Bri
Bri
Nun sollte es also geschehen.
Wieder hielt sie seine abgemagerte blasse kalte Hand.
Ein letztes mal.
Der „Gott in Weiß“, hatte heute sein faltiges Gesicht mit besonderer Trauer bedacht. Seine Hände waren wie immer in den Taschen seines Kittels versunken und warteten vielleicht schon ungeduldig darauf, die Maschinen die Hermann am Leben hielten, abzuschalten.
Sie sah den Mann im weißen Kittel nur schemenhaft aus den Augenwinkeln, doch sie konnte seine unruhigen Hände in den Taschen erahnen.
Einige kleine Fingerbewegungen an den Schaltern - und Herman würde seinen Brustkorb ein letztes mal erheben und vielleicht, mit einem letzten Seufzer, dahinscheiden.
Immerhin hätte sie nach den fünf langen Jahren, die er nun schon im Koma lag, wenigstens noch etwas von ihm gehört.
Fünf Jahre voller Bangen und Hoffnung.
Und nun hatte sich die unruhig zitternde Linie auf dem EEG in eine flache Linie verwandelt.
Flatline - Hirntod, hatte ihr der weiße Kittel mit dem Faltengesicht zu erläutern versucht.
Es lohnt sich nicht mehr, die teuren Geräte weiter zu betreiben, hatte sie dabei gedacht.
Sie drückte Hermanns Hände fester.
Soll doch der Kittelträger weiter warten und sich einen Krampf in die Finger holen.
Auf die Elektronik ist ja auch nicht hundertprozentig Verlass. Jedenfalls hätte Hermann das gesagt.
Wie so vieles.
Er hatte ihr auch versprochen, dass sie beide als alte Leute, Händchen haltend, den Vollmond auf der Bank im Stadtpark bewundern wollten.
Nun hielt sie seine Hand, die sich wie Pergament anfühlte, und sah sein Gesicht mit den geschlossenen Lidern, hinter dehnen kein Fünkchen Hoffnung zitterte.
Keine Parkbank da Hermann, dafür aber ein solides Krankenbett.
Ihr Sarkasmus erschreckte sie. Sie fühlte sich angewidert von ihren eigenen Gedanken. Das hatte er ja doch nicht verdient. Schließlich hatte sie ihn gedrängt das undichte Dach endlich zu reparieren.
Mach ich Bri. In der Ruhe liegt die Kraft.
Seine Redewendungen hatten sie immer an den Rand der Verzweiflung gebracht. Heute, vermisste sie nicht nur seine Redewendungen.
Vor allem dieser Name – Bri.
Ich heiße Brigitte und nicht, wie irgend eine Käsesorte, hatte sie, meist ohne Erfolg, entgegnet.
„Ja Bri“, hatte er meist geantwortet, war aber mit seinen Gedanken schon wieder völlig woanders.
Wie gerne würde sie dieses, Bri, wieder hören? Sie gäbe alles darum.
Der Weißkittel hatte sich endlich entschlossen das Krankenzimmer zu verlassen.
Er war wortlos gegangen und sie war ihm sogar dankbar für seinen schweigenden Abgang. Sicher war jetzt Kaffeepause und ohne ihre Zustimmung durften seine unruhigen Finger ohnehin nicht an den Maschinen herumnesteln.
Mit dem Moment, als die Tür ins Schloss fiel, schossen ihr Tränen in die Augen. Fünf Jahre Hoffnung zerflossen in einen Schmerz, der sich aus ihrem Bauch heraus zum Herzen bewegte. Doch dort hielt er nicht inne. Wie eine giftige Natter kroch er zum Kopf und piekste mit tausend Nadeln.
Allein mit ihren Gefühlen, presste sie ihre Lippen auf die seinen und selbst seine Teilnahmslosigkeit schreckte sie nicht.
Du bist nicht tot.
Das letzte mal, dachte sie. Das letzte mal werde ich ihn berühren und lieben dürfen.
Verbissene Wut formte sich in ihr. Während ihr Mund seine kalten Lippen liebkosten.
In der Tasche des Mantels, den sie noch immer an hatte, knisterte ein Stück Papier.
Der Zettel den ihr der alte Mann vom Rummel gereicht hatte.
Der Rummel war in die Stadt gekommen und sie hatte ihn besucht, was sie das letzte mal vor, wer weiß wie vielen Jahren mit Hermann tat. Sie hatte sich heute, kurz vor dem Krankenbesuch einfach aufgemacht um ziellos, fast wie im Traum, auf dem Rummelplatz herumzuwandern.
Immer wieder lief sie von einer Bude zur anderen. Sie betrat kein Karussell und kaufte auch nichts. Sie wollte nur mit ihren Gedanken in der Menge untertauchen, bevor sie das letzte mal den Weg zum Krankenhaus nahm. Sie lief mit verklärtem Blick und stillem Lächeln durch die vergnügungssüchtigen Massen, die teilnahmslos an ihr vorbeizogen. Sie sah sie nicht und wurde auch nicht gesehen, doch sie spürte Hermanns Hand in der ihren und roch sein Rasierwasser.
Wind kam auf und fegte ihr durchs Haar. Hermanns Hand hielt sie fest und als ein Sturm daraus wurde und peitschender Regen die ehedem Vergnügungssüchtigen auseinander trieb, streckte sie dem Sturm trotzig ihr verzweifelnd lachendes Gesicht entgegen.
Hermann hielt sie fest.
Der Orkan stob unter die Schausteller zerriss die Budenwände aus Pappmaschee und fegte so manches Dach hinweg.
Der Tag war zur Nacht geworden, doch sie lief unentwegt weiter, während der Regen ihre Tränen versteckte. Wild flatterte ihr Mantel, den sie offen trug, und wenn sie sich gegen die Naturgewalt stemmte sah es aus, als würden Flügel daraus, die sie emporhoben - hinauf zu den Wolken, zum Licht.
Hermann hielt sie fest und in ihr war kein Gedanke an Angst.
In ihr war Glückseligkeit.
Als sie wieder zu sich fand, stand sie vor einem, mit reichlich orientalischen Ornamenten, verzierten Zelt.
Benommen, ohne darüber nachzudenken was sie tat, trat sie ein. Sie erwartete Weihrauch und viel mystischen Schnickschnack, wurde aber enttäuscht. Der Raum war ins Dunkel gehüllt, und nur ein kleines Licht, dass über einem altertümlichen runden Tisch zu schweben schien, ließ die Umrisse eines dahinter sitzenden alten Mannes erkennen. Das kleine Licht brannte, ohne dass sie eine Kerze oder einen Docht erkennen konnte. Es beleuchtete auch kaum etwas anderes, als das Gesicht des Mannes im Hintergrund. Die Luft im Zelt war klar und geruchlos.
Ihre Benommenheit schwand und ihr Kopf wurde frei.
Wovon? Sie konnte es nicht deuten.
Ohne Worte trat sie näher. Furcht und Argwohn schienen ihr fehl am Platz, genauso, wie eine Frage.
Der alte Mann sah ihr in die Augen und sie in seine. Er lächelte nicht, schaute aber auch nicht böse. Er sah sie nur an und sie ihn, während die letzten Tränen auf ihrer Wange trockneten. Sie wollte das Schweigen brechen, doch ein Gefühl in ihr hielt sie davon ab.
Schließlich griff der alte Mann irgendwo hin und hielt, unversehens, ein Stück Papier in der Hand.
Mit der anderen ergriff er plötzlich einen Pinsel und kritzelte etwas auf das Papier, das er dann sorgfältig faltete. Durch die kleine lodernde Flamme hindurch reichte er ihr die gefaltete Seite und nickte dazu aufmunternd.
Zaghaft griff sie zu und steckte sie in ihre Manteltasche. Sie wollte fragen, was er dafür bekomme und suchte in ihrem Mantel nach Geld.
Doch er schüttelte seinen Kopf.
„Jeder Tag braucht einen Namen,“ hörte sie seine hölzerne Stimme. „Nimm den Tag mit seinem Namen und öffne ihn erst, wenn der Name des Tages gesprochen wurde.“
Sie verließ den alten kauzigen Mann und sein Zelt und verließ den Rummelplatz und die Menschen im bunten Treiben. Die Sonne brannte am Himmel unbarmherzig und so wie sie, Meter um Meter, ihre Schritte zum Krankenhaus lenkte, fraß ihre Glut sich in ihr Herz.
Der Gott in Weiß war wieder da und hatte Verstärkung mitgebracht - eine Krankenpflegerin.
Sie kannte sie. Es war jene Schwester, die sich rührig um Hermann gekümmert hatte. Ihre Augen trafen sich und sie sah offenherzige Trauer. Worte waren nicht nötig. Fünf Jahre Pflege an einen Patienten, hatten Spuren hinterlassen.
Plötzlich sah sie auch die Augen des Gottes. Sie meinte ein Glitzern zu erkennen. Ein Glimmen von Mitgefühl, das seine Maske nicht verlassen konnte. Gefühle, die unter der steinernen Last seiner akademischen Falten begraben lagen. Irgendwie tat er ihr leid und sie hatte mit einem Mal ein Gespür, mit ihrer Trauer nicht mehr allein zu sein.
Wieder sah sie zu Hermann und drückte seine Hand um so fester.
In der Manteltasche knisterte der Zettel des alten Mannes. Sie wollte ihn nicht sehen oder öffnen. Für solchen esoterischen Schwachsinn hatte sie keine Ader. Das Knistern jedoch machte sie nervös.
Wieder glaubte sie Hermanns Rasierwasser zu riechen.
Du musst jetzt aufstehen und stark sein, sagte sie zu sich.
Doch sie war nicht stark. Sie hatte überhaupt keinen Willen dazu, und das wusste sie.
Ich kann jetzt, um Himmels Willen nicht einfach aufstehen und gehen. Was soll nur aus Hermann werden?
Der Arzt fasste sie um die Schulter und half ihr aus dem Stuhl.
„Wir kümmern uns um ihn.“
Seine Stimme, die sie sonst kaum richtig wahrgenommen hatte, war warmherzig und besorgt.
Sie nickte nur wortlos und fühlte, während ihr Bauch voller Schmerz hämmerte, wie ihr die Beine weich wurden. Ihre linke Hand fuhr in die Manteltasche zu dem Zettel und während sie ihn in ihrer Faust zusammenpresste, so, dass ihre Fingernägel tiefe blutige Spuren im Handballen hinterließen, stoben schmerzhafte grelle Blitze durch ihr Hirn und ließ sie fast ohnmächtig werden.
Ein leises Stöhnen ertönte, leiser noch als ihr Schluchzen, doch für sie laut genug um es zu hören.
Ein Blitz schien durch ihren Körper zu fahren, brennende Angst und Hoffnung zugleich, der jede Faser in ihr beben ließ.
Schon halb in der Tür wand sie sich aus dem Arm des Arztes und eilte zurück. Auf den Geräten, die noch nicht abgeschaltet waren, zuckten wieder diese Linien und dann war da eine Stimme zu hören. Leise noch und voller Qual.
„Bri, habe ich lange geschlafen?“
Sie wusste nicht was sie tun sollte. Sie hatte auch keine Tränen mehr. Der Schmerz in ihrem Bauch war jetzt ein ganz anderer. Ihr Herz flatterte vor Aufregung.
Da küsste sie seine Stirn und nahm seine Hand erneut.
„Es reicht für ein paar tausend Jahre, Hermann“
Später, irgendwann, fand sie in ihrer Manteltasche einen sorgsam gefalteten Zettel.
Sie hatte viel Mühe, ihn zu entfalten.
Mit flotten Pinselstrichen geschrieben, las sie einen Namen mit drei Buchstaben –Bri .