Polizeibeamte und ein Notarzt durch unsere Eingangstür gestürmt kamen. Sie warteten nicht, damit wir uns ankleiden konnten, sondern kamen ungehalten in unser Schlafzimmer. Fragten, ob einer von uns beiden verletzt wäre. Wir waren beide verwirrt und verängstigt.

Während ich ins Bad lief, um mir einen Bademantel überzuziehen, kniete sich einer der beiden Polizisten auf den Boden und rieb mit der Hand über den Schlafzimmerteppich. Frank fragte ihn, was er da täte. Sein Partner, der fast so alt aussah wie Du, erklärte, dass Du Dich erschossen hättest, und die Kugel durch Dich und in die Decke gedrungen sei. Es täte ihnen Leid, so hereingestürmt zu sein, doch mussten sie doch davon ausgehen, dass die Kugel die Holzdecke durchdrungen und hier oben jemanden ernsthaft verletzt haben könnte. Ich kam aus dem Bad und fragte die drei, warum der Krankenwagen so seelenruhig auf dem Parkplatz stand, auf den ich vom Badfenster aus heruntersehen konnte, und der Beamte wiederholte seinen Bericht. Ich schüttelte den Kopf. Warum beeilte man sich dann nicht, Dich ins Krankenhaus zu bringen? Und wie konnte eine Kugel überhaupt in Richtung der Decke geschossen werden?

Der Beamte wich meinem Blick aus. Wenige Minuten zuvor hatte er mich nackt gesehen – ein Mädchen, dass jung genug war, um seine Tochter sein zu können – und das hatte ihm irgendwie den Mut genommen, mir die Ballistik von selbstausgelösten Pistolenschüssen zu erklären. Mein Blick glitt von ihm zu Frank, der erst Luft holte, dann aber aus Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand eine Pistole formte und diese auf seinen geöffneten Mund richtete. Er wusste, ich hatte verstanden, als meine Unterlippe erzitterte und ich ohne ein weiteres Wort zurück ins Bad ging und die Tür hinter mir verschloss.

Ich kam für eine ganze Weile nicht wieder raus, auch nachdem die Männer gegangen waren, und so ging Frank nach unten, um in Deinem Apartment nachzusehen. Deine Tür stand offen, und Männer mit Latexhandschuhen gingen in Deinem Wohnzimmer auf und ab. Frank erzählte mir später, dass er zwar Deinen Körper nicht sehen konnte, ihm die Decke aber alles sagte, was er wissen musste. Die roten Schlieren und Gerinnsel hätten ihn an ein abstraktes, minimalistisches Experiment eines Kunststudenten erinnert. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er bei diesem Gedanken kurz aufgelacht hat, und wie sich jeder der Beamten nach ihm umdrehte und ihn anstarrte. Frank verließ deshalb den Raum, bevor ihn jemand dazu aufforderte.

Da bemerkte er Deine Katze als felliges Bündel auf der Fensterbank am Ende des Flurs. Mit zuckendem Schwanz schaute sie zu, wie Fremde die Türschwelle übertraten, die vermutlich jahrelang von keinerlei Besuchern überquert worden war. Jemand würde sich um sie kümmern müssen, und Frank nahm an, dass ich sie bei uns aufnehmen wollen würde. Er und die Katze hatten sich nie besonders gut verstanden, aber als er auf sie zutrat, um sie aufzuheben, schmiegte sie sich gleich in seine Arme, wie ein verlorenes und verängstigtes Kind, das die Hand jeder freundlichen Person ergreifen würde.

Sylvester verbrachte jene Nacht in unserem Schlafzimmer, zusammengerollt am Fuß des Bettes. Sie sah zu, wie Frank und ich uns in langsamen, gleichmäßigen Bewegungen liebten.

[ 23.06.2002, 02:04: Beitrag editiert von: Rabenschwarz ]

 

Kris,

danke fürs Lesen und Kommentieren.

Fehler editier ich gleich...bei dem Autoabschnitt war ich mir auch nicht sicher, obwohl mir das Bild gefällt, wie der alte Mann in der Kiste durch die Straße dröhnt...mal sehen, entweder verdeutlichen, was ich damit eigentlich sagen wollte, oder rauskicken, ich denke nochmal drüber nach.

Grüße,
San

 

Hi San!
hat mir sehr gut gefallen! Du erzählst schön und irgendwie beiläufig, eine Geschichte, die sich als nicht sehr alltäglich darstellt. Dabei dominiert für mich der Umgang mit Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung und Sichtweise. Dinge werden so dargestellt, wie man sie im "wahren Leben" wohl wahrnehmen könnte. Wenn man eben subjektiv auf diese Dinge sieht. Schön beobachtet.
Durch die sprachlich sehr korrekte Darstellung mit den richtigen Konjunktiv-Formen usw. schaffst Du eine "berichtende Distanz", die sehr gut zu diesem Text paßt.
Der Titel "Brief an einen alten Mann", hat nach dem Lesen der KG eine andere Richtung als davor.

Ein paar Anmerkungen zum Text:
Die Eingangspassage ist schon sehr gut formuliert. Sie reizt, den Text weiter zu verfolgen, und der Rest wird ihr gerecht.

; eine dünne, schwarze Lederleine lag um ihren Hals.
es ist völlig klar, was Du sagen willst, ich zweifele nur grad an meinem Sprachverständnis: die Leine liegt doch nicht eigentlich um den Hals... sagt man das dann wirklich so? klingt irgendwie ungewöhnlich, aber nicht wirklich falsch ... :confused:

als müsstest Du jeden Moment jemandem oder etwas eine damit verpassen.
hier würde ich umstellen: ... etwas damit eine verpassen.

"Komm her, Thylvethter... komm hierher, Baby!"Sylvester. Welch ein Name für eine Katze, dessen Besitzer lispelte?
ganz definitiv eine coole Stelle! ( aber es müßte doch "deren Besitzer" heißen, oder? )
"Komm her, Thylvethter... komm hierher, Baby!"Sylvester. Welch ein Name für eine Katze, dessen Besitzer lispelte?
gefällt mir: Du sagt mit dem, was fehlt, anstelle von mit nur noch einer... eine interessante Sichtweise, die Du schön dargestellt hast... so ein wenig ausgedrückt, was man erwartet, und dann, welche Erinnerung sich einprägt, wenn die Erwartung nicht erfüllt wird.
, an so ein Auto und vor allem auf so ein Nummernschild gekommen war.
sehr schön formuliert. Solche Satzbauspiele gefallen mir gut!
Ich war jung und der Überzeugung, dass Selbstmorde stattfanden, nachdem die Sonne unterging. Du zerstörtest diese Illusion,
auch sehr nett mit den Erwartungen umgegangen! ;)

Lieben Gruß, Frauke

 

@Frauke,

Danke fürs Lesen und Kommentieren.

Du erzählst schön und irgendwie beiläufig
Der beiläufige Erzählstil war mir beim Schreiben besonders wichtig, schön, dass er anscheinend so gelungen ist, wie ich beabsichtigt hatte. Dasselbe gilt für Deine andere Anmerkung,

Dabei dominiert für mich der Umgang mit Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung und Sichtweise.
ebenfalls Teil der stilistischen Intention des Texts.

Zitat:
--------------------------------------------------------------------------------
; eine dünne, schwarze Lederleine lag um ihren Hals.
--------------------------------------------------------------------------------

es ist völlig klar, was Du sagen willst, ich zweifele nur grad an meinem Sprachverständnis: die Leine liegt doch nicht eigentlich um den Hals... sagt man das dann wirklich so? klingt irgendwie ungewöhnlich, aber nicht wirklich falsch ...

Bin von dem Ausdruck 'eine Leine an- bzw. umlegen' ausgegangen, denke, dass ist korrekt, aber werde mal über alternative Formulierungen nachdenken.

Zitat:
--------------------------------------------------------------------------------
als müsstest Du jeden Moment jemandem oder etwas eine damit verpassen.
--------------------------------------------------------------------------------

hier würde ich umstellen: ... etwas damit eine verpassen.

Hab's erstmal editiert (ebenso wie den definitiv falschen Genitiv bei Besitzer, thanx), die gesamte Formulierung ist mir aber eh noch zu schräg, weiterhin verbesserungsfähig, aber die Umstellung ist schon mal ein Anfang.

Beim nächsten Zitat hast Du wohl nicht auf Kopieren geklickt, aus Deiner Anmerkung ist mir nicht klargeworden, welche Textstelle Du meintest.

Ansonsten, Danke fürs Lob, scheint so, als fluppt es langsam wieder bei mir ;)

Grüße,
San

 

hi San!

bei Deinen KGs fällt mir immer wieder auf, daß sie sehr durchdacht und "beabsichtigt" sind. Du weißt, welche Mittel Du zur Verfügung hast und wie Du sie einsetzen kannst. Das Ergebnis ist eine qualitativ hochwertige KG, bei der es Spaß macht, zu lesen.

Ja, Du hast Recht, ich hatte einmal die falsche Stelle reinkopiert. Die Anmerkung sollte sich auf die Radkappen beziehen.
Also hier nochmal: ( diesmal richtig )

zweifarbiger 64er Mustang mit drei fehlenden Radkappen und einer gesprungenen Rückscheibe
gefällt mir: Du sagt mit dem, was fehlt, anstelle von mit nur noch einer... eine interessante Sichtweise, die Du schön dargestellt hast... so ein wenig ausgedrückt, was man erwartet, und dann, welche Erinnerung sich einprägt, wenn die Erwartung nicht erfüllt wird.

Lieben Gruß,
Frauke

 

@Frauke,

Danke für den Nachtrag. Wie oben bereits gesagt, bin ich mir mit dem Autoabschnitt noch nicht so sicher, ist so, wie er dasteht, eigentlich überflüssig...mal sehen, muss erst wieder in Bastellaune sein ;)

@Gerard,

Danke fürs Lesen und Kommentieren. Dass Tod und Liebe beieinanderstehen, dass sich Alltag und das Nichtalltägliche (kein schöner Begriff für einen Selbstmord, ich weiß) oft begegnen, aber nunmal der Alltag anschließend wieder einsetzt, ist Intention der Geschichte. Für den Grund des Selbstmord habe ich bewusst keinen direkten Anhaltspunkt (einzig der Baseballschläger, der für Angst stehen kann und die Türschwelle, die jahrenlang von niemandem übertreten wurde und Einsamkeit suggeriert) gegeben, eine Begründung empfand ich für nicht notwendig.

Grüße,
San

[ 23.06.2002, 21:29: Beitrag editiert von: Rabenschwarz ]

 

Hi San,

bevor ich die anderen Kritiken lese, schreibe ich Dir erstmal, wie Deine Geschichte auf mich gewirkt hat.

Dir ist hier die wunderbare Beschreibung eines alten, einsamen Mannes gelungen, der in der ganzen Geschichte überhaupt nicht auftritt, weil er nämlich schon tot ist. Nur aus den Erinnerungen der Protagonistin erfährt man etwas über ihn, in schlichten, unsentimentalen Worten, aber trotzdem so, dass man beim Lesen sehr berührt ist.

Durch die Katze, die an der Leine spazierengehen muß, was für ein so unabhängiges, die Freiheit liebendes Tier eine Qual sein muß, erfährt man ganz nebenbei, wie eingesperrt der alte Mann in seiner Einsamkeit war.

Für mich ist dies eine sehr einfühlsame und großartige Geschichte!

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Barbara,

danke fürs Lesen und Kommentieren.

Ich bin gerade dabei, die Geschichte für die Lesung (und vielleicht für meine Bewerbung, mal sehen) etwas zu ändern. Es ist komisch, dass du die Qual der Katze ansprichst - als ich die Geschichte schrieb, dachte ich darüber gar nicht so sehr nach, die Szenerie 'Katze an Leine und Baseballschläger in der anderen Hand' sollte dem Text überwiegend eine leicht komische Note geben. Damals hatte ich von Katzen auch wenig Ahnung, mitlerweile hat sich das geändert, weil meine Familie eine streunende Katze bei sich aufgenommen hat, die sich langsam in unsere 'Familienstruktur' eingliedert (sprich: sie nimmt langsam aber sicher den ersten Platz ein :D). Erst anhand dieser Katze ist mir bewusst geworden, wie eigenwillig diese Tiere sind, und wie nachhaltig sie einem deutlich machen, dass ihnen etwas nicht passt. Ich überlege noch, ob und wie ich der Katze im Text eine Spur mehr von diesem Eigenwillen zukommen lasse, zur Zeit ist sie mir, so wie sie jetzt ist, ein bisschen zu 'doglike'. Mal sehen, geändert wird bis zur Lesung eh noch die ein oder andere Stelle.

Grüße,
San

 

Hi San,

das hat mich jetzt sehr erstaunt, dass die Katze von Dir gar nicht so "geplant" und gezielt in Szene gesetzt worden war. Für mich war das gerade ein ganz deutliches Bild: Der Mann ist unendlich einsam, deshalb muß er die Katze, die sein einziger Gefährte ist, anleinen, denn ließe er ihr die Freiheit, die solche Tiere brauchen - wahrscheinlich hätte er keinen Gefährten mehr. So habe ich das Bild mit der Katze sofort verstanden - und es war nur Zufall :)

Liebe Grüße
Barbara

 

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