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Brief an eine verstorbene Mutter
Brief an eine verstorbene Mutter
14. August 2016
Liebe Mutti,
bis heute ist es mir ein Rätsel, wie Du meinen Namen hast rufen können in Deiner letzten Nacht.
Gegen drei Uhr früh war es, an einem Sonntagmorgen.
Von Deinem Ruf erwachte ich, schlaftrunken ging ich ins Zimmer zu Dir und fand Dich vor
Schmerzen gekrümmt in dem Pflegebett, Du stammeltest nur: „Au au – hi – he...“
Keine Antwort auf meine Fragen, nur: „Au au – hi – he...“
Voller Angst rief ich die Notrufnummer an. Für mich dauerte es eine Ewigkeit, bis die Sanitäter
kamen. So viele Leute in dem kleinen Raum. Einer sprach Dich an; wie entsetzt war ich, als er
Dich schlug! Aber das war wohl nötig, er sagte darauf zu mir: „Ihre Mutter wird sterben,
bereiten Sie sich auf eine unruhige Nacht vor.“...
So rief ich Deine älteste Tochter in Düsseldorf an. Gegen vier Uhr früh hatte ich meinen
Schwager am Apparat. „Entschuldige bitte, Peter, aber Mutti liegt Im Sterben“, waren meine
Worte. Peter sagte, sie würden sich sofort auf den Weg machen.
So ging ich zurück zu Dir, um Dir diese Botschaft zu bringen.
Mit einem Mal kamen Worte aus Deinem Mund: „Ich muss mal!“ So stark warst Du in Deiner
Not, dass ich Mühe hatte, Dich ins Bett zurückzudrücken, während ich Dich anbrüllte: „Du
darfst ins Bett machen!“ Wie erniedrigend muss das für Dich gewesen sein. ... - Ich war so froh,
dass die Pflegeschwester am Abend zuvor die Bettgitter hochgestellt hatte, sonst wärst Du wohl
herausgefallen. Zu ihr hattest Du noch gesagt: „Ich möchte so gerne wieder auf meinem Stuhl
am Wohnzimmerfenster sitzen und sticken.“ Ob sie geahnt hat, was passieren wird, als sie das
Gitter hochstellte?
Jedenfalls spürte ich, dass Du meine Anwesenheit nicht länger ertragen konntest, nach der
Erniedrigung, ins Bett machen zu müssen; aber Du trugst eine Windel.
So fing ich an, den am Vortag versäumten Wochenendputz zu erledigen. Als ich zwischendurch
nach Dir sah, hast Du geschlafen. Anscheinend hatte Dich meine Tätigkeit beruhigt.
Kurz nach sechs Uhr war ich mit Putzen fertig. Entsetzt sah ich, dass Du Dich wieder vor
Schmerz krümmtest und Deinen Stomabeutel abgerissen hattest! Du weißt, ich konnte nie auf
dieses grauenhafte Loch in Deinem Bauch gucken, aber merkwürdigerweise hatte ich in letzter
Zeit aufgepasst, wenn die Schwestern Dich versorgten. So rief ich die Notnummer vom
Pflegedienst an, um mir Anweisung geben zu lassen – es gelang mir einen Beutel anzukleben.
Wie froh war ich, dieses Loch wieder verschlossen zu haben.
Dann batest Du um Wasser. Wie sollte ich Dir welches geben? Sämtliche Freunde rief ich an, ob
jemand einen Schnabelbecher hätte? Schließlich rief ich auch Deinen Sohn Joachim an, den Du
immer so vergöttert hast... Von ihm bekam ich Folgendes ins Ohr gebrüllt: „Ich muss arbeiten,
lass mich in Ruhe!“ Trotzdem ich ihm sagte, dass Du im Sterben liegst, war ihm seine Arbeit
wichtiger als Du!
Verzweifelt ging ich zu Dir und bat Dich um Verzeihung, weil ich nicht wusste, wie ich Dir
Wasser geben sollte.
Immer wieder sah ich auf die Uhr, wann nur kommen die Düsseldorfer? Hatten sie vor lauter
Eile einen Unfall?
Mehrmals ertappte ich mich bei der Überlegung, einfach aus der Wohnung zu gehen, Dich
Deinem Schicksal zu überlassen. Nur, den Mut dazu fand ich nicht.
Endlich, gegen neun Uhr trafen Susanne und Peter ein, da war ich nicht mehr so verdammt
alleine. Kurze Zeit später kam auch die Schwester vom Pflegedienst, versorgte und wusch
Dich. Abwechselnd wachten wir an Deinem Lager. Zuerst wurde ich zum Ausruhen geschickt,
nachdem wir eine Kleinigkeit gegessen hatten. Auch war Peter etwas eingefallen, wie Dir
Wasser zu geben sei. So brauchtest Du nicht länger Durst leiden. Peter hatte den Notarzt
kommen lassen, Du hättest Morphium benötigt, das hatte er nicht dabei, aber ein starkes
Schmerzmittel.
Schlafen konnte ich nicht, aber etwas ausruhen, zurückgezogen in meinem Zimmer. Ich rief
einige Freunde und Bekannte an, erzählte, was passiert war.
Als ich als Deine „Wache“ eingeteilt war, nahm ich das neue Hundebuch, das ich Dir gekauft
hatte mit und fing an, Dir vorzulesen. Dabei wurde mir bewusst, dass ich Dir nie zuvor
vorgelesen hatte. Irgendwann hast Du mit einem Mal gelächelt und bist eingenickt.
Beim nächsten Mal an Deinem Bett las ich die nächste Geschichte, habe aber gespürt, dass
Dich daran etwas störte. Leider konnte ich nicht deuten was Du wolltest und habe verkrampft
weitergelesen.
Peter hatte irgendwann Joachim herbeizitiert, damit er Dich auch nochmal sieht.
Gegen 20 Uhr kam nochmals eine Schwester vom Pflegedienst, wusch Dich gründlich und
wir alle halfen, Dich umzukleiden und frische Bettwäsche aufzuziehen. Darauf scheinst Du
gewartet und gehofft zu haben.
Gegen 21 Uhr rief Peter Susanne und mich zu Dir.
Als Du für immer gingst, hielten wir Deine Hände und Arme.
Mit einem Mal fühlte ich ein Schweben über uns, in mir war ein tiefes Gefühl von Frieden,
Harmonie und irgendwo Freude – einfach unbeschreiblich. Habe ich Deine Seele gesehen?
Später fragte ich Susanne und Peter, ob sie das auch gespürt hätten? Beide verneinten.
Es folgte die Beerdigung, nur in Familie, einzige Ausnahme war Sabine, meine ehemalige
Lehrerin; in all den Jahren ist sie eine gute Freundin geworden.
All das ist nun fünf Jahre her, am 14. August, auch in diesem Jahr wieder ein Sonntag.
Einen Monat nach Deinem 91. Geburtstag am 15. Juli bist Du gegangen.
Gerne möchte ich Dir heute „Danke“ sagen, Danke dafür, dass Du mich nicht wirklich verlassen
hast, Du bist wohl nur nach nebenan gegangen, ohne dass ich Dich sehen und hören kann. Von
dort gibst Du weiterhin Acht auf mich, auch nach dem Umzug hierher bist Du mitgekommen
und sorgst für mich. Das erkenne ich an den alten und neuen Freunden, an den Pflanzen und
Blumen in den Beeten – und an Katerli, der mich leider auch schon verlassen musste, sowie an
seiner Nachfolgerin Shadow, für die ich Dir besonders Danke.
In Liebe
Deine jüngste Tochter
Evelyne