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Brand
Wir standen auf dem Balkon und sahen den Flammen zu, als mein Vater anrief.
»Alles gut. Macht euch keine Sorgen, mir geht es gut.«
Mama hatte uns aus dem Bett geholt, Aria und mich, Aria, der bei mir übernachtete, Mama, die dachte, wir schlafen schon, während wir in Wahrheit unsere Pokémon trainierten, um es mit den anderen Kindern aus der Siedlung aufnehmen zu können.
Seit der Sonnenfinsternis war hier nichts mehr passiert, aber jetzt hatten sich wieder alle versammelt: Draußen rauchten die Männer ihre Zigaretten, jeder wusste von einem anderen zu erzählen, der gerade Nachtschicht in der Fabrik hatte, und die Frauen standen mit müden oder ängstlichen Blicken, je nachdem, hinter den Gardinen ihrer Fenster.
Ich musste an den Nachbarn denken, der aus dem Fenster gesprungen war, ich war noch klein, ich musste mich auf Zehenspitzen stellen, um über das Balkongeländer schauen zu können, und da sah ich ihn liegen, mit eigenartig abgewinkelten Armen und Beinen. Ich betrachtete ihn und dachte daran, wie ich damals bei ihm übernachten durfte, nachdem ich den ganzen Tag mit seiner Hündin, seiner Trixi, gespielt hatte, wie er mir das kleine Reisebett bezogen hatte, und wie seine Frau mir am nächsten Morgen gezeigt hatte, wie man ein Ei köpft. Erst dann rief ich meine Mutter und meine Mutter rief den Krankenwagen.
Wenig später flappte über unserem Haus der Hubschrauber, die Bäume wehrten sich, versuchten vergeblich, das brüllende Ungetüm mit ihren dürren Armen zu verscheuchen. Das sattgrüne Augustgras wurde schlohweiß, als die Rotorblätter sie so unsanft aufschreckten und beinahe aus der Erde rissen. Meiner Mutter war der Tumult unangenehm.
Aber Papa ging es gut. An jenem Abend zumindest, rückblickend betrachtet ging es ihm nie gut, wie auch, mit einem Vater, der entweder arbeitete oder um die Häuser zog, vielmehr durch die Gärten zog, durch die kleinen Schrebergärten im Schatten der Papierfabrik, der Schwedischen, wo immer der Schwefelgeruch in der Luft hing oder der Geruch nach Grillfleisch und wo immer irgendwer eine Bierflasche öffnete, wie in einem fein aufeinander abgestimmten Orchester, in dem statt Streichern und Bläsern Ploppen und Zischen erklang, untermalt vom dialektschwangeren Gerede der Männer: Über die Schwedische, über die Frauen, und immer wieder über die, die glaubten, etwas Besseres zu sein. Die bessere Autos fuhren, die besser in der Schule gewesen waren und einen besseren Abschluss hatten. Bildung war eine Sache, für die man sich zu schämen hatte, eine Sache für Brillenträger und verweichlichte Tunten, als Mann hatte man zu schaffen, zu schwitzen, zu rackern.
Mein Vater wurde in einen Strudel geboren, der ihn immer weiter hinabzog, bald sollte seine Leber streiken, bald sollte man ihm die Blase rausnehmen, bald lief seine Pisse in einen Katheter und der große, starke Mann wurde wieder zum Kind, das nur noch Eis essen wollte. Weil es das einzige war, das er noch runter bekam, kühl, sagte er dann, schön kühl, und dabei zeigte er auf seinen Hals, mit seinem Arm, der so dünn geworden war wie ein Stock. Aber da hatten wir schon keinen Kontakt mehr. Davon hat man mir nur erzählt, doch an jenem Abend, als die Fabrik in Flammen stand, da rief er uns an und ließ uns wissen, dass es ihm gut geht, dass wir uns keine Sorgen machen mussten, und wir glaubten ihm.
Ich machte mir keine Sorgen. Meine gesamte Kindheit nicht. Nur wenn der Eismann kam, wenn die Kinder nach ihren Müttern riefen, damit sie ihnen in Küchenpapier gestopfte Markstücke vom Balkon schmissen, dann kämpfte ich den immergleichen inneren Kampf: Ich wollte ein Eis, Himmeblau, Stracciatella, egal, Hauptsache kalt, Hauptsache süß, aber mich in die Schlange zu stellen mit all den anderen Kindern und dann mit dem fremden Mann zu sprechen, das war mir zu viel. Und so sagte ich mir: Ich brauche kein Eis.
So sollte es noch einige Jahre gehen. Ich verzichtete, ließ Chancen liegen, genau wie mein Vater ließ ich mich hinabreißen, beide suchten wir unser Heil in der Selbstgeißelung, fühlten uns geborgener im dunklen Ozeanblau als im strahlenden Himmelblau, und die Narben, die wir uns dabei zuzogen, trugen wir, vielleicht, weil wir es nicht anders gelernt hatten, vielleicht aus fehlgeleiteter Männlichkeit, zur Schau wie Kriegsverletzungen. Glücklicherweise begriff ich irgendwann, was ich mir damit antat. Mein Vater hatte dieses Glück nicht.
In den Sommern, wenn ich Ferien hatte, strampelte ich frühmorgens die Decke von mir und stürmte an den Frühstückstisch. Ich schaufelte Cornflakes in mich hinein, Cini Minis, Kellogg’s, Nesquik, überflog zum abertausendsten Mal die Packungsrückseiten, den kurzen Comic, das simple Rätsel, und die Milch auf der Oberlippe war kaum getrocket, da war ich schon wieder da, wo ich hingehörte: Draußen. Im Grünen, da, wo die Kastanien und die Birken blühten, die Birken mit ihrer schwarzgepunkteten Dalmatinerhaut und den gelben Würmern, die im Laufe des Jahres zu Staub zerfielen, bei den wuchtigen Kastanien mit ihren giftgrünen Stachelbomben, die im Sommer die Schneebälle ersetzten, die Schneebälle, die es heute nicht mehr gibt.
Ab jetzt wurde die Siedlung von den Kindern regiert. Von Jungen mit angespitzten Stöcken und Gameboys, von Mädchen mit Gummitwists und Tamagochis, und erst zur Mittagszeit ließen sich die Erwachsenen blicken, meistens die Mütter, eine nach der anderen erschien dann auf dem Balkon und rief zum Essen, und nachmittags schimpften sie von denselben Balkonen, wenn wir zu laut waren. Die Väter arbeiteten Schicht, und wenn die Rollläden unten waren, hatten wir still zu sein. Und wir waren still. Wir zogen die Köpfe ein, zogen weiter, an den Rand der Siedlung, näher zur Schwedischen, näher zum Schwefelgestank.
Selten kam es vor, dass einer der Väter zum Essen rief. Dann ging der Gerufene mit geschwollener Brust nach Hause, wohl wissend, dass die anderen ihn für den Rest des Tages beneiden würden, sich ausmalten, dass er die Sorte von Vater hatte, die sich alle wünschten, die Sorte, die sich mit einem unterhielt, die wirklich interessiert war und nicht nur vor ihrem eigenen Kummer davonrannte oder ihn im Alkohol ertränkte. Und viel zu oft übersahen wir, geblendet vom Heldenglanz unserer Väter, was unsere Mütter leisteten. Eine Mutter hatte zu funktionieren, das war ihre Aufgabe, und eine Mutter, die das nicht tat, war ein Unding, eine Lottertante und eine Egoistin.
Tausende solcher Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich das Feuer und das Gewusel der Leute betrachtete, zuerst dachte ich an den Nachbarn, der aus dem Fenster gesprungen war, aber ich dachte auch daran, wie schön so ein Feuer war, wie schwarz der Himmel überall sonst war und wie er jetzt leuchtete über unserer Siedlung, unserem kleinen, abgeschotteten Mikrokosmos mit den buckelnden Männern, den duldsamen Frauen und den aufgeweckten Kindern. Ich dachte daran, was ich zuerst retten würde, wenn unser Haus brennt, eher mein Panini-Album oder meinen Gameboy, und ob Schiggy mit seiner Aquaknarre das Feuer löschen könnte. Ich dachte an meinen Vater und an die anderen Männer in der Fabrik. Ob sie jetzt froh waren, nicht mehr arbeiten zu müssen, ob sie da drüben auf der anderen Seite des Zaunes genauso staunend in den Himmel starrten wie Mama, Aria und ich, ob sie dabei Bier tranken, es zischen ließen und ploppen, und ob sie tanzten, so wie mein Vater an Silvester getanzt hatte, mit dem Partyhut auf dem kahlrasierten Schädel, der Zigarre im Mund und mit Trixi auf dem Arm, der vor Freude die Zunge aus dem Hals hing. Mein Vater, der an einem einzigen Abend die ganze Welt umarmen wollte.