Bridie und Niall
Bridie und Niall
We’re on the one road sharing the one load
We’re on the road to God knows where
We’re on the one road, maybe the wrong road
But we’re together now who cares
--- „On The One Road“ ---
[Irisches Lied aus dem Jahre 1920, das die Stimmung des Volkes nach der von der britischen Regierung erzwungenen Teilung der 6 Ulster-Grafschaften beschreibt.]
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Heute.
Sie ließ die Füße über die Schlucht, die Küste unter ihr, baumeln. Sie saß da und spürte den Wind und wie er ihr die blonden Haare ins Gesicht streichelte. Die Hände krallte sie in den von Gras spärlich bewachsenen Boden.
So saß sie da; lächelte und weinte. Kicherte und schrie in den Sonnenuntergang hinein, der seine letzten, blutroten Strahlen auf die Irish Sea warf.
Damals.
Bridie machte wieder Schmatzgeräusche bei Tisch. Ma haßte das und Bridie wußte ganz genau, daß sie das haßte.
„Hör‘ auf damit, Kleines! Du weißt doch, daß mir das den ganzen Appetit verdirbt! Und deinem Vater auch!“
„Papi ist aber nicht da!“ sagte Bridie und schlug unterm Tisch nach den Beinen ihres Bruders Naill, der ihr gegenüber saß. Augenblicklich verzog er das Gesicht.
„Hör auf!“ schrie er sie an.
„Warum denn?“ Bridie stocherte gelangweilt in ihrem Essen herum und wurde rot, als ihre Mutter erneut mit ihrer Standardpredigt bei Tisch anfing.
„Du betest nicht vor dem Essen, du schläfst nicht vor vierundzwanzig Uhr ein, du räumst dein Zimmer nicht auf, du ißt nicht anständig – was mache ich nur mit dir?“
Und schließlich: „Papa hat vorgeschlagen, dich in ein Heim zu stecken...“
„Heim? Heim?“ Bridie riß die Augen auf. Entsetzen lag in ihrem kindlichen Gesicht. Plötzlich war alles Freche verschwunden, alles Trotzige und Widerspenstige... Wie schnell aus Spaß Ernst werden konnte!
„Ist das nicht ein bißchen zu heftig, Ma...“, sagte Naill und warf Bridie einen verwirrten Blick zu. Er war schon fünfundzwanzig Jahre alt. Er war Bridies großer Bruder. Früher, als sie zehn gewesen war, hatten sie sich überhaupt nicht verstanden. Sie hatte ihn immer angewiesen, die bösen Mädels aus ihrer Schule zu verhauen – aber er hatte nur blöd gelacht und den Kopf geschüttelt.
„Ich schlage keine Mädchen“, sagte er dann immer – und in diesen Momenten haßte sie ihn. Da haßte sie ihn wirklich. Was war er nur für ein Bruder? Keine Mädchen schlagen?
„Ist doch jetzt alles gleich! Männer und Frauen sind doch jetzt gleichverblechtigt!“
Und dann lachte er wieder schallend und schüttelte oberlehrerhaft den Kopf!
„Du meinst wohl ‚gleichberechtigt‘, junge Dame.“
„Du Idiot!“ schrie sie ihm ins Gesicht und streckte die Zunge so weit raus, wie sie nur konnte.
Aber das war alles früher gewesen. Früher war vorbei und nicht mehr der Rede wert.
Jetzt saß sie da, braver denn je, und hatte Mühe, die Tränen zurück zu halten. Sie war jetzt ein großes Mädchen, sie war jetzt vierzehn stolze Jahre alt – und Naill war fünfundzwanzig. Er hatte schon ein richtiges Bärtchen und manchmal behauptete er, er müsse sich zweimal am Tag rasieren, so schnell würden die Haare in seinem Gesicht wachsen!
„Ach, Kleines, ich könnte dich doch nie in ein Heim stecken! Entschuldige, Kind, ich habe mich versprochen! Aber ein Internat würde für dich nun schon in Frage kommen.“
„Internat?“ fragten Bridie und Naill gleichzeitig. Sie starrten sich verblüfft an.
„Warum denn ein Internat? Sie kann doch in die städtische Schule gehen...“, sagte Naill schließlich.
Mami lächelte und nahm einen Schluck Tee. „Natürlich kann sie das. Aber dein Vater und ich, wir haben lange darüber gesprochen und sind zu dem Entschluß gekommen, daß die städtischen Schulen nicht so sicher wie die privaten sind. Ihr wißt schon, dieser ganze Nordirlandkonflikt. Allmählich gerät er außer Kontrolle und ich will nicht, daß ich eines Tages davon erfahre, daß die Schule meiner Tochter in die Luft gesprengt worden ist...“
Bridie riß die Augen weit auf. Zweidrittel ihres niedlichen Gesichtes bestanden nur aus den großen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Naill zuckte mit den Schultern.
„Aber wir können uns das einfach nicht leisten!“ wandte er schließlich ein.
„Doch, können wir. Dein Vater und ich, wir haben für solche Fälle etwas Geld beiseite gelegt... Noch bevor Bridie auch nur geplant war! Und ich denke, jetzt ist es an der Zeit...“
„Aber ich will nicht ich will nicht ich will nicht! Mama, du kannst mich doch nicht einfach so von zu Hause fort schicken! Ich will das nicht! Ich will hier bei Naill bleiben!“
„Naill hat einen Job gefunden und wird bald arbeiten gehen. Du wärst ihm nur ein Klotz am Bein, Kleines“, sagte ihre Mutter sanft.
„Niemals! Naill, sag doch was!“
„Nun ja...“, ihr Bruder räusperte sich. „So ganz unrecht hat deine Mutter da gar nicht, mein Liebes.“
Er fiel ihr in den Rücken! Gerade er! Er, wo er doch immer zweimal am Tag mit ihr die Küste entlang spazieren ging und immer wieder beteuerte, wie lieb sie ihm war! Sie hatten doch zusammen Muschelhäuser gebaut und Krebse gefangen! Naill hatte ihr beigebracht, wie man die Boote auf See zählt. Und er hatte ihr auch die Sache mit den Himmelsrichtungen erklärt – wo Norden, Süden, Osten und Westen ist und all so was. Er war jeden Sonntag mit ihr und dem billigen Fischerboot auf die Irish Sea hinaus gefahren. Er hatte ihr erklärt, wie man Fische fängt und gleich betont hinzugefügt, daß das keine Sache für kleine Mädchen war. Und er war immer mit ihr zusammen ins Kino gegangen – sofern sie sich das mal leisten konnten. Und ausgerechnet ER fiel ihr JETZT in den Rücken!
Nein, die kleine Bridie würde ein Leben ohne ihn sicher nicht verkraften!
„Ihr habt euch alle gegen mich verschworen!“ brüllte sie, stand auf und stürmte in ihr Zimmer.
„Ich wußte, daß sie so reagiert“, sagte Ma zu Naill und lächelte.
„Sie schlägt halt ganz nach dir“, meinte er, stand auf und eilte zu seiner Schwester, um ihr die Welt der Erwachsenen zu erklären.
Drei Monate später war Bridie in einem Mädcheninternat. Naill hatte Ma und Pa geholfen, sie ein bißchen zu beruhigen. Er erklärte seiner Schwester, daß er ihr immer schreiben würde und sie ja zu den Ferien todsicher nach Hause kommen konnte. Und zwar würde er sie höchstpersönlich abholen! Er, ihr großer Bruder!
„Was meinst du, was die anderen gucken werden? Ganz neidisch werden sie sein!“ hatte er gekichert. Und sie hatte sofort mit gekichert: „Au ja!“
„Und dann gehen wir wieder Muscheln suchen und mit dem Boot fahren wir auch wieder auf See?“
„Ja.“
Er hatte ihr klargemacht, daß das wirklich das Beste für sie sei, daß dieser Konflikt langsam eskalierte und Ma und Pa Angst um sie hatten. Wo sie doch so eine Prinzessin war! Nicht auszuhalten, der Gedanke, was die Leute von der IRA mit ihr machen würden, wenn sie sie in ihre Gewalt bringen würden! Und daß die IRA vor nichts zurückschreckte, das bewiesen ja eindeutig die vielen Anschläge in Belfast, Dublin und sogar im fernen London!
Der Abschied war der reinste Horror gewesen. Und Naill freute sich furchtbar auf die nächsten Ferien. Er liebte seine kleine Schwester. Er liebte sie so sehr und es tat ihm weh, wenn er nach langer Arbeit nach Hause kam und niemand da war, der ihn an der Eingangstür begrüßte. Bridie war zwar vierzehn Jahre alt und auf dem besten Wege, erwachsen zu werden, aber bis jetzt hatte sie noch sehr viele Spuren aus ihrer Kindheit in ihrem Herzen; Jungs interessierten sie nicht. Nur Spaß und Blödsinn hatte sie im Kopf.
So liebte er sie. Und es schmerzte ihn, es schmerzte ihn unheimlich, daß er sie nicht mehr umarmen konnte, wenn er nach Hause kam. Das Essen bei Tisch war fad und schmeckte ihm nicht mehr. Die Unterhaltungen mit seiner Mutter waren platt und oberflächlich.
„Ich vermisse sie“, sagte er.
„Ich auch“, sagte seine Mutter.
„Das ist nicht wahr.“ Und wie immer an dieser Stelle, stand er wortlos auf und verschwand in Bridies Zimmer.
Die Zeit, in der sie weg war, schien kaum zu vergehen. Endlos zog sie sich hin – endlos war jeder Tag und jede Nacht, jeder Strandspaziergang erschien ihm öde und leer. Und schließlich zählte Naill die Tage bis zu Bridies Ferien. Jeden gottverdammten, einzelnen Tag zählte er. Und als es endlich soweit war, sprang sie ihm in die Arme und er küßte und drückte sie an sich.
„Kleines, ich hab dein Meckern vermißt!“
„Du hast mir auch gefehlt, Naill!“ Und dann nahm er sie mit nach Hause. Er fuhr die ganze Strecke von Coleraine zurück nach Ballycastle.
„Gehen wir gleich an die Küste?“ fragte sie noch im Auto. Sie zog die Knie an die Brust und umschlang sie mit den Armen.
„Du bist erwachsen geworden“, flüsterte er und ertappte sich dabei, wie er mehr auf sie starrte als auf die Straße. Röte schoß ihm in die Wangen. Sie kicherte.
„Ich hab Probleme in Französisch. Könntest du mir in den Ferien ein bißchen damit helfen? Ich hab auch mein Buch mitgebracht.“
„Klar“, beeilte er sich zu sagen.
Sie nickte. Und er bildete sich ein, daß sie gewachsen war.
„Und was ist dir sonst noch so alles passiert? Hast du irgendwas erlebt?“
„Betty hat mir gezeigt, wie man knutscht!“
Sie machte Schmatzgeräusche und er lachte.
„Und Betty hat gesagt, daß alle Männer in deinem Alter schon längstens geheiratet haben!“
Und jetzt lachte er so sehr, daß er sich an seinem eigenen Speichel verschluckte. Dann warf er ihr einen amüsierten Blick zu. „Wer ist denn Betty?“
„Eine dumme Pute, die von nichts eine Ahnung hat! Pah! Ich hab ihr eine geknallt! Ich meine, so kann sie doch nicht über dich reden! Sie sagt nämlich, du seist ein Spätzünder und kein guter Bruder! Das darf sie doch nicht über dich sagen, Naill!“
„Du hast dich mit ihr geprügelt?“
„Ja. Ich hab ihr ganz schön zugesetzt!“
„Kommen davon auch die schwarzen Flecken auf deinen Beinen?“
Geniert streifte sie den Rock etwas weiter über die Knie, stieß ein „Pah“ über die entzückenden Lippen und starrte aus dem Fenster.
Sie hat sich wegen mir geprügelt, dachte Naill. Und dann begann sein Herz zum ersten Mal schneller zu schlagen, als es schlagen sollte.
Wo sich die Täler Glentaisie und Glenshek treffen, liegt Ballycastle – und die Bucht endet in einem breiten Sandstrand, von dem aus man im Osten den Bergrücken Fair Heads sehen kann. Sie gingen oft an den Strand hinunter. Und dort lagen sie viele Stunden. Er hielt das Französischbuch, das sie aus dem Internat mitgebracht hatte, zwischen seinen Knien und fragte sie ab.
„Was heißt ‚Je n’oublie rien‘?“
„Frag mich was anderes!“ sagte sie und ließ sich in den Sand fallen. Er studierte sie und stellte mit Röte auf den Wangen fest, daß sie langsam wirklich eine Frau wurde; dort, wo früher nur kleine Knospen ihre Brüste andeuteten, konnte man jetzt schon viel mehr als nur das erkennen. Oder bildete er sich das nur ein?
„Es heißt ‚Ich vergesse nichts‘.“
„Was?“ fragte er völlig perplex.
„Da sieht man mal wieder, wie du mir zuhörst, großer Bruder!“
„Tut mir leid, ich war in Gedanken.“
„Jaja, immer diese Ausreden!“ Sie grinste breit und er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der auf frischer Tat ertappt worden war.
„Rien ne va plus“, sagte er und lachte.
„Was heißt denn das schon wieder? Ach, ich werde durchfallen! Ich werde durchfallen – wegen diesem beschissenen Französisch!“
„Nanana, das will ich aber überhört haben!“
„Kann ich dich nicht mit ins Internat nehmen? Ich meine, ich könnte dich ja unter meinem Bett verstecken...“, sie zwinkerte ihm zu. Er kicherte bei der Vorstellung, mit ihr in einem Zimmer schlafen zu müssen.
Und plötzlich erschrak er in Anbetracht seiner Gedanken. Wieso ging er soweit? Wieso überschritt er die Grenze?
Er zuckte zusammen.
„Was ist denn los? Sollen wir nicht wieder in die Stadt gehen und Yellow Man kaufen? Du wirst es nicht glauben, aber in ganz Colleraine gibt es keinen einzigen Yellow Man!“
Yellow Man waren steinharte Lutschbonbons, die inzwischen in Ballycastle zu einer richtigen Berühmtheit herangereift waren. Er mußte lächeln.
„Nein, zuerst machen wir die Lektion zu Ende.“
„Spielverderber!“ entrüstete sie sich. „Also – frag mich was. Und du vergißt auch nicht, daß wir danach Yellow Man essen gehen?“
„Je ne vais rien oublier“, sagte er belehrend und hielt den Zeigefinger in die Höhe.
Nach einer Minute hatte sie raus, daß das „Ich werde nichts vergessen“ hieß. Tja, wenn sie nur wollte, lernte sie wahnsinnig schnell.
Er hatte ihr genau zugesehen, wie sie ihr Bonbon lutschte. Als es ihr aufgefallen war, wurde er unruhig, entschuldigte sich – und kippte sich auf der Herrentoilette kaltes Wasser ins Gesicht. Natürlich wußte er tief in seinem Herzen genau, was mit ihm los war und warum er sich so komisch verhielt. Und genau dieses Wissen machte ihn fertig. Ohrfeigte ihn. Quälte ihn.
Er kehrte zu ihr zurück. Sie wollte zum Hafen von Ballycastle und das Italiener-Denkmal Guglielmo Marconi angucken. Sie sagte, sie fände ihn so schnuckelig. So schön klein wären die Italiener – genau das Richtige für sie! Er aber erwiderte, das sei keine gute Idee, die Sonne würde bald untergehen - sie müßten zurück nach Hause, sonst würde sich Mama noch Sorgen machen. Das hatte er sich natürlich alles aus den Fingern gesogen – natürlich hätte Ma nichts dagegen gehabt, wenn er sie nur kurz angerufen und Bescheid gegeben hätte.
Dafür versprach er mit ihr bald einen Abstecher nach Rathlin Island zu machen. Sie freute sich wie ein kleines Kind darüber.
„Was hast du so lange auf dem Klo gemacht?“ fragte sie vorwurfsvoll, als er zurück kam. Er sah gar nicht gut aus. „Fehlt dir was?“
Er antwortete mit einem Lächeln: „Rien ne me manque.“
„Ach, hätte ich doch mein Französischbuch nur dort gelassen, wo es hingehört!“ seufzte sie und sie mußten beide lachen.
Es ging so schnell. Es ging viel zu schnell. Die Wochen verflogen nur so, jeden Tag wanderte ein kleines Kalenderblatt in den Mülleimer – und niemand war da, der die Zeit aufhielt. Niemand war da, der einfach STOP brüllte und es möglich machte, daß Naill und Bridie noch mehr Zeit miteinander verbrachten.
Sie waren viel am Strand, lernten zusammen Französisch - und einmal gingen sie sogar ins Kino. Naill zeigte ihr das Boot, auf dem er arbeiten mußte.
„Ich bin jetzt Fischer!“ sagte er und sie konnte den Stolz aus seiner Stimme heraus hören.
„Und das da vorne, das ist die Bucht, in der wir gerade arbeiten... Es gibt dort ein paar Fische, aber nicht so viele. Ich habe da gelernt, wie man ein Netz richtig spannt und wie man es ins Wasser wirft, damit sich auch ein paar Fische darin verfangen.“
Er hatte ihr alles erklärt und es genossen, wie sie mit ihren großen Augen zu ihm aufsah; bewundernd und voller Zuneigung.
Manchmal saßen sie stundenlang da und redeten. Er fragte sie, was sie nach der Schule machen wolle und ob sie schon etwas in Aussicht hätte.
„Es klingt vielleicht absurd, aber ich würde gern Lehrerin werden.“
„Lehrerin!“ lachte er. „Aber doch hoffentlich keine Französischlehrern!“
Sie zog eine Schnute und er kullerte sich auf dem Sandboden vor Lachen. Sie setzte sich auf ihn und beugte sich tief über sein Gesicht. Er starrte auf ihre Brüste und wurde rot.
„Mach dich nur lustig über mich! Ich werde einmal die ganze Welt sehen! Raus aus Irland! Ich hasse Irland! Ich will nach Amerika und dann will ich nach Deutschland! Und im Übrigen; du bist unausstehlich!“ Sie lachten. Er fühlte sich glücklich. Ihre langen Haare kitzelten seinen nackten Oberkörper.
„Sollen wir schwimmen gehen?“ fragte er sie.
„Ich würde dich lieber einbuddeln, weil du so frech zu mir bist!“ Er lachte und stieß sie sanft neben sich auf den Sandboden. Dann beugte er sich über sie.
„Was heißt ‚Tu peux faire ce que tu veux‘?“
„Ehrlich? Ich kann mit dir machen, was ich will?“
„Du lernst schnell“, stellte er amüsiert fest und gab sie frei.
Manchmal machten sie so etwas ähnliches wie ein Wettrennen. Meistens passierte das ganz spontan; sie rannte einfach davon und schrie über die Schulter, er solle sie doch fangen. Und als er dieses eine, besondere Mal hinter ihr her stürmte, sie in einer Minute eingeholt hatte und mit ihr zu Boden ging, spürte er, wie glücklich er war. Wie wirklich glücklich er sich fühlte, weil sie wieder hier war.
„Nie wieder will ich dich fort lassen“, sagte er, während sie so an der Küste lagen und in den Himmel starrten. Während er ihr Haar streichelte und sie auf die Wange küßte. „Nie wieder will ich, daß du fort gehst.“
„Naill?“ fragte sie und sah ihn an. Mit ihren großen Augen sah sie ihn an. So, als ob sie alles über ihn wüßte und immer über ihn gewußt hatte.
„Ja?“
„Ich liebe dich.“ Sie zog seinen Kopf so weit zu sich herunter, daß sie ihn küssen konnte.
Sie waren zu weit gegangen. Irgendwann waren sie zu weit gegangen. Irgendwann war alles aus den Fugen geraten. Sie betrogen sich selbst, sie betrogen ihre Eltern, sie betrogen das Leben. Naill fühlte sich trotzdem glücklich und vermutete, daß sie genauso empfand. Sie hatte angefangen. Oder doch nicht? Nein, war es nicht er gewesen, mit seinem Starren, mit seinen Streicheleinheiten? Hatte er nicht öfters mal ihren Bauchnabel geküßt und sich nichts dabei gedacht? Geschwisterliche Gefühle... Das waren keine geschwisterlichen Gefühle mehr. Das war nicht mehr normal.
„Was tun wir da eigentlich?“ hatte sie ihn gefragt, als sie nackt in seinem Bett gelegen hatten. Ma war übers Wochenende Pa in Larne besuchen. Und sie hatten das ganze Wochenende damit verbracht, wie die Tiere miteinander zu schlafen. Es war absurd. Es war nicht normal.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er auf ihre Frage, während er ihr Haar streichelte. Es fühlte sich so weich an, so samtig weich.
„Ist es nicht verboten?“
„Ja.“
Sie griff nach einem Yellow Man – auf dem Nachttisch lag eine ganze Packung – und schob ihn in den Mund. Dann griff sie noch einmal danach und schob ihm einen in den Mund. Er lutschte an ihren süßen Fingern und schloß die Augen.
„Kannst du es genießen, wenn du genau weißt, daß es verboten ist?“
Er überlegte lange und sie dachte schon, er hätte ihre Frage vergessen, aber schließlich antwortete er, in dem er ihr tief in die Augen sah: „Ja. Und du?“
„Ich auch. Naill?“
„Hm?“
„Ich habe Angst. Ich habe unglaubliche Angst.“
Das ganze bitte auf Französisch. Konjugiere. Gib das Plural an. Und unterstreiche das Verb. Adverbiale Bestimmung der Zeit und des Ortes, kleines Mädchen.
Sie taten es. Sie taten es immer wieder – und ihr Doppelleben war fast perfekt. Wasserdichtes Alibi, mein Kind, euch kann nichts passieren. Und trotzdem; da waren die Gewissensbisse, all die Jahre lang. Alles, was sie taten, war mit Angst verbunden, Lust verschmolz sich damit, Liebe verschmolz sich damit – und obwohl sie beide wußten, daß das, was sie taten, gefährlich und falsch war, konnten sie nicht voneinander lassen.
All die Jahre lang.
Als sie das erste Mal miteinander schliefen, war das Radio an. Bridie konnte sich an den Song erinnern, der gerade lief. Es war Botany Bay gewesen. Und sie hatte voller Hingabe den Refrain gesummt, als er in sie eingedrungen war.
Heute.
Er stach in See und hatte allerhand zutun. Nur sein Geist, der ruhte nicht, der dachte immer nur an das, was geschehen war. Seine Hände, seine alten, aufgerissenen, blutenden Hände, taten die Arbeit mechanisch – nur sein Geist, sein Geist beschäftigte sich nur mit dem, was geschehen war. Was vergangen war. Was nie wieder sein würde.
Er fuhr hinaus, auf die Irish Sea – mit dem Vorwand, Fische fangen zu wollen. Aber er wußte, daß er um diese Zeit keine Fische mehr ins Netz bekommen würde – und außerdem war ihm der Fischfang jetzt sowieso zuwider.
Der Wind kitzelte seine Nasenspitze – ein Zeichen, daß bald Wolken aufziehen würden. Er ging zu seinem alten Radio, das er immer mit auf See nahm, und schaltete es ein.
Botany Bay – wohl einer der wenigen, irischen Songs, die im Ausland bekannt waren. Früher hatte er das Lied geliebt, vor allem, weil auch sie es geliebt hatte. Wo sie jetzt wohl war? Was sie jetzt wohl machte?
Er pfiff die Melodie mit. Und an dieser Stelle...
There is a girl in Manchester,
A girl I know full well,
And if ever I get my liberty,
Along with her I'll dwell. O, then I mean to marry her,
And no more to go astray;
I'll shun all evil company,
Bid adieu to Botany Bay.
[Da gibt es ein Mädchen in Manchester,
Ein Mädchen, das ich sehr gut kenne,
Und wenn ich jemals meine Freiheit bekomme,
Will ich mit ihr zusammen wohnen. O, und dann möchte ich sie heiraten,
Und nie wieder vom Weg abkommen;
Ich will jeder teuflischen Gesellschaft ausweichen,
Willkommenes Adieu an Botany Bay.]
... hielt er plötzlich inne. Die Erinnerungen brachen wie eine ungeheure Welle über ihm zusammen und begruben ihn unter sich. Er schaltete das Radio aus, lauschte dem Rauschen des Meeres – und weinte.
© by Stefanie Kißling, 6. Juli 2002
[ 11.07.2002, 06:14: Beitrag editiert von: stephy ]