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Braunschweig - Das Arschloch
Die Waffe liegt dir schwer in der Hand. Du hast sie umklammert, als wäre sie dein einziger Halt. Du hältst sie fest, weil du weißt, dass dein Leben davon abhängt.
Die Bank ist voll und du hast keine andere Wahl. Die Waffe ziehen, laut „Überfall“ schreien, dir das Geld schnappen und dann kann dich dein altes Leben am Arsch lecken.
Die Waffe hat dich dreihundert Euro gekostet. Du bist durch den Straßenstrich gestreunt, warst in den Kneipen der Zuhälter, in den Spielotheken, in den dreckigsten Vierteln Braunschweigs. Du hast einige Leute angesprochen, mache haben dich angeschaut, als ob du bekloppt bist, manche haben dir gesagt, dass du dich verpissen sollst, aber bei einem hast du Glück gehabt. Er wusste, was du wolltest, er hatte es schon an deinem Blick gesehen. Du hast ihm dein letztes Geld gegeben, er dir die Waffe mit vollem Magazin.
Mit Waffen kennst du dich aus. Du warst bei der Bundeswehr, hattest dich für zehn verschissene Jahre deines Lebens verpflichtet. Das waren noch gute Zeiten, du hattest einen Lebensrhythmus, eine Aufgabe, sie hatten dich im Griff. Irgendwann haben sie gesagt, du seist verrückt, eine Gefahr für die Truppe und für dich selbst und dass du gehen sollst.
Sie haben dir beigebracht, wie man Menschen erschießt, erwürgt, wie man sie ersticht, Bomben auf sie wirft, damit auch genug von ihnen verrecken und dich haben sie als irre bezeichnet.
Deine Hand, die die Waffe hält, beginnt in der Jacke zu schwitzen.
War es überhaupt richtig, sich ans Ende der Schlange zu stellen? Solltest du nicht nach vorne gehen, schreien, dem Filialleiter mit dem Griff eins über den Schädel ziehen, damit er spurt und nicht auf blöde Gedanken kommt? Bleib einfach ruhig, atme ein, atme aus, lass dir nichts anmerken.
Es ist schon schwierig genug, sich bei dem Geräuschpegel zu konzentrieren. Automaten rattern, spucken Kontoauszüge und Geld aus. Türen gehen auf und zu. Leute kommen, Leute gehen. An einem Schreibtisch erklärt jemand, wie man fürs Alter vorsorgen kann, an einem anderen, die Möglichkeit, seine Stromkosten um fünf Prozent zu drücken.
Am Schalter regt sich ein Kunde künstlich auf und du hoffst, er möge noch da sein, wenn du an der Reihe bist. Wenn es dazu kommt, dass du jemand erschießen musst, dann soll er es sein. Dieses kleine miese Schwein im billigen Anzug. Sein Kopf ist rot vor Wut, sein Toupet verrutscht und du berührst den Abzug der Waffe. Im Geiste siehst du ihn vor dir knien, du stellst dir vor, wie er um sein Leben bettelt, du drückst ab und sein verficktes Gehirn spritzt auf das Sicherheitsglas des Schalters. Bleib ruhig, atme ein, atme aus.
Sie haben dir alles genommen, du hast nichts mehr. Nur eine dreckige Küche und ein dreckiges Klo in einer dreckigen Einzimmerwohnung. Nicht mal ein richtiges Bett hast du. So ein Sofa, das man aufklappen muss, wenn man schlafen will. War billig, du konntest dir nichts anderes leisten. Das Haus, das Auto und der Hund, für die du dein Leben geopfert hast, gehören jetzt der Frau. Anfangs habt ihr euch geliebt, dann euch nur ertragen und am Ende hat sie sich von einem Sportstudenten ficken lassen.
Du hast sie erwischt. Sie lag unter ihm, hatte die Beine im Himmel und missbrauchte den Namen des Herren. Du konntest nichts tun, warst wie erstarrt. Kein Laut kam aus deinem Mund, kein Wort fiel dir in dem Moment ein. Er hat nicht gemerkt, wie du an der Tür standest, er hat weiter geschwitzt, weiter gekeucht, weiter gefickt. Du hast deine Frau angesehen, die Haare klebten ihr auf der Stirn, ihre Wangen glühten. Kein Laut, kein einziges Wort. Du hättest ihn dir packen sollen, ihm mit einem Griff das Genick brechen. Du hättest schreien können, wüten, prügeln, treten, alles kurz und klein schlagen. Aber nichts, rein gar nichts. Kein Laut, kein Wort! Du standest nur da, die Beine wurden dir weich. Dann bist du zusammengebrochen und hast wie betäubt mitbekommen, wie er sich hastig anzog und aus dem Haus lief. Du bist ein Versager, du wirst es immer bleiben.
Im Namen des Volkes hat der Richter alles deiner Frau zugesprochen. Dasselbe Volk, für das du geschworen hast, es mit deinem Leben zu verteidigen. Dasselbe Volk, für das du zehn Jahre lang zu sterben bereit warst. Das Maschinengewehr über der Schulter, die Handgranate am Gürtel, das Messer im Stiefel. Bereit zu töten, bereit zu sterben. Sie haben dich alle verarscht, sie haben dich alle gefickt! Einatmen, ausatmen.
Ein junges Mädel in der anderen Schlange schaut dich an, sie lächelt. Die Lippe gepierct, die Haare fettig, die Kleidung zerrissen. Sie ist nicht mal halb so alt wie du, sieht aber aus, als hätte sie doppelt so lange gelebt.
Die Schlange wird kürzer, deine Hand an der Waffe feuchter. Wirst du bereit sein, wenn du an der Reihe bist? Wirst du stark genug sein, wenn dein Augenblick gekommen ist? Entschlossen umschließt deine Hand die Waffe. Du wirst es sein. Es ist dir alles scheißegal. Wenn es sein muss, wirst du auch jemanden töten.
In der Zeitung hast du gelesen, dass in Braunschweig ein Serienmörder vier jungen Mädels den Hals aufgeschlitzt hat. In sechs Wochen sind sie vergessen und irgendetwas anderes wird die Menschen beschäftigen. Es gibt Milliarden davon.
Was ist schon ein Menschenleben wert? Du hast Kriege gesehen, in denen tausende von Menschen getötet wurden. Frauen, Rentner, Kinder. Ohne Erbarmen, ohne Grund. Ein paar Krawattenträger haben Hass geschürt, haben Lügen verbreitet, den Befehl gegeben, die anderen zu töten und tausende haben sich bereitwillig gegenseitig abgeschlachtet. Tausende? Millionen. Eine Moral gibt es nicht, eine Hemmschwelle existiert nicht. Die Krawattenträger denken sich schon wieder neue Lügen aus, schüren wieder neuen Hass und die Menschen sehnen sich schon wieder danach, ihr friedliches Leben gegen Krieg und Mord zu tauschen. Wie Schafe lassen sie sich von links nach rechts scheuchen, von rechts nach links. Ihr Leben hat keinen Wert in diesem perversen Spiel. Nur noch Zahlen in einer Statistik. Die Nachricht über ihren Tod gibt’s stündlich auf allen Fernsehsendern, als würde es sich um den Wetterbericht handeln.
Wenn einer in dieser Bank sterben muss, dann ist es sein Schicksal. Es interessiert dich nicht. Hier geht es nur um dich. Um dein Leben. Um deine Zukunft.
In der Bank wimmelt es von Menschen. Du siehst, wie eine Mutter strahlend in ihren Kinderwagen spricht, wie ein älteres Ehepaar Hand in Hand an dir vorbeigeht, wie ein gut aussehender Mann einer hübschen Angestellten ein nettes Kompliment macht, dass sie errötet. Du hörst ein paar Schüler lachen, wie sich zwei Freunde laut begrüßen. Du schaust zu ihnen, aber du zweifelst nicht an deinem Vorhaben, dafür bist du zu entschlossen, dafür hat man dich zu sehr getreten, zu sehr erniedrigt. Alles Schafe.
Die Schlange wird immer kürzer, es sind nur noch zwei Personen vor dir. Bald ist es soweit. Du wirst die Waffe entsichern, sie durch das Loch im Glas schieben und die Kassiererin anschreien. Sie wird, wie alle anderen Personen in der Bank, in Panik ausbrechen. Du wirst vielleicht in die Luft schießen müssen, damit sie sich beruhigen, vielleicht jemanden töten müssen, damit sie ihre Schnauze halten. Sie werden sich auf den Boden werfen, werden versuchen ihre Liebsten mit ihren eigenen Körpern zu schützen. Es wird viel Chaos geben und wenn du es geschickt anstellst, wenn du die Eier dazu hast und nicht wieder zusammenbrichst, wirst du die Lage unter Kontrolle bekommen.
Du streichelst mit dem Zeigefinger über den Lauf der Waffe, fühlst den Stahl, fühlst die Eingravierungen.
Du hattest auch schöne Tage im Leben. Zum Beispiel die Kameradschaft in der Kaserne. Blind konntet ihr darauf vertrauen, dass der andere da ist, wenn Gefahr droht. Ihr habt das Essen geteilt, die Zigaretten, die Pornohefte. Sie haben dir Trost gespendet, wenn du Sehnsucht nach deiner Frau hattest. Sie haben dir Mut zugesprochen, wenn wieder Schüsse fielen und ihr habt gemeinsam getrauert, wenn ein Kamerad im Plastiksack nach Hause geflogen wurde.
Die gemeinsamen Nächte, in denen ihr Wache geschoben habt. Ihr habt euch Sauereien erzählt, Blödsinn, unhaltbare Theorien und merkwürdige Philosophien, ihr habt gelacht und die geschmuggelte Schnapsflasche geleert, bis die Sonne aufging. Es waren wunderschöne Zeiten.
Die Kleine mit der gepiercte Lippe ist jetzt am Schalter neben dir, sie scheint nett zu sein. Sie flachst herum, legt ein Dokument vor, der Bankangestellte schiebt seine Lesebrille zurecht.
Du hättest nicht mit den Waffen spielen sollen. Du hättest nicht übermütig werden sollen. Du musstest niemanden etwas beweisen. Du hast dein Leben und das deiner Kameraden in Gefahr gebracht. Danach hast du dich in Lügen verstrickt und nicht wie ein Mann zu deinen Taten gestanden. Einmal Versager, immer Versager.
Du hast deinen Vorgesetzten gesagt, dass der Revolver nicht geladen war, mit dem ihr russisches Roulette gespielt habt. Sie hatten ihn aber sichergestellt und die Patrone befand sich noch drin. Du hast ihnen gesagt, dass die Granate ein Dummy war, mit der ihr Fußball gespielt habt. Wie kann man so dämlich sein und den gleichen Fehler wieder begehen, die gleiche Lüge wieder erzählen?
Irgendwann hatten sie genug von dir. Du warst nicht mehr zuverlässig, eine Gefahr. Sie haben dich ein Dokument unterschreiben lassen und du konntest deine Sachen packen.
Die Kleine lässt sich das Schreiben abstempeln, bedankt sich überschwänglich und lächelt dich noch einmal an, als sie an dir vorbeigeht. Es ist Absicht, als sie dich mit dem Ellenbogen streift, sie entschuldigt sich trotzdem.
Und deine Frau? Hast du dich nicht wie ein Arschloch aufgeführt? Bist ständig besoffen nach Hause gekommen. Früher hat sie dich mit dem Militär geteilt, danach war es die Kneipe. Hast du ihr etwas vorzuwerfen? Du hast sie doch sogar geschlagen. Hast den verschissenen Oberst raushängen lassen, wenn du mal zu Hause warst. Hast sie wie ein Stück Scheiße behandelt. Kein Wunder, dass sie sich von einem jungen Muskelmann vögeln lässt. Und du glaubst, du hast so etwas wie Mitgefühl verdient? Du glaubst, dass dir irgendjemand auf diesem Scheißplaneten etwas schuldet? Du bist für dein Leben selbst verantwortlich. Es ist nicht der Staat, es sind nicht die Politiker, nicht die Richter und nicht das System, in dem du glaubst, unterzugehen. Du bist es, niemand sonst. Du bist dein eigener Herr. Man hat dich auf die Welt geschissen und nun sieh zu, wie du damit klar kommst. Jammere nicht, heule nicht, sei ein Mann! Nur du allein bist für dein Leben zuständig. Nur du! Nur DU!
Es ist noch ein Kunde vor dir, er holt weit aus, erzählt seine gesamte Lebensgeschichte, bevor er zum Punkt kommt. Dein Atem geht regelmäßig. Deine Hand schwitzt nicht mehr. Du bemerkst die Kameras an der Decke, die auf dich gerichtet sind. Hättest du nicht eine Maske gebraucht? Die Dinger sind heutzutage richtig gut. Sie werden ein so gutes Bild von dir schießen, dass später sogar deine Pickel in der Tageszeitung zu sehen sind.
Es ist dir egal, du bist wie in Trance. Die ganze Welt ist in Watte gepackt. Du hörst nichts mehr, nur dein Herz, das wild in deiner Brust pocht. Du drehst dich um, schaust zum Ausgang, siehst die Kleine mit den fettigen Haaren, wie sie am Aschenbecher steht, zu dir schaut und eine Zigarette raucht.
Du entsicherst die Waffe.
Was war denn gegen einen guten Job einzuwenden? Was glaubst du, wer du bist? Sie haben dir eine Arbeit in einem Getränkelager vermittelt, aber du warst dir dafür zu gut, hast gedacht, du hättest etwas Besseres verdient. Einen Scheißdreck hast du! Der Job in der Möbelfabrik, der im Schnellimbiss, der am Fließband. Warum musstest du dich gegen alles auflehnen? Warum konntest du dich nicht unterordnen? Es wäre vielleicht nur für eine kurze Zeit gewesen. Du hättest dich hocharbeiten können.
Was war mit deinen Plänen? Hast jedem, der es nicht mehr hören konnte, erzählt, dass du eine Sicherheitsfirma aufbauen willst. Du hättest doch daran arbeiten können, du hättest es versuchen können. Doch jetzt stehst du hier, die Waffe entsichert, den Finger am Abzug und bereit, dir mit Gewalt zu nehmen, was nicht dir gehört, worauf du kein Anrecht hast.
Du warst es doch, der Scheiße gebaut hat. Du warst es doch, der sich hat gehen lassen. Du hast dich selbst erniedrigt, dich selbst gefickt.
Los, hol schon die Waffe raus, schrei rum wie ein Bekloppter! Schieß durch die Gegend, töte Unschuldige. Nimm doch die junge Frau dort, mit dem kleinen Mädchen an der Hand. Erschieß sie, gleich jetzt, vor den Augen des Kindes. Na, los doch! Sind doch nur alles Schafe für dich. Oder den alten Mann dort, der kaum gehen kann. Der hat es sowieso bald hinter sich. Erschieß ihn. Wo ist dein Mut geblieben? Wo deine Entschlossenheit?
Wie viel wird in der Kasse sein. Zehntausend? Zwanzigtausend? Lass es fünfzigtausend sein. Was wirst du mit dem Geld machen? Für ein Leben in Saus und Braus auf einer Insel in der Südsee wird es nicht reichen. Keine vier Wochen und du hast das Geld versoffen und verhurt. Mit keinem Geld der Welt könntest du dir ein neues Leben kaufen. Du bist und bleibst ein Arschloch.
Du bist jetzt an der Reihe. Dein Herz pocht immer schneller, die Aufregung schnürt dir die Kehle zu. Du kannst nicht mehr atmen, nicht mehr denken. Der Kassiererin schaut dich an, sie lächelt freundlich, ahnt nichts Böses.
Worauf wartest du? Die anderen haben zu tun. Alle haben was zu tun. Sie haben Arbeit, Familie, Träume, Ziele. Du hast gar nichts. Nicht einen Scheißdreck hast du. Aber das ist jetzt dein Augenblick, dein großer Auftritt. Sie warten.
Deine Finger spielen an der Waffe, Schweiß rinnt dir von der Stirn. Hör auf zu zittern!
Die Kassiererin ist niedlich. Sag was Nettes zu ihrem Kleid. Lad sie zum Essen ein. Obwohl du vor ihr stehst und dich wie ein Volltrottel benimmst, lächelt sie dich immer noch an. Oder die Kleine am Ausgang. Ihr wärt doch das perfekte Pärchen. Arschloch und Schlampe.
Deine Finger umschließen den Griff der Waffe, sie ist entsichert, bereit loszugehen. Du räusperst dich. Dein Hemd ist schweißgetränkt.
Na, was ist jetzt, Arschloch?
„Hände hoch, das ist ein Überfall! Ich habe ‚Hände hoch’ gesagt.“
ENDE
© 2005 Dogan I.
Lektoriert von der einzigartigen Gaby Kern