Braveheart?
Ich suche überall nach dir – in Bars und Clubs, in Kaffees, beim Einkaufen. Doch trotz meinen stets wachen Augen finde ich dich nicht, Kann es dich überhaupt geben?
Einer, der mir etwas bedeutet. Jemanden, für den es sich zu kämpfen lohnt. Jemanden, der mich so nimmt wie ich bin –mit all meinen Problemen, Narben und Traurigkeit tief in meinem Herzen. Jemand, der nicht nur nach dem Äußeren urteilt, sondern auch auf die inneren Werte achtet. Jemanden, den ich mit ganzem Herzen lieben kann und der mich aus tiefsten Herzen liebt.
So lange sehne ich mich schon danach, geliebt zu werden- nicht nur von meinen Eltern, sondern von einem Mann. So unmöglich? Langsam frage ich mich, ob es an mir liegt. Bin ich zu dick? Zu hässlich? Es nicht wert, geliebt zu werden? Diese Gedanken kreisen auf endlos Schleife durch meinen Kopf. Meine Unsicherheiten bestimmten schon zu lange mein Leben, doch ich werde sie nicht los. Wie eine Regenwolke schweben sie über mir. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich deren Gewalt über mir wie ein heftiges Gewitter entlädt. Ich warte nur auf diesen Tag. Werden sie dann von jetzt auf nachher verschwunden sein? Kann ich über mich hinaus wachsen und so selbstbewusst wie ich es mir schon immer gewünscht habe durch das Leben gehen? Nie wieder auf die Meinung anderer Menschen ach-ten. Seine Träume leben, ohne darüber zu viel nach zu denken?
Egal wo ich hinsehe, sehe ich glücklich verliebte Pärchen- ob händchenhaltend im Park, schmusend im Kino, lachend im Kaffee. Will mich mein Schicksal verspotten oder warum muss es mir auf dieser Weise zeigen, was mir fehlt: mein Sinn im Leben.
So gerne würde ich Länder bereisen, die Weite des Ozeans entdecken, Menschen und Kulturen kennenlernen; einfach frei sein und sich fallen lassen, in den starken Armen eines Mannes –meines Mannes- landen. Ein Mann, der die Konstante in meinem Leben ist, der Kompass in meinem Leben. Der mir den Weg zeigt, wenn ich meine Orientierung verloren habe; der mich auffängt, wenn ich verges-sen habe, wie man fliegt. Aber auch alleine, wenn ich Zeit für mich brauche. Mich mit all meinen Feh-lern und Macken nimmt und nicht verformen will. Jemand, der sowohl meine guten als auch schlechten Seiten zum Vorschein bringt.
Doch das, wonach ich mich sehne, besteht nicht nur aus nehmen, sondern auch aus geben. Auch, wenn ich nicht viel geben kann. Doch wer kann das schon? Innerlich bin ich ein seelisches Wrack, abgebrannt bis zum Abgrund meiner Seele. Verkohlt wie ein ausgelöschtes Feuer, vier Mal dem Tod von der Klippe gesprungen. Vielleicht gerade deswegen fehlt mir der Antrieb in meinem Leben. Meine Freude. Auch, wenn ich nicht den ganzen Tag alleine in meinem Zimmer sitze und weine, bin ich doch die meiste Zeit nicht fröhlich. Meine Gedanken an den Tod drohen mich zu erdrücken. Schwer liegt in dieser Zeit das Messer in meiner Hand, das seine Spuren auf meiner Haut hinterlässt. Nur ein Schnitt trennt mich von dem Diesseits zum Jenseits. Doch ich traue mich nicht. So verkorkst wie es sich auch anhören mag, hänge ich an meinem traurigen, einsamen Leben. In meiner Welt herrscht Dunkelheit, sag mir, wer sie mit Licht durchdringt?
Das Wasser rauscht in meinen Ohren, lässt mich schweben, befreit mich. Die Luftblasen entweichen aus meinem Mund und bahnen sich ihren Weg an die Wasseroberfläche. Mein Körper durchpflügt das Wasser. Der Schmerz lässt nach. Die koordinierten Bewegungen meiner Arme und Beine lässt keinen dunklen Gedanken mehr zu, zu konzentriert bin ich auf meine Bahnen. Immer weiter machen, bloß nicht aufgeben. In diesen Momenten, in denen ich meinen Körper bezwinge und kontrolliere fühle ich mich mächtig. Auch, wenn ich an meine Grenzen komme, mache ich weiter. Ignoriere die vor Anstrengung verkrampften Muskeln. Schwebe beinahe durch das Wasser, fühle mich leicht wie eine Feder.
Das sind die glücklichsten Momente in meinem Leben- die Lichtpunkte. Zeiten, in denen ich meine Gedanken beherrschen kann. Die Traurigkeit und Empathie aus meinen Knochen weicht. Momente, für die es sich zu kämpfen lohnt und mich dazu bewegt, nicht den angesetzten Schnitt über meiner Pulsader zu setzen. Mich nicht das letzte Mal in meinem Spiegel zu sehen. Ich habe nie behauptet, dass ich ein glückliches Leben führe, nur ein trauriges und taubes.
Fühle nichts mehr außer Leid und Herzschmerz. Verstehen wird das niemand- außer ich. Und ich werde auch vor niemanden den Vorhang meines Innenlebens fallen lassen, auch, wenn es sicherlich das Richtige wäre. Ich merke, wie mich mein Kummer von innen auffrisst- ohne Gnade. Es hinterlässt nur Schwärze in mir. Zerstört mein vor langer Zeit blühendes Ich. Denkst du wirklich, dass Reden die zerstörerische Kraft in mir aufhalten kann? Die Schwärze wieder bunt färben kann? Ich denke nicht. Reden würde nur wieder alle meine Wunden sinnlos aufreißen. Ein Gedanke allein genügt und versetzt mich wieder nach damals. An den Tag, an dem die Schwärze in mir begann zu wachsen. Von meinem Herzen aus breitete sie sich aus. Zunächst langsam, doch dann immer schneller und gewalt-samer. Unaufhaltsam. Hätte mich jemand beschützen können? Nein. Niemand. Wer hätte schon geahnt, dass ein Familienmitglied zu so etwas fähig ist- ob betrunken oder nicht. Damals habe ich es ebenso wenig verkraftet wie heute.
An dem Tag des Verderbens kam er in mein Kinderzimmer. Ich spielte mit meinen Barbies, war bis vor jenem Geschehnis fröhlich. Der Tag begann so schön: Ich konnte ausnahmsweise ausschlafen und zum Frühstück ein Brötchen mit Nutella essen. Das war nicht üblich, denn meine Eltern waren beide Ärzte und verbaten mir oft meine Lieblingsgerichte. Doch dieser Tag war besonders, es war mein Ge-burtstag. V. a. meine Eltern bedeutete dieser Tag alles. Ein paar Wochen nach meiner Geburt wäre ich fast in den vier Wänden meines neuen zu Hauses erstickt. Die Ärzte belebten meinen leblosen Körper, sie gaben die Hoffnung schon längst auf, doch ich kämpfte mich zurück in mein Leben. Sie nannten mich "braveheart", doch heute weiß ich, dass ich es nicht bin. Ich wusste einfach noch nicht wie be-schissen das Leben ist bis zu jenem Tag.
Nach dem Frühstück unternahmen wir einen Ausflug an das Meer. Ich war so unbeschwert und genoss den Tag in vollen Zügen. Gegen Nachmittag kehrten wir wieder nach Hause zurück, meine Eltern mussten im Anschluss kurz einkaufen gehen. In dieser Zeit war ich mit ihm alleine, es waren höchstens dreißig Minuten, doch dreißig Minuten voller Qual. Kurz nachdem sie das Haus verließen, kam er in mein Zimmer. Er sprach undeutlich, ich wusste nicht, was mit ihm los war, eine braune Flasche in der Hand und unangenehmen Atemgeruch. Er nannte mich „kleine Unschuldige“ und missbrauchte mich. Es war mein Onkel.
Ich tat so als wäre ich stark genug, doch tatsächlich wurde ich mit jedem Atemzug schwächer. Ich sagte niemanden etwas, zu groß war die Scham und Angst von der Familie verstoßen zu werden. An meinem 18. Geburtstag starben meine Eltern bei einem Autounfall: Ein LKW übersah sieh und über-fuhr sie. Die Atemzüge fielen mir noch schwerer. Manchmal frage ich mich, wie alles verlaufen wäre, wenn ich als Baby wirklich gestorben wäre? Wären sie noch am Leben? Wie wären diese ganzen Jahre verlaufen? Doch diese Fragen quälen mich nur, anstatt, dass sie mich heilen. Das habe ich schon selber begriffen.
Seitdem bin ich ein Schatten, der herumirrt. Der einen Halt sucht, ihn aber nicht findet. Ein niemand, mit einer schwarz verfärbten Seele und Narben auf der Haut. Ein Mensch, der von dem Sonnenschein in den Schatten der Trauer trat und das schon als Kleinkind. Was hält mich dennoch am Leben? Warum habe ich schon so oft den Tod überdauert und sehne mich auf komische Art dennoch mit meinem Leben abschließen zu können? Versuche mich trotzdem durch den Schmerz eines Messers, das tief in meine Haut schneidet, daran zu erinnern, dass ich lebe? Aber nie finde ich den Mut, es tatsächlich für immer zu beenden. Stattdessen lebe ich jeden Tag vor mich hin- gehe wie jeder normaler Mensch auf meine Arbeit, höre Musik, treffe meine Freunde- die von all dem nichts wissen, lebe in meiner Scheinwelt, in der ich mir jeden Tag einrede, dass ich mit meinem Leben zufrieden bin, bis ich es selber glaube. Kompensiere meine seelischen Probleme mit einer Überdosis Sport im Schwimmbad. Ich bin definitiv nicht zu retten, weil ich mich nicht retten lassen will. Anstatt meine inneren und äußeren Wunden verarzten zu lassen, lasse ich sie lieber bluten. Man muss ja schließlich weitermachen. Irgendwann werde ich auch daran zerbrechen, es ist nur eine Frage der Zeit und des Mutes. Ich bin krank, das ist mir durchaus bewusst, doch ich möchte es niemand zeigen. Mein Blick ist kein Blick in die Welt, sondern nur ein Blick in meinen vertrockneten Garten.
Drohe ich den Druck nicht stand zu halten, ist der Alkohol mein bester Freund. Betäubt jede Sinne, ermöglicht einem alles vergessen zu lassen. Bestimmt besser als jede Therapiesitzung mit einem hirn-losen Seelenklempner, der nur an das Gute in der Welt glaubt und mich ohnehin nicht verstehen wird. Nein, danke! Der Alkohol ist besser: er stellt keine dummen, nutzlosen Fragen und hilft den-noch einem, nicht an das Geschehene zu denken. Keine Gefühle, keine Traurigkeit so einfach ist die Gleichung. Mit jedem Schluck verschwindet jede Erinnerung. Ich merke wie ich mich entspanne und das Zittern meines Körpers nachlässt. Die Kontrolle über meine Muskeln verliere ich mit dem Anstieg der Gifte in meinen Adern.
Ich öffne die Tür meines Balkons, hieve mich mit meiner gesamten Körperkraft – die Überdosis Sport in meinem Leben hat sich also doch gelohnt- auf das Gitter. Langsam gleite ich hinunter. Ich breite meine Arme aus und fliege.
Vielleicht hätte jemand ihr helfen können, aber es war niemand da, der ihr half. Jemand hätte ihr es ausreden können, aber hätte sie dann ein glückliches Leben gelebt? Oder einfach ihr trauriges Leben weiter, das sie zerfraß?