Brennende Leidenschaft
Ich habe das Gefühl, dass viele Dinge nur in der Welt sind, um mich zu verwirren. "Da muss der Paste drauf! Der Paste da drauf!" Meinem Sensei ist das letzte Turnier nicht sonderlich gut bekommen, Schädelhirntrauma, der ganze Zinober. Jedenfalls gleicht sein Sprachduktus zur Zeit dem einer Figur von Hans-Werner Olm. Sensei heißt eigentlich Karl-Heinz und das Furchterregendste an ihm ist eigentlich diese einzigartige Mischung aus Fuß- und Mundgeruch, die bisher noch jeden Gegner in die Flucht schlug. Schwarzer Gürtel, schwarze Nasenklammer, Ultimate Fighter Karl-Heinz. Ich stehe in Zubon und Uwagi im Garten meiner Eltern und langsam dringt die Erkenntnis zu mir durch, dass ich als militanter Nichtraucher wohl auf fremde Hilfe angewiesen bin, um die Brennpaste auf dem Stein zu entzünden, um diesen dann, in Vorbereitung auf meine Prüfung zur Erlangung des ersten Dans, mittig zerschlagen zu können. Brabbel-Sensei wird mir dabei wenig behilflich sein können. Unsere Nachbarin zur Rechten ist eine alte Frau, bis die mit ihren verwirrten Anekdoten aus dem Spätmittelalter fertig ist, gibts schon wieder neue Gürtelfarben, das ist zu riskant. Also entschließe ich mich, mich bei unseren neuen polnischen Nachbarn – neu ist gut, das sind auch schon vier Jahre oder so – nach Feuerkraft zu erkundigen.
Im Hof saß deren Hund und in meiner Kampfmontur muss ich ihm wohl vorgekommen sein wie eine wandelnde Pastete. Aber er war ein Testbild von einem Hund: eine optisch makellose Urwucht mit dem Gemüt eines Postbeamten auf dem Totenbett. Diese stolze Mischung aus Schäferhund und Faultier war im Sitzen größer als seine beiden Herrchen zusammen. Er hätte mich problemlos in der Mitte durchbeißen können - ausreichende Brennpastenapplikation vorausgesetzt, hahaha. Aus der Abwesenheit jedweder Schleif-, Schweiß-, Hobel- und Säggeräusche schloss ich, dass das männliche Familienoberhaupt ausgeflogen sein musste. Der Sohn war übrigens hauptberuflich bewaffnet, genau wie mein alter Freund Mario. Ich erwartete also, nun die eher quadratische Silhouette der Dame des Hauses hinter der mit kleinen Fensterchen besetzen Tür zu erblicken. Doch dann öffnete sie mir die Tür. In Unkenntnis ihres Vornamens taufte ich sie kurzentschlossen Polina, so heißen viele Polinnen wohl wirklich. Polina Pohl aus Polen, so ein Quatsch eigentlich schon wieder. Sie war wesentlich hübscher als ihre Mutter, Rückrechnung auf gleiches Alter inklusive. Ich vermutete also, dass da doch irgendwie der Hund beteiligt sein musste. Seis drum. Ihrem Gesichtsausdruck nach hielt sie mich wohl für jemanden, der seinen Dittsche-Fan-Bademantel zu heiß gewaschen hatte, aber trotzdem gelingt es mir, sie zu überreden, ihr verliehenes Feuerzeug an dessen Einsatzort zu begleiten. Als sie so mit ihrem etwas rundlichen, aber hübschen Gesicht aus ihrer Windjacke in den Garten blickte, fiel mir auf, dass hier eigentlich grundsätzlich viel zu wenig junge Frauen rumstehen. Das werde ich mir manuell merken müssen, Blackberry in Kampfmontur ist zu gefährlich. Erfahrung macht klug, gebranntes Kind scheut das Feuer usw. usf.
Gewissenhaft schmiere ich einen kleinen Pastenzirkel um den anvisierten Auftreffpunkt und zünde ihn an. Burning Ring Of Fire, der Typ ist doch auch schon tot, oder? Mich mit verstohlenem Blick ihrer Aufmerksamkeit versichernd hole ich zum Schlag aus. Plötzlich fährt ein Gedanke ich mich hinein: So ein Scheiß eigentlich! Wenn man die Augen aufmacht, kann man die Mitte des großen Steinblocks eigentlich ganz gut treffen. Was muss mich dieser kranke alte Mann auch mit seinen scheißdämlichen Spinnereien anstecken. Ich frage mich, ob er wohl beim Pinkeln jedes Mal vorher die Klobrille in Flammen setzt. Das Bewusstsein der eigenen Jämmerlichkeit lässt mich das Ziel verfehlen. Ausgehend von meinem rechten Handrist bahnt sich eine Schmerzlawine ihren Weg bis zu meinem Schultergelenk. Ich trotze meinem Körper ein kehliges Halsrumpeln statt des eigentlich vorgesehenen Schmerzensschreis ab. Aufgrund dieser dümmlichen Karate-Filme wird sie das vielleicht für Kampfsport-Folklore halten. Danke Privatfernsehen, gerade nochmal gut gegangen. Da ich mir regelmäßig die Extremitäten rasiere, muss ich jetzt auch nicht als Häuptling Brennender Unterarm durch den Garten karrussellen. Dass sich meine Exzentrik auch mal als praktisch erweisen sollte, hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Kurz nachdem der Stein gespalten war und ich meine Feedback-Anfrage ausgesandt hatte, bereute ich es schon wieder: "Wie war ich, Schatz?", das soll ja gar nicht so gut kommen. Sie findet es "sehr interessant", was auch meiner Einschätzung entspricht. Gewalt gegen Sachen ist die edelste Form der Erotik. Das alles klang bei ihr allerdings etwas holprig, was ich aber auf die deutsch-polnische Sprachbarriere zurückführe. Im Adrenalinrausch lade ich sie gleich noch zum Wii-Abend bei meinem Freund Mario ein und unter dem Eindruck meiner Kraftdemonstration hat sie sich wohl auch nicht getraut, zu widersprechen.
Marios Freundin übrigens scheint mich irgendwie nicht zu mögen. Auf der Suche nach den Gründen wandele ich am Abgrund menschlicher Erkenntnisfähigkeit und komme zu dem Schluss, dass ihre Synapsen durch Kohlensäure und Zuckerersatzsubstanzen vernebelt sein müssen. Das Bewusstsein, jeden Menschen unter Zuhilfenahme von nur ein wenig Brennpaste jederzeit halbieren zu können, hat mich kritikresistent gemacht.
Als der Abend kommt, bediene ich mich einer alten Triebtäter-Finte und springe lautlos hinter einem Hochgewächs in unserem Vorgarten hervor und hole sie, die gerade den elterlichen Hof verlassen hat, langsam ein. Da Marios Limonaden-Gespielin ihren Kfz-Auto-Pkw im Hof abgestellt hatte, müssen wir im Gänsemarsch an dem roten Gefährt vorbeischleichen. Wer geht da eigentlich zuerst? Gibt es da was von Knigge? Gibt es überhaupt einen polnischen Knigge? Und wenn ja, was sagt der denn zum Autoklau: Rechte oder linke Tür aufbrechen? Hahaha, Spitzen-Gag, aber falsches Publikum. Ich schäme mich meines Rassismusses und fasele etwas von: "Beim Mario ists immer lustig". Quatsch mit Soße, da ist nämlich sonst immer dieser David zugegen und der sagt immer irgendwas zu mir und dann lachen alle, komischer Typ.
Der Abend selbst verläuft eher suboptimal. Von meinen Versuchen, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, gelingen nur die, bei denen ich Husten oder Schnupfen vortäusche. Was macht das denn für einen Eindruck! Erst den halben Steinbruch pulverisieren und dann herumröcheln wie Omma Hilde auf dem Seniorenausflug. Reiß dich zusammen, Mann! Mit jeder Sekunde verlorenen Augenkontakts wandert meine Hand wie ferngesteuert in Richtung der Brennpaste in meiner rechten Hosentasche. Mario, dem ich von meiner beeindruckenden Performance und der Anwesenheit der Brennpaste erzählt habe, schaut mich schon an, als sei ich im Begriff, auf dem Kinderfasching meinen Schwanz auszupacken. Ganz unrecht hat er ja nicht, der Gute. Er nimmt mich ein paar Minuten später zur Seite und mein hormongeflutetes Gehirn hat Probleme, seiner Gardinenpredigt zu folgen. Irgendwas von wegen ich solle nicht versuchen, all meine Probleme mit Brennpaste zu lösen, Brennpaste wäre doch auch keine Lösung, ich sollte davon loskommen – Laber Rhabarber.
Ich habe dann versucht, sie nacheinander in Gespräche über den Vietnamkrieg, den Siegeszug des Heimcomputers und verantwortungsbewusste Ernährung zu verwickeln. Absolute Premiumthemen, aber keine Resonanz. Ich hatte auch keine Gesprächsthemen mehr in der Rumpelkiste: Sie hat weder Abi-Schnitt noch WoW-Name, was soll man da reden? Weiber. Meine Wortbeiträge waren auf affirmatives Hintergrundrauschen beschränkt – "Genau", "Siehste", "Haha, stimmt" usw. usf. Ich war wohl doch weniger der rebellische Freigeist, für den ich mich bisher hielt. Der Steinblock des Schweigens muss halbiert werden, koste es, was es wolle! In meiner Tasche pulsiert die Brennpaste.
Da meine akustische Aktivität bisher wenig Früchte trug, verlagere ich mich auf visuelle Passivität. Ich lasse den Blick wandern und sehe ihre beiden Gottesbeweise wie zwei junge Pfirsiche in ihrem Nest ruhen. Die Pfirsich-Zwillinge, so ein Scheiß wieder, fällt auch nur mir ein sowas. Das Stillleben währte jedoch nicht lange, denn nun war sie am Zug, an dieser dämlichen Fernbedienung herumzurütteln. Die infolge der Dynamisierung der Pfirsich-Anordnung gewonnen neuen Perspektiven ließen mich die bisherige Bildkomposition schnell vergessen – die Wii ist von Männern erfunden worden, keine Frage. Wie hieß das noch bei Prince: Peaches & Cream? Pfirsiche und Paste, das isses doch! Diese göttliche Eingebung bestärkte mich in meinem aberwitzigen Vorhaben. Jetzt heißt es: Winterschlussverkauf in Neukölln, ran an die Bulletten, Countdown To Extinction, wer sich jetzt kein Haus baut... usw usf.
Da Mario nur Wasser mit Congas (haha, Spitzen-Gag, aufschreiben!) hat und auch beständiges Rühren in der Brühe deren Kohlensäuregehalt nur unmerklich senkt, hat dieser Giftstoff mir die Sinne vernebelt. Mario legt nun auch noch den Progressive-Jazz-Schlager der Bloodhound Gang auf: Burn, Motherfucker, burn! Haha, wenn die wüssten. Burn, Brennpaste, burn, ihr werdet schon sehen!
Mittlerweile ist bei mir komplett die Kopfdisco ausgebrochen. Ich fange an, unkontrolliert zu schwitzen und gluckse anlasslos in der Gegend herum. Handbremse, Notausgang, Escape-Taste. Ich flüchte mich ins Bad. Die Paste in meiner Hosentasche ist mittlerweile ganz warm, habe ich doch unterbewusst die ganze Zeit daran herumgefingert. Als eine Art Übersprungshandlung schmiere ich mir das Zeug auf die Brust. Ohgottohgott, erwartungsgemäß brennt es, hahaha. Schlechter Kalauer und Nippelaua, tiefer kann ich nicht mehr sinken. Dieses Zeug ist immer mehr zu einem Fetisch geworden – mein Ambrosia, mein Kryptonit, mein Handkäs' mit Musik usw. usf. Demnächst putze ich mir mit dem Zeug noch die Zähne! Empört vor dem geistigen Ohr ausgesprochen sickert diese Botschaft sofort wieder auf dem falschen Weg in mein geschundenes Gehirn hinein. Der Wahnsinn bohrt mir seine erbarmungslosen Klauen immer tiefer ins Fleisch. Ich beschließe, mir das Zeug ins Gesicht zu schmieren. Ein Bart aus Paste, ein Pastenbart! Ich verbringe gerade mit zartem Strich eine beachtliche Menge dieser himmlichen Substanz in meinem Gesicht, als es barsch an der Tür klopft. Ich denke noch: Selbst schuld, ihr mit eurer blöden Kack-Brause! Das Gefühl moralischer Überlegenheit verdrängt mein Gefühl dafür, Gegenstände unfallfrei in der Hand zu halten. Und so rutscht mir das weiße Wunderzeug ins Klo. Das Klopfen draußen wird lauter. Ohgottohgott. Meine Panikreaktion besteht nun darin, wie wild zu spülen. Klunker, knarz, glucker. So muss es sein, wenn man die sprichwörtlichen Backsteine scheißt. Nachdem ich das Bad besenrein übergeben habe, mache ich mich auf die Suche nach einem Substituat, nach Brennpasten-Methadon sozusagen. Ich schleiche mich die Treppe hinunter und finde in der unverschlossenen Waschküche eine kleine Flasche flüssigen Grillanzünder, die ich mir in den Hosenbund stopfe.
Oben angekommen starte ich meinen letzten Versuch. Mario scheint meine exponentiell angestiegene Körperspannung bemerkt zu haben, denn er sieht mich an wie jemanden, der fünf Minuten vor der Öffnungszeit schon mit heruntergelassenen Hosen vorm Puff steht. Der Mann war gewarnt. Polina schien mittlerweile Heimweh zu haben, sah sie doch öfters aus dem Fenster in Richtung ihres Elternhauses. Doch noch ist Polen nicht verloren, hahaha. Ich erzähle die sympathische Anekdote von den zwei infolge einer verhängnisvollen Kombination von Mangel an Speichelflusskontrolle ihrerseits und Fahrtwind durch ein offenes Kleintransporter-Fenster meinerseits völlig eingespeichelten Behinderten, die sich während meines Zivildienstes zutrug. Die ultima ratio, my last resort, meine ganz persönliche V2. Wenn das nicht zieht, ist Dienstzeitende, Schicht im Schacht, Game Over. Sie allerdings sieht mich an, als hätte ich am 25. in der Warschauer Johanneskathedrale das Ave Maria gerülpst. Danach Blackout.
Den Geschehensablauf rekonstruiere ich wie folgt: Ich muss wohl, der stuhlgangsbedingten Abwesenheit Marios gewahr, mit geübter Bewegung nach dem Grillanzünder gegriffen und selbigen zügig und großzügig auf dem schwarz lackierten IKEA-Tischchen verteilt haben. Dann sprang an diesem Abend im wahrsten Sinne des Wortes endlich mal der Funken über, hahaha. Aufgrund der geringen Höhe des Tisches konnte sich jedoch die von mir einkalkulierte Hebelwirkung nicht voll entfalten und das verdammte Teil wollte sich meinen Schlägen nicht fügen. Im Folgenden hätte ich massiv die Löscharbeiten der herangeeilten Feuerwehr behindert, indem ich "wie ein Berserker" (Zitat Marios Brause-Freundin) auf den brennenden Tisch-Kadaver eingehackt hätte, als die restliche Gesellschaft sich längst nach draußen geflüchtet hätte. Ich sei sogar den emsigen Feuerbekämpfern hinterhergerannt und habe ihnen bedeutet, diesen Lumpen von einem Tisch herauszugeben.
Na immerhin. Polina war beeindruckt, aber wen lassen Verbrennungen zweiten Grades schon kalt? Familie Pohl will wegziehen. Den Feldzug im Herbst 1939 hätten sie den Deutschen noch verzeihen können, aber ihre Tochter zu entstellen, das ginge zu weit. Geilheit ist ein denkbar schlechter Ratgeber, hat meine Oma auch schon immer gesagt. Glaube ich zumindest. Die Judo-Prüfung habe ich bestanden, ich habe mir jetzt Streichhölzer besorgt.