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Brand

Bas

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16.09.2018
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Brand

Wir standen auf dem Balkon und sahen den Flammen zu, als mein Vater anrief.
»Alles gut. Macht euch keine Sorgen, mir geht es gut.«
Mama hatte uns aus dem Bett geholt, Aria und mich, Aria, der bei mir übernachtete, Mama, die dachte, wir schlafen schon, während wir in Wahrheit unsere Pokémon trainierten, um es mit den anderen Kindern aus der Siedlung aufnehmen zu können.

Seit der Sonnenfinsternis war hier nichts mehr passiert, aber jetzt hatten sich wieder alle versammelt: Draußen rauchten die Männer ihre Zigaretten, jeder wusste von einem anderen zu erzählen, der gerade Nachtschicht in der Fabrik hatte, und die Frauen standen mit müden oder ängstlichen Blicken, je nachdem, hinter den Gardinen ihrer Fenster.

Ich musste an den Nachbarn denken, der aus dem Fenster gesprungen war, ich war noch klein, ich musste mich auf Zehenspitzen stellen, um über das Balkongeländer schauen zu können, und da sah ich ihn liegen, mit eigenartig abgewinkelten Armen und Beinen. Ich betrachtete ihn und dachte daran, wie ich damals bei ihm übernachten durfte, nachdem ich den ganzen Tag mit seiner Hündin, seiner Trixi, gespielt hatte, wie er mir das kleine Reisebett bezogen hatte, und wie seine Frau mir am nächsten Morgen gezeigt hatte, wie man ein Ei köpft. Erst dann rief ich meine Mutter und meine Mutter rief den Krankenwagen.
Wenig später flappte über unserem Haus der Hubschrauber, die Bäume wehrten sich, versuchten vergeblich, das brüllende Ungetüm mit ihren dürren Armen zu verscheuchen. Das sattgrüne Augustgras wurde schlohweiß, als die Rotorblätter sie so unsanft aufschreckten und beinahe aus der Erde rissen. Meiner Mutter war der Tumult unangenehm.

Aber Papa ging es gut. An jenem Abend zumindest, rückblickend betrachtet ging es ihm nie gut, wie auch, mit einem Vater, der entweder arbeitete oder um die Häuser zog, vielmehr durch die Gärten zog, durch die kleinen Schrebergärten im Schatten der Papierfabrik, der Schwedischen, wo immer der Schwefelgeruch in der Luft hing oder der Geruch nach Grillfleisch und wo immer irgendwer eine Bierflasche öffnete, wie in einem fein aufeinander abgestimmten Orchester, in dem statt Streichern und Bläsern Ploppen und Zischen erklang, untermalt vom dialektschwangeren Gerede der Männer: Über die Schwedische, über die Frauen, und immer wieder über die, die glaubten, etwas Besseres zu sein. Die bessere Autos fuhren, die besser in der Schule gewesen waren und einen besseren Abschluss hatten. Bildung war eine Sache, für die man sich zu schämen hatte, eine Sache für Brillenträger und verweichlichte Tunten, als Mann hatte man zu schaffen, zu schwitzen, zu rackern.

Mein Vater wurde in einen Strudel geboren, der ihn immer weiter hinabzog, bald sollte seine Leber streiken, bald sollte man ihm die Blase rausnehmen, bald lief seine Pisse in einen Katheter und der große, starke Mann wurde wieder zum Kind, das nur noch Eis essen wollte. Weil es das einzige war, das er noch runter bekam, kühl, sagte er dann, schön kühl, und dabei zeigte er auf seinen Hals, mit seinem Arm, der so dünn geworden war wie ein Stock. Aber da hatten wir schon keinen Kontakt mehr. Davon hat man mir nur erzählt, doch an jenem Abend, als die Fabrik in Flammen stand, da rief er uns an und ließ uns wissen, dass es ihm gut geht, dass wir uns keine Sorgen machen mussten, und wir glaubten ihm.

Ich machte mir keine Sorgen. Meine gesamte Kindheit nicht. Nur wenn der Eismann kam, wenn die Kinder nach ihren Müttern riefen, damit sie ihnen in Küchenpapier gestopfte Markstücke vom Balkon schmissen, dann kämpfte ich den immergleichen inneren Kampf: Ich wollte ein Eis, Himmeblau, Stracciatella, egal, Hauptsache kalt, Hauptsache süß, aber mich in die Schlange zu stellen mit all den anderen Kindern und dann mit dem fremden Mann zu sprechen, das war mir zu viel. Und so sagte ich mir: Ich brauche kein Eis.
So sollte es noch einige Jahre gehen. Ich verzichtete, ließ Chancen liegen, genau wie mein Vater ließ ich mich hinabreißen, beide suchten wir unser Heil in der Selbstgeißelung, fühlten uns geborgener im dunklen Ozeanblau als im strahlenden Himmelblau, und die Narben, die wir uns dabei zuzogen, trugen wir, vielleicht, weil wir es nicht anders gelernt hatten, vielleicht aus fehlgeleiteter Männlichkeit, zur Schau wie Kriegsverletzungen. Glücklicherweise begriff ich irgendwann, was ich mir damit antat. Mein Vater hatte dieses Glück nicht.

In den Sommern, wenn ich Ferien hatte, strampelte ich frühmorgens die Decke von mir und stürmte an den Frühstückstisch. Ich schaufelte Cornflakes in mich hinein, Cini Minis, Kellogg’s, Nesquik, überflog zum abertausendsten Mal die Packungsrückseiten, den kurzen Comic, das simple Rätsel, und die Milch auf der Oberlippe war kaum getrocket, da war ich schon wieder da, wo ich hingehörte: Draußen. Im Grünen, da, wo die Kastanien und die Birken blühten, die Birken mit ihrer schwarzgepunkteten Dalmatinerhaut und den gelben Würmern, die im Laufe des Jahres zu Staub zerfielen, bei den wuchtigen Kastanien mit ihren giftgrünen Stachelbomben, die im Sommer die Schneebälle ersetzten, die Schneebälle, die es heute nicht mehr gibt.

Ab jetzt wurde die Siedlung von den Kindern regiert. Von Jungen mit angespitzten Stöcken und Gameboys, von Mädchen mit Gummitwists und Tamagochis, und erst zur Mittagszeit ließen sich die Erwachsenen blicken, meistens die Mütter, eine nach der anderen erschien dann auf dem Balkon und rief zum Essen, und nachmittags schimpften sie von denselben Balkonen, wenn wir zu laut waren. Die Väter arbeiteten Schicht, und wenn die Rollläden unten waren, hatten wir still zu sein. Und wir waren still. Wir zogen die Köpfe ein, zogen weiter, an den Rand der Siedlung, näher zur Schwedischen, näher zum Schwefelgestank.
Selten kam es vor, dass einer der Väter zum Essen rief. Dann ging der Gerufene mit geschwollener Brust nach Hause, wohl wissend, dass die anderen ihn für den Rest des Tages beneiden würden, sich ausmalten, dass er die Sorte von Vater hatte, die sich alle wünschten, die Sorte, die sich mit einem unterhielt, die wirklich interessiert war und nicht nur vor ihrem eigenen Kummer davonrannte oder ihn im Alkohol ertränkte. Und viel zu oft übersahen wir, geblendet vom Heldenglanz unserer Väter, was unsere Mütter leisteten. Eine Mutter hatte zu funktionieren, das war ihre Aufgabe, und eine Mutter, die das nicht tat, war ein Unding, eine Lottertante und eine Egoistin.

Tausende solcher Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich das Feuer und das Gewusel der Leute betrachtete, zuerst dachte ich an den Nachbarn, der aus dem Fenster gesprungen war, aber ich dachte auch daran, wie schön so ein Feuer war, wie schwarz der Himmel überall sonst war und wie er jetzt leuchtete über unserer Siedlung, unserem kleinen, abgeschotteten Mikrokosmos mit den buckelnden Männern, den duldsamen Frauen und den aufgeweckten Kindern. Ich dachte daran, was ich zuerst retten würde, wenn unser Haus brennt, eher mein Panini-Album oder meinen Gameboy, und ob Schiggy mit seiner Aquaknarre das Feuer löschen könnte. Ich dachte an meinen Vater und an die anderen Männer in der Fabrik. Ob sie jetzt froh waren, nicht mehr arbeiten zu müssen, ob sie da drüben auf der anderen Seite des Zaunes genauso staunend in den Himmel starrten wie Mama, Aria und ich, ob sie dabei Bier tranken, es zischen ließen und ploppen, und ob sie tanzten, so wie mein Vater an Silvester getanzt hatte, mit dem Partyhut auf dem kahlrasierten Schädel, der Zigarre im Mund und mit Trixi auf dem Arm, der vor Freude die Zunge aus dem Hals hing. Mein Vater, der an einem einzigen Abend die ganze Welt umarmen wollte.

 

Hallo @Morphin,

schön, dass du vorbeischaust.

puh, ich hab das Gefühl, gerade ein halbes Leben in mich aufgesogen zu haben. Mit wenigen Worten. Ganz schön dicht der Text.

Da frage ich mich: Zu dicht? Zu viel auf zu wenig Raum? Zu erdrückend? Ist ja nicht ganz unfreiwillig. Ich hatte bei dem Text, ohne zu abgefahren klingen zu wollen, so was wie ein Kaleidoskop vor Augen, viele Muster und Abzweigungen, die sich dann aber doch zu einem stimmigen Bild fügen. Pro: Dicht. Mögliches Contra: Unbefriedigter Leser, weil zu viel angeschnitten und zu wenig ausgeführt wird.

Anhand der Kinderspielzeuge sehe ich, dass diese Kindheit weit nach meiner stattfand, aber das Setting hat sich nicht geändert. Das ist das Tragische an der Geschichte. Da kann man 1950 schreiben, 1960, 1970 oder 1980, völlig egal. Als steckte man in einer Zeitschleife. So weit haben es die Menschen also nicht gebracht.

Gewissermaßen freut es mich, dass du dich da hineinfühlen konntest. Ja, einerseits ist es schade, tragisch, wie du sagst, andererseits doch irgendwie beruhigend, dass die Zeit trotz Pokémon und Tamagochi nicht zu schnell voranschreitet, sodass die Jungen und die Alten doch noch auf ähnliche Erfahrungen zurückgreifen und sich dementsprechend auch eine Stütze sein können, wenn es mal brenzlig wird.

Ich nehme an, es ist keine klassische Kurzgeschichte, aber eine kurze Geschichte.

Mit dem Urteil kann ich leben. Freut mich, dass du das gerne gelesen hast, vielen Dank auch für die Flusenlese, habe mich schnurstracks ans Verbessern gemacht (außer an einer Stelle, da schiebe ich noch rum). Vielen Dank für deine Rückmeldung und bis bald,

Bas

 

Hey @Bas ,

was ist eigentlich gerade auf wk.de los? :D Prä-Sommer-Pause? Ich checke immer, wenn ich gerade ein zwei Minuten habe, was läuft, aber viel ist nicht. Da habe ich mich zuletzt über Ziggas und jetzt über deine Story gefreut. Sehr schön. (Edit: gut Peeperkorn und ja ... okay, einige haben was geschrieben; trotzdem kommt es mir zur Zeit so still vor).
Deine Story spricht mich jedenfalls an. Ich hab darin vieles aus meiner eigenen Kindheit wiederempfunden. Dieses Sommerferiengefühl. Pokemon (blau) und Cornflakes. Das ist eine Art einfühlender Rückblick. Da schreibt jemand Erwachsenes und mit Vokabular, intoniert sein altes Ich zugleich aber auch. Denn manchmal spricht er kindlich, obwohl er ja zum Erzählzeitpunkt erwachsen ist. Du hast viele gute Stellen drin, auch so sprachlich Schönes: "Erst dann rief ich meine Mutter und meine Mutter rief den Krankenwagen." Viele feine Sätze.

während wir in Wahrheit unsere Pokémon trainierten, um es mit den anderen Kindern aus der Siedlung aufnehmen zu können.

das bin ich mit 9 oder 10 vielleicht :D

Ich musste unwillkürlich an unseren Nachbar denken, der vor einigen Jahren aus dem Fenster gesprungen war.

Er erzählt das schon irgendwie auch unbeteiligt. Einerseits redet er viel darüber, andererseits hat das so etwas Lapidares, als wäre das gar nicht seine Biografie.

das sattgrüne Augustgras wurde schlohweiß, als die Rotorblätter sie so unsanft aufschreckten und beinahe aus der Erde rissen

So ein Mix aus dem erwachsenen Erzähler "schlohweiß" "Rotorblätter" und der kindlichen Fantasie "aus der Erde rissen", die ihm vielleicht immer noch eigen ist.

und nicht nur vor ihrem eigenen Kummer davonrannte oder ihn ertränkte.

Die Dichte an Metaphern macht auch diesen Satz sehr kompakt. Da denke ich, er ertränkt den Kummer, und sehe einen See oder dergleichen, aber du meintest sicher den Alk, oder? :) Würde ich eventuell voll ausschreiben, damit das als die Redewendung identifizierbar ist.

Ja, Bas. Morphin hat es schon auf andere Weise gesagt: Kurzer, knackiger Text. Bin dir gerne gefolgt und freue mich aufs Nächste. Gehe jetzt erstmal nach einem langen Tag freiwillig in die Falle.
Beste Grüße und einen schönen Abend dir
Carlo

 

Heyo du treuer @Carlo Zwei,

was ist eigentlich gerade auf wk.de los? :D Prä-Sommer-Pause? Ich checke immer, wenn ich gerade ein zwei Minuten habe, was läuft, aber viel ist nicht.

Viel ist da nicht, sagst du ... Ich war noch nicht über Zeitz hinweg und da hast du schon den alten Hafen rausgehauen und quasi zeitgleich höre ich dann von deinem Vorlesungserfolg mit einer Geschichte, wo schon die Kurzbeschreibung klingt, als wäre sie durchdachter als ... Lassen wir das. Ich habe jedenfalls zwischenzeitlich überlegt, dich privat anzuschreiben und dich nach deinem derzeitigen Motivationsgeheimnis zu fragen, mich dann aber dazu entschieden, einfach zu beobachten und zu genießen. Bin schwer beeindruckt von deinem Schaffen, empfinde das als sehr inspirierend und motivierend.

Deine Story spricht mich jedenfalls an.

Das freut mich natürlich.

Da schreibt jemand Erwachsenes und mit Vokabular, intoniert sein altes Ich zugleich aber auch. Denn manchmal spricht er kindlich, obwohl er ja zum Erzählzeitpunkt erwachsen ist.

Auch das, insbesondere das. Weil ich nicht wusste, ob das funktioniert. Fragt man sich da nicht: Wer erzählt da?, hab ich mich gefragt. Es ist ja so ein Mischmasch aus quasi-Reminiszenz eines "alten" Erzählers und Erleben eines Kindes, halbwegs reflektiert auf der einen, ahnungslos im-Jetzt-lebend auf der anderen. Schön zu sehen, dass du das "kaufst".

Die Dichte an Metaphern macht auch diesen Satz sehr kompakt. Da denke ich, er ertränkt den Kummer, und sehe einen See oder dergleichen, aber du meintest sicher den Alk, oder? :) Würde ich eventuell voll ausschreiben, damit das als die Redewendung identifizierbar ist.

Mach ich, danke für den Hinweis.

Sollten wir uns jemals im echten Leben über den Weg laufen, bestehe ich auf einen Kampf über Linkkabel. Meine gelbe Edition läuft noch :cool:

Bis hoffentlich bald,

Bas

 

Lieber @Bas ,
wie schön, dass wir unsere Geschichten wieder austauschen können.

Ich hatte bei dem Text, ohne zu abgefahren klingen zu wollen, so was wie ein Kaleidoskop vor Augen, viele Muster und Abzweigungen, die sich dann aber doch zu einem stimmigen Bild fügen.
Das Kaleidoskop trifft den Kern der Geschichte sehr gut. Ich habe auf meinem Schreibtisch ein schönes Kaleidoskop stehen und benutze es oft, um mich abzulenken oder neu zu motivieren. Dazu richte ich es auf irgend einen Punkt im Zimmer, auf ein Möbelstück oder das Sofa, vielleicht auch auf eine Topfpflanze oder eine brennende Kerze. Ein kleiner Dreh, und schon entstehen ganz neue Farben und Strukturen in überraschenden Kombinationen.

So ähnlich geht es mir bei deinem Text. Die Dichte der Bilder ist sehr anregend, zumal du die Dimension Zeit mit einbeziehst.

Wir standen auf dem Balkon und sahen den Flammen zu, als mein Vater anrief.
»Alles gut. Macht euch keine Sorgen, mir geht es gut.«
Dies ist also der Fixpunkt, von dem aus der Prota Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht auch die Zukunft beleuchtet.
Papa ging es gut. An jenem Abend zumindest, rückblickend betrachtet ging es ihm nie gut, vermute ich, wie auch, nach einer lieblosen Kindheit mit einer lieblosen Mutter und einem Vater, der entweder arbeitete oder um die Häuser zog, vielmehr durch die Gärten zog, durch die kleinen Schrebergärten im Schatten der Papierfabrik, wo immer der Schwefelgeruch in der Luft hing oder der Geruch nach Grillfleisch und wo immer irgendwer eine Bierflasche öffnete,
Das ist so eine Zusammenfassung von Leben, wie es in Variationen immer und immer wieder auftaucht:
Väter, die selbst eine lieblose Kindheit erlebt haben und die mehr schlecht als recht für die Familie sorgen (obwohl sie sich wahrscheinlich ganz fürchterliche Sorgen machen, bis sie resignieren)
Kinder, die sich abschotten, in Spielwelten, die je nach Lebensstandard unterschiedlich ausfallen
Kinder, die eigene Überlebensstrategien entwickeln, um anders aus diesem Kreislauf herauszukommen.
Selten kam es vor, dass einer der Väter zum Essen rief. Der Gerufene ging dann mit geschwollener Brust nach Hause, wohl wissend, dass die anderen Kinder ihn für den Rest des Tages beneiden würden, sich ausmalten, dass er die Sorte von Vater hatte, die sich alle wünschten, die Sorte, die sich mit einem unterhielt, die wirklich interessiert war und nicht nur vor ihrem eigenen Kummer davonrannte oder ihn im Alkohol ertränkte.
ein Grundmuster, das in vielen Milieus und Generationen auftaucht und in Autobiografien eine große Rolle spielen.
Meiner Mutter war das unangenehm. Sie war eine zurückhaltende Frau, schon immer gewesen, und aus irgendeinem Grund fühlte sie sich für den Tumult verantwortlich.
Frauen kommen in diesem Kaleidoskop vor allem als (Haus-)Frauen vor. Ist keine Kritik, lieber Bas, nur der realistische Blick auf ein lange gültiges Frauenbild.

Gibt es Ansätze für Veränderungen? Hier habe ich einen gefunden:

Ich machte mir keine Sorgen.
Wenn mir etwas zu schwer erschien, verzichtete ich, auch wenn der Verzicht mehr weh tat als alles andere. Das war eine der wenigen Eigenschaften, die ich von meinem Vater geerbt hatte: Beide schienen wir die Selbstgeißelung zu genießen, beide fühlten wir uns geborgener im dunklen Ozeanblau als im strahlenden Himmelblau, und die Narben, die wir uns dabei zuzogen, trugen wir, vielleicht, weil wir es nicht anders gelernt hatten, vielleicht aus fehlgeleiteter Männlichkeit, zur Schau wie Kriegsverletzungen. Glücklicherweise begriff ich irgendwann, was ich mir damit antat.
Dieser Junge hat das Talent, seine Kindheit auszuleben und sich selbst zu verändern. Wann und wodurch die Veränderung eintritt, erfahre ich nicht. Ich male sie mir eben selber aus.
Und das gefällt mir auch:
Mein Vater hatte dieses Glück nicht.
ja, das ist als Quintessenz liebevoll formuliert.

Danke für den schönen Text, der mir auch in sprachlicher Hinsicht gut gefällt.

Herzliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo @wieselmaus,

ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber vor - mittlerweile kann man das schon sagen, verrückt -, vor ein paar Jahren hast du mir mal geschrieben, dass du die Geschichte "in deinem Ohrensessel verschlungen hast". Seitdem gibt es dich für mich nicht mehr ohne diesen Ohrensessel. Dass die Inneneinrichtung jetzt noch um einen Schreibtisch, eine Topfpflanze und ein supercooles Kaleidoskop erweitert wird, gefällt mir sehr gut.

Frauen kommen in diesem Kaleidoskop vor allem als (Haus-)Frauen vor. Ist keine Kritik, lieber Bas, nur der realistische Blick auf ein lange gültiges Frauenbild.

Das darfst du durchaus kritisieren, sollst du vielleicht sogar. Ich habe überlegt, das deutlicher zu zeigen, denke immer noch darüber nach, wie ich das angehen könnte, ich selbst bin nämlich der Ansicht, dass diese "Hausfrauen" sehr viel mehr sind als ... das.

Vorerst habe ich zumindest an ein, zwei Stellen noch mal das teilweise verquere Denken der hier agierenden Männer stärker herausgearbeitet. Dabei muss ich allerdings acht geben, nicht zu sehr mit dem Finger auf sie zu zeigen, denn auch hier bin ich wieder bei dir:

Väter, die selbst eine lieblose Kindheit erlebt haben und die mehr schlecht als recht für die Familie sorgen (obwohl sie sich wahrscheinlich ganz fürchterliche Sorgen machen, bis sie resignieren)

In meinem Umfeld ist der "Vorzeigevater" die Ausnahme, aber ich glaube nicht, dass diese Väter die schlechten Menschen sind, als die sie dann gerne mal dargestellt werden. Kinder aufzuziehen ist eine riesen Verantwortung und ja, ich würde mir wünschen, dass jeder dieser Verantwortung gerecht werden kann oder zumindest sein Allerbestes gibt. Ich persönlich bin aber hin und wieder schon mit meiner Topfpflanze überfordert, deshalb mag ich mir da nicht anmaßen, zu urteilen, auch nicht in einem fiktiven Text.

Dieser Junge hat das Talent, seine Kindheit auszuleben und sich selbst zu verändern. Wann und wodurch die Veränderung eintritt, erfahre ich nicht. Ich male sie mir eben selber aus.

Dass du das tust und kannst, freut mich, nehme ich aber an der Stelle auch gerne als Kritik an dem Text mit. Es ist eine Momentaufnahme, ein Standbild ohne viel Entwicklung, und ich meine mal gehört zu haben, Entwicklung ist nicht ganz unwichtig für eine wirklich gute Geschichte.

Sei's drum, ich danke dir vielmals für deinen Besuch und hoffe, du kannst das tolle Wetter genießen. Bis hoffentlich bald,

Bas

 

Guten Morgen @Rob F,

kann ich (leider) gut nachvollziehen, was du da sagst.

Ich bin hierbei nur, trotz der durchdachten Formulierungen, nicht sicher, ob das dem Text/dem Inhalt einen Gefallen tut. Es wirkt teilweise so, als wollte jemand bei einem Schnellsprechwettbewerb (gibt es so was?) sein Leben runterrasseln.

Ja, verstehe ich. Der Text behandelt emotionale Themen, der Erzähler bleibt aber distanziert und emotionslos, das geht nicht gut zusammen. Vermutlich habe ich mich da in eine Sackgasse geschrieben, indem ich Form über Inhalt gestellt habe, das versuche ich zukünftig zu vermeiden. Danke für die klare Kritik, weiß ich zu schätzen!

Wünsche dir einen schönen Sonnensonntag und bis bald,

Bas

 
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Hey @Bas,

eine sehr schöne, kleine Geschichte. Gerade der Sound gefällt mir ausgezeichnet. Damit meine ich einfach den Klang, den dein Text erzeugt, das flutscht wirklich sehr gut. Ich finde, diese Sprache ist wirklich viel wert. Bei manchen Texten oder Autoren - gar nicht ausschließlich auf das Forum bezogen - fällt es mir oft schwer, einzusteigen oder dran zu bleiben. Das liegt auch an der Sprache, der irgendetwas fehlt. Dann gibt es wiederum Autoren, bei denen man einfach so wegliest. Dazu zähle ich den Text hier, und dich als Autor allgemein.

Ich hab das sehr gerne gelesen. Ich finde auch, dass du mit dem Text ein wenig eine narrativere bzw. erzählendere Richtung einschlägst, die, wie ich finde, dir gut gelingt und für mich sehr gut funktioniert. Ich habe das Gefühl, du gehst hier ein wenig weg vom Surrealismus - oder wie auch immer man die Gattungen nennt - und ein wenig mehr zu Realismus, zu Plot, Figuren. Bin wirklich gespannt, was noch in der Richtung von dir kommt, weil ich das hier sehr gut gemacht finde.

Für mich tragen die Sprache und die Authentizität durch diesen Text. Du wirst dich wundern, wie viele Leute, die jetzt nicht selbst Autoren sind, auf dieses nostalgisch-authentische abfahren. Das meine ich in keinem Fall desrespektierlich. Wenn ich hin und wieder - wirklich nicht oft - auf Lesungen war, waren das meistens die Texte, die wirklich abgefeiert wurden.

Ja, es gibt auch die Stimmen, habe ich in den Vorkommentaren gesehen, die womöglich das nötige Show vermissen, denen das zu schnell geht und die mehr connecten wollen durch mehr Szenen und weniger Tell. Ich verstehe die Seite. Vielleicht ist es auch wichtig, das zu hören, damit man den eigenen Text besser einschätzen kann. Ich kann mittlerweile gar nicht mehr anders, als mit so einer Autorenbrille zu lesen und auch immer zu gucken, wie ist ein Text aufgebaut, wie viel Show, wie viel Tell. Das stresst mich manchmal selbst, weil ich eigentlich auhc sehr gerne nach Bauch lese und etwas mögen will, das mir einfach gefällt, ohne dass ich jetzt die Erklärungen über die Technik oder so haben möchte. Ich möchte das Tell irgendwie gar nicht mehr verurteilen. Es gibt eine Vielzahl an Gründen, weswegen ein Text funktionieren kann und weswegen nicht. Ich finde, man muss einem Text auch etwas Tribut zollen, wenn er kurz sein will, und trotzdem etwas erzählen möchte. Wenn dann Abstriche gemacht werden, was meinetwegen Show betrifft, aber mir trotzdem was geboten wird, dann ist das einwandfrei für mich. Für mich hast du das hier geschafft.

Ich mag das Teil hier, ich mag die Kürze, was der Text erzählt, wie er es erzählt, wie die Sprache flutscht. Ich hatte Bock dabei und konnte durch die Überschneidungen, diese kleinen Arbeitersiedlungen, Pokémon-Gameboy, mit Jungs draußen zum Eiswagen, da konnte ich einfach ganz stark mit connecten, weil das auch die Welt ist, in der ich selbst aufgewachsen bin.

Auch den Brand als Aufhänger finde ich gut. Ich mag sowieso Brände in Geschichte, das gibt oft großartige Metaphern oder ja, weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, das Bild eines Brandes ist einfach gewaltig und ich bin da irgendwie ein Fan von.


Ein (kleiner) Kritikpunkt:

Ich hoffe, du nimmst mir das nicht krumm, ich hab auch kein Anspruch darauf, dass ich hier die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte, aber an ein paar Stellen, an der es um "die Fabrik" geht, kam mir der Text ein wenig nicht ganz 100% authentisch vor, wie er mir über die Gesamtstrecke eigentlich sehr authentisch vorkam. Ich suche dir die Stellen mal raus und überlasse dir, wie du weiter fungierst.
In meiner City haben wir auch Großindustrie, ich würde sagen, ungefähr die Hälfte der Einwohner arbeitet entweder direkt dort oder in einem der Zulieferbetriebe. Deswegen kenne ich das und maße mir an, hier meinen Senf zu zu geben:

jeder wusste von einem anderen zu erzählen, der heute Schicht in der Fabrik hatte
Das fand ich etwas seltsam - wieso erzählen sich die Männer, welcher andere Mann, der nicht in der Gruppe dabei steht, Schicht hat? Ich kenne das so irgendwie nicht. Es wird eher erzählt, wann man selbst wieder Schicht hat, oder es wird über Urlaub, Fußball, Wetter, Auto und außerarbeitliche Dinge geredet. Meiner Erfahrung nach reden Leute dann hauptsächlich von ihrer Arbeit, wenn man jemanden trifft, der auch in der selben Fabrik arbeitet. Dann geht es um den Meester oder wo man genau arbeitet.

Und: Schicht haben könntest du mit "Erste", "Zweite" oder "Dritte (Schicht)" umschreiben. Keine Ahnung, ob man das bei euch so sagt, aber irgendwie sagen die Leute hier immer gleich mit dazu, welche Schicht sie haben, und nicht nur, dass sie Schicht haben

Über die Fabrik, über die Frauen
Ha, da hast du es ja drin!

Noch etwas: Bei uns sagt niemand "die Fabrik", wenn es um die Fabrik geht, sondern meistens ist im Raum von Großindustrie ja mehrere Fabriken angesiedelt, und dann gibt es witzige Namen für die Fabrik, in der man arbeitet, bei uns heißt z.B. eine "bei die Schweden" oder "die Bosch". Also, im Grunde sagen die Leute den Namen der Firma, für die sie arbeiten, will ich damit sagen. Wäre noch ein Detail. Aber hey, ich will dir auch nicht rein reden, wenn du das so kennst aus deinem Umfeld, kauf ich das.

Bas, gerne mehr in diesem Stil. Hat Bock gemacht.

Lass dir gut gehen
zigga

 

Hey @Bas,

ich staune ja immer wieder über deine Vielfältigkeit. Deine neue Geschichte habe ich in einem Rutsch gelesen, und ja, es ist fast eine Lebensgeschichte, aber trotzdem habe ich mich nicht erschlagen gefühlt, weil ich den Eindruck hatte, der Erzähler will mir nicht in kurzer Zeit möglichst viel aus seinem Leben erzählen, sondern nutzt die eine oder andere Anekdote dazu, um darüber zu reflektieren. Vor allem über sich selbst und das Verhältnis zu seinem Vater bzw. wie viel vom Vater in ihm selbst steckt.

Den Brand verstehe ich hier sowohl real als auch metaphorisch. Er rüttelt auf aus dem überschaubaren Trott, der heilen Kinderwelt, die nur durch katastrophale Ereignisse zum Innehalten und Nachdenken zwingt, die Routine praktisch niederbrennt (meine Güte, bin ich heute pathetisch ... :Pfeif: )

Interessant finde ich, dass momentan einige Geschichten im Forum kursieren, in denen es um Väter mit Alkoholproblemen und funktionierende Mütter geht, und wie @Morphin schon sagte, es ist egal, in welcher Zeit die Geschichte spielt, ob Kinder mit Matchbox Autos oder Pokemon spielen, die zwischenmenschlichen Probleme bleiben dieselben. Und weil der Erzähler das alles im Rückblick Revue passieren lässt, scheint der Brand eine Zäsur in seinem Lebens gewesen zu sein, ein Aufrütteln und kurzes Aufatmen, weil niemandem etwas passiert ist, bevor es richtig bergab ging.

Für mich eine sehr runde Sache, deshalb nur ein paar Zitate meiner Lieblingsstellen:


Meiner Mutter war der Tumult unangenehm.
Im Gegensatz zum Erzähler scheint die Mutter hier in erster Linie die Routine aufrecht halten zu wollen. Ein so einschneidendes Erlebnis wie ein Selbstmord passt nicht in ihre "perfekte" Welt, in der sich jeder mit seinem Schicksal abzufinden hat und Verpflichtung einen höheren Stellenwert zu besitzen scheint als persönliches Glück.

beide suchten wir unser Heil in der Selbstgeißelung, fühlten uns geborgener im dunklen Ozeanblau als im strahlenden Himmelblau, und die Narben, die wir uns dabei zuzogen, trugen wir, vielleicht, weil wir es nicht anders gelernt hatten, vielleicht aus fehlgeleiteter Männlichkeit, zur Schau wie Kriegsverletzungen.
Wunderschön auf den Punkt gebracht. Männlichkeit scheint sich für die Kinder nach wie vor mit den Vorbildern amerikanischer Filme zu mischen, in denen sie immer mit Heldentum zu tun hat. Die Tragik des realen Lebens wird erst durch das eigene Erwachsenwerden erkannt.


Eine Mutter hatte zu funktionieren, das war ihre Aufgabe, und eine Mutter, die das nicht tat, war ein Unding, eine Lottertante und eine Egoistin.
Sobald es um die Familie geht, scheint Emanzipation vielerlei Orts auch heute noch ein Fremdwort zu sein. Nicht, dass man sich nicht um seine Kinder kümmern sollte, natürlich sollte man das, aber bei der Verteilung der Aufgaben scheint sich nicht viel geändert zu haben. Alleinerziehende Väter begegnen mir auch heute eher selten, und wenn, wird sofort vermutet, dass mit der Mutter etwas nicht stimmt.


Ich dachte daran, was ich zuerst retten würde, wenn unser Haus brennt, eher mein Panini-Album oder meinen Gameboy, und ob Schiggy mit seiner Aquaknarre das Feuer löschen könnte.
:herz:


Sehr gern gelesen.

Ein frohes bevorstehendes Pfingstwochenende wünscht
Chai

 

Bildung war eine Sache, für die man sich zu schämen hatte, eine Sache für Brillenträger und verweichlichte Tunten, als Mann hatte man zu schaffen, zu schwitzen, zu rackern

Alles schon gesagt und doch jetzt erst entdeckt nach einem laptöplichen Crash,

lieber Bas,

und ja, denk ich, was waren das für übersichtliche und darum schöne Zeiten, da die sozialen (inclusive Geschlechter-)Rollen fest definiert waren und die soziale Stellung zementiert zu sein schien (was unser keineswegs frei-, sondern dreizügiges Bildungssystem heute übrigens immer noch reproduziert) – vor allem verblüfft mich, wie Du von Katastrophen in poetischer Sprache schreibst – und sich vielleicht deshalb keiner traut, auf einiges hinzuweisen. Da wäre zunächst die inflationäre Verwendung des „haben“ als Hilfsverb, was vorsichtig beginnt

Seit der Sonnenfinsternis war hier nichts mehr passiert, aber jetzt hatten sich wieder alle versammelt: Draußen rauchten die Männer ihre Zigaretten, jeder wusste von einem anderen zu erzählen, der heute Schicht in der Fabrik hatte, und die Frauen standen mit müden oder ängstlichen Blicken, je nachdem, hinter den Gardinen ihrer Fenster.
aber dann
Ich betrachtete ihn und dachte daran, wie ich damals bei ihm übernachten durfte, nachdem ich den ganzen Tag mit seiner Hündin, seiner Trixi, gespielt hatte, wie er mir das kleine Reisebett bezogen hatte, und wie seine Frau mir am nächsten Morgen gezeigt hatte, wie man ein Ei köpft.

Das erste „hatte“, lässt sich ersetzen durch ein „der heute auf Schicht war“, wie man im Pott so sagt. Dem zwoten („gespielt hatte“) etc. wird eigentlich durch zwo temporale Adverien wie „damals“ und „nachdem“ ermöglicht, die zusammengesetzte Zeit zu verlassen, etwa so

„Ich betrachtete ihn und dachte daran, wie ich damals bei ihm übernachten durfte, nachdem ich den ganzen Tag mit seiner Hündin, seiner Trixi spielte, wie er mir das kleine Reisebett bezog und wie seine Frau mir am nächsten Morgen zeigte, wie man ein Ei köpft.“

Hier lassen sich gefahrlos zwo entbehrliche Buchstabenfüllsel streichen

Das sattgrüne Augustgras wurde schlohweiß, als die Rotorblätter sie so unsanft aufschreckten und beinahe aus der Erde rissen.

Ich wollte ein Eis, Himmeblau, Stracciatella, egal, Hauptsache kalt, Hauptsache süß, aber ….
„Hauptsache“ ja, aber „himmelblau“,
und noch eine winzige Flüchtigkeit
..., das simple Rätsel, und die Milch auf der Oberlippe war kaum getrock[n]et, da war ich schon wieder da, wo ich hingehörte:

Nicht ungern gelesen vom

Friedel,

der noch schöne Pdfingsten wünscht!

 

Hallo @Bas

ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen. Du ziehst mich sofort in den Text rein und der Lesefluss hört nicht auf. Es entsteht Kopfkino und ich mag die Dichte des Textes. Hab jedes Wort richtig aufgezogen, da hat alles gepasst für mich. Ich war mitten drin in der Siedlung, hab das Leid gefühlt, das dort herrscht, aber auch das Glück der Kinder, wenn etwas Schönes passiert ist. Das Ende ist natürlich tragisch. Sprachlich anzumeckern hab ich nichts. Mir ist nur eine Kleinigkeit aufgefallen.

Draußen. Im Grünen, da, wo die Kastanien und die Birken blühten, die Birken mit ihrer schwarzgepunkteten Dalmatinerhaut und den gelben Würmern, die im Laufe des Jahres zu Staub zerfielen, bei den wuchtigen Kastanien mit ihren giftgrünen Stachelbomben, die im Sommer die Schneebälle ersetzten, die Schneebälle, die es heute nicht mehr gibt.

Sehr schön und bildhaft beschrieben. Ich mag Deinen Stil total!
Hab nur nicht verstanden, warum es heute keine Schneebälle mehr gibt. Soll das ne Metapher sein?

Selten kam es vor, dass einer der Väter zum Essen rief. Dann ging der Gerufene mit geschwollener Brust nach Hause, wohl wissend, dass die anderen ihn für den Rest des Tages beneiden würden, sich ausmalten, dass er die Sorte von Vater hatte, die sich alle wünschten, die Sorte, die sich mit einem unterhielt, die wirklich interessiert war und nicht nur vor ihrem eigenen Kummer davonrannte oder ihn im Alkohol ertränkte. Und viel zu oft übersahen wir, geblendet vom Heldenglanz unserer Väter, was unsere Mütter leisteten. Eine Mutter hatte zu funktionieren, das war ihre Aufgabe, und eine Mutter, die das nicht tat, war ein Unding, eine Lottertante und eine Egoistin.

Diese Stelle hat mir sehr gut gefallen.

Denn bald sollten wir erfahren, was so ein Feuer auch bedeuten konnte: Mehr Arbeitslosigkeit, mehr Ehen, die in die Brüche gingen. Mehr Gewalt und mehr Krankheit, körperlich und physisch, mehr Alkohol, vor allem mehr Alkohol. Mehr Angst.
Aber noch ging es uns gut, in unserer kleinen Welt, in unserer kleinen Familie, die es so nicht mehr gibt.

In wenigen Worten bringst Du die Tragik auf den Punkt.

Ganz liebe Grüße und schöne Pfingsten,
Silvita

 

Hallo @zigga,

erstmal sorry, dass meine Antwort so lange auf sich hat warten lassen. Sollte nicht passieren. Ich habe deinen Kommentar schon vor zwei Monaten gelesen, die Antwort war auch schon fertig und auch gar nicht mal so kurz, weil du da viel getriggert hast, irgendwie ists dann aber beim Entwurf geblieben, der dann irgendwie … verschwunden ist. Keine Ahnung mehr, was genau ich dir sagen wollte. Hauptsächlich aber wohl danke. Dass es mich wahnsinnig gefreut hat, dass du den Text so nehmen konntest, wie er ist.

Bei manchen Texten oder Autoren - gar nicht ausschließlich auf das Forum bezogen - fällt es mir oft schwer, einzusteigen oder dran zu bleiben. Das liegt auch an der Sprache, der irgendetwas fehlt. Dann gibt es wiederum Autoren, bei denen man einfach so wegliest. Dazu zähle ich den Text hier, und dich als Autor allgemein.

Auch das ist eine sehr wichtige Rückmeldung, das gibt Aufwind.

Ich finde, man muss einem Text auch etwas Tribut zollen, wenn er kurz sein will, und trotzdem etwas erzählen möchte. Wenn dann Abstriche gemacht werden, was meinetwegen Show betrifft, aber mir trotzdem was geboten wird, dann ist das einwandfrei für mich. Für mich hast du das hier geschafft.

Ja, super, das meinte ich mit „Text nehmen, wie er ist“. Ich habe den ehrlich gesagt nach Robs Kommentar gedanklich schon in die Tonne gekloppt, eben weil ich das, was er gesagt hat, sehr gut nachvollziehen konnte: Distanziert und emotionslos hat er den Text empfunden, vor allem wegen der Form, der „gewollten Kürze“.

Das fand ich etwas seltsam - wieso erzählen sich die Männer, welcher andere Mann, der nicht in der Gruppe dabei steht, Schicht hat? Ich kenne das so irgendwie nicht.

Hier war mir nicht ganz klar, wo da deine Unklarheit herrührt. Klar (uff, nicht überreizen!), normalerweise würden die das wohl eher nicht erwähnen, aber hier bezieht sich das ja auf den Brand, es geht darum, wer gerade im Moment in der Fabrik und somit eventuell in Gefahr ist. Vielleicht ist in dem Moment noch nicht ersichtlich genug, dass da die Fabrik brennt? Oder ist es die zeitliche Komponente: Warum sollte es interessieren, wer heute Vormittag gearbeitet hat, wenn es jetzt in der Nacht brennt? Um das auszuschließen, habe ich jetzt mal vorläufig aus „der heute Schicht in der Fabrik hatte“ „der gerade Nachtschicht in der Fabrik hatte“ gemacht.

Aber ich schau mir das noch mal genau an, werde den Text eh noch mal generalüberholen.

Noch etwas: Bei uns sagt niemand "die Fabrik", wenn es um die Fabrik geht, sondern meistens ist im Raum von Großindustrie ja mehrere Fabriken angesiedelt, und dann gibt es witzige Namen für die Fabrik, in der man arbeitet, bei uns heißt z.B. eine "bei die Schweden" oder "die Bosch". Also, im Grunde sagen die Leute den Namen der Firma, für die sie arbeiten, will ich damit sagen. Wäre noch ein Detail. Aber hey, ich will dir auch nicht rein reden, wenn du das so kennst aus deinem Umfeld, kauf ich das.

Super Hinweis, ja, hier hätte auch niemand „die Fabrik“ gesagt. Ich hab dir jetzt kurzerhand die Schweden geklaut, die Vorlage für meine Fabrik hier war tatsächlich in Schwedenhand und irgendwie gefällt mir auch der unterschwellige Bezug zur schwedischen Gardine, zum Knast. Ich bin mir nämlich sicher, für viele hat sich das ganz ähnlich angefühlt, wie ein Ort, an dem man eben sein musste, alternativlos.

Vielen Dank für deinen Input, der Kommentar hat auch nach der langen Zeit nichts an Wertigkeit verloren.

Hallo @Chai,

auch bei dir muss ich mich entschuldigen, 19.5., Mann, Mann … Kommt nicht wieder vor, hoffe ich. Freut mich jedenfalls sehr, dass du Gefallen an der Geschichte gefunden hast.

Und auch für dich hatte ich damals schon einen Antwort-Entwurf parat und auch bei dir kann ich mich leider kaum noch daran erinnern, hiermit:

Interessant finde ich, dass momentan einige Geschichten im Forum kursieren, in denen es um Väter mit Alkoholproblemen und funktionierende Mütter geht

Hattest du aber auf jeden Fall etwas angeregt, ich habe mich daraufhin mal in meinem näheren Umfeld „umgesehen“ bzw. umgedacht und, Überraschung Überraschung, erkannt, dass diese Konstellation keine seltene ist. Interessant fände ich jetzt noch, ob das in allen „Schichten“ so verbreitet ist ober ob das eher eine Sache ist, an der „Arbeiterstädte“ kranken …

Ein frohes bevorstehendes Pfingstwochenende wünscht

Dir dann wohl eher einen schönen Hoch-/Spätsommer und auf hoffentlich bald unter einer neuen Geschichte von dir!

Hallo @Friedrichard,

irgendwann im Frühjahr gab es mal einen Zeitraum, da habe ich wochenlang keinen Kommentar von dir gelesen, was bei dir, jedenfalls seit ich hier bin, schon sehr untypisch ist, und da dachte ich schon, der wird doch auf sich aufpassen, dem wird es doch gutgehen? Schön, dass das offensichtlich der Fall ist und schön, dass du hier vorbeigeschaut hast. Und nimms mir nicht übel, dass die Antwort so lange gedauert hat.

was waren das für übersichtliche und darum schöne Zeiten, da die sozialen (inclusive Geschlechter-)Rollen fest definiert waren und die soziale Stellung zementiert zu sein schien

Ja, verrückt, einerseits will und muss man sich gegen so eine Aussage ja wehren, wenn da nicht andererseits so ein heller Funken Wahrheit mitblitzen würde. Schön, dass die Rollen nicht mehr so fest definiert sind, wichtig, aber schade, dass sie es nicht mehr sind, weil, ja, übersichtlich passt wohl ganz gut.

„Hauptsache“ ja, aber „himmelblau“

Hm, aber Himmelblau ist eine eigene Sorte, so wie … Erdbeere. Deshalb lasse ich das mal groß.

as simple Rätsel, und die Milch auf der Oberlippe war kaum getrock[n]et, da war ich schon wieder da, wo ich hingehörte:

:thumbsup:

Bis bald, Friedel, und vielen Dank für deine Treue!

Hallo @Silvita,

du machst es mir einfach mit deinem Wohlfühlkommentar: Lesefluss, Kopfkino, du hast mitgefühlt, was will man mehr? Daher vielen Dank für deinen Leseeindruck und bitte entschuldige auch du die sehr späte Antwort.

Eine Antwort bin ich dir noch schuldig:

Hab nur nicht verstanden, warum es heute keine Schneebälle mehr gibt. Soll das ne Metapher sein?

Weniger eine Metapher als eine Beobachtung. Vielleicht eine romantisch verklärte, aber als kleiner Bub hatte ich gefühlt recht häufig die Chance, Schneebälle zu werfen, in den letzten Jahren … quasi nie.

Bas

 

Hallo Bas,

schön, dass deine Geschichte wieder aufgeploppt ist, hätte sie sonst wohl verpasst.

Draußen rauchten die Männer ihre Zigaretten, jeder wusste von einem anderen zu erzählen, der gerade Nachtschicht in der Fabrik hatte, und die Frauen standen mit müden oder ängstlichen Blicken, je nachdem, hinter den Gardinen ihrer Fenster.
Da entstehen tolle Bilder in meinem Kopf.

Wenig später flappte über unserem Haus der Hubschrauber, die Bäume wehrten sich, versuchten vergeblich, das brüllende Ungetüm mit ihren dürren Armen zu verscheuchen.
Einer meiner Lieblingssätze.

und wo immer irgendwer eine Bierflasche öffnete, wie in einem fein aufeinander abgestimmten Orchester, in dem statt Streichern und Bläsern Ploppen und Zischen erklang, untermalt vom dialektschwangeren Gerede der Männer
Das kann ich mir auch richtig gut vorstellen.

die, die glaubten, etwas Besseres zu sein. Die bessere Autos fuhren, die besser in der Schule gewesen waren.
Ich würde hier noch ein Beispiel mehr einfügen. Irgendwo habe ich dazu mal eine "allg. Regel" gelesen mit der drei- oder vierfachen Aufzählung und meine, dass hier 3x besser besser passen würde.

wenn die Kinder nach ihren Müttern riefen, damit sie ihnen in Küchenpapier gestopfte Markstücke vom Balkon schmissen,
Mir scheint es, als hätten alle Wohnungen die Balkons nach vorne, zur Straßenseite raus. Dieses Bild ist mir noch nicht ganz klar, da ich den Vergleich zu unserer Wohnsiedlung von früher im Kopf habe, wo alle Balkons nach unten rausgingen.
Muss nicht bedeuten, dass das nun im Text unbedingt erklärt werden sollte.
Aber zeigt auch, dass man in seinen Erinnerungen kramt und versucht, Vergleiche anzustellen. Von daher schon mal gut.

Dann ging der Gerufene mit geschwollener Brust nach Hause, wohl wissend, dass die anderen ihn für den Rest des Tages beneiden würden, sich ausmalten, dass er die Sorte von Vater hatte, die sich alle wünschten, die Sorte, die sich mit einem unterhielt, die wirklich interessiert war und nicht nur vor ihrem eigenen Kummer davonrannte oder ihn im Alkohol ertränkte.
Ja, kann ich mir gut vorstellen.
Bei mir und meinem Bruder war der stolze Moment, wenn unser Vater nach der Schicht mit dem Fahrrad am Spielplatz vorbeikam. Da sind wir Jungs ihm schon entgegengelaufen und haben uns gestritten, seine Arbeitstasche tragen zu dürfen :-)


Denn bald sollten wir erfahren, was so ein Feuer auch bedeuten konnte: Mehr Arbeitslosigkeit, mehr Ehen, die in die Brüche gingen. Mehr Gewalt und mehr Krankheit, körperlich und physisch, mehr Alkohol, vor allem mehr Alkohol. Mehr Angst.
Da muss ich ehrlich sagen, dass es dies m.E. gar nicht gebraucht hätte.
Hört sich wie ein Fazit, eine Konsequenz, die Meinung des Autors an.
Ich finde, der Text funktioniert auch gut ohne dieser plakativen Aussage.

Ich habe das gerne gelesen. Mir schweben direkt meine Erlebnisse vor Augen und der Gedanke, auch diese festzuhalten.
Jeder Leser hat solche/ähnliche Kindheitserinnerungen, so dass du schon mal eine große Zielgruppe triffst :-)
Schönes Thema, viele tolle Sätze und Formulierungen, die ich mag.

Schönen Sonntag und liebe Grüße,
GoMusic

 

Hallo @GoMusic,

schön, dass deine Geschichte wieder aufgeploppt ist, hätte sie sonst wohl verpasst.

Und schön, dass du noch mal etwas dazu sagst.

Ich würde hier noch ein Beispiel mehr einfügen. Irgendwo habe ich dazu mal eine "allg. Regel" gelesen mit der drei- oder vierfachen Aufzählung und meine, dass hier 3x besser besser passen würde.

Allgemeine Regeln finde ich oft ja nur so semigut, aber hier könntest du recht haben, würde auch rhythmisch gut tun. Heißt jetzt:

Über die Schwedische, über die Frauen, und immer wieder über die, die glaubten, etwas Besseres zu sein. Die bessere Autos fuhren, die besser in der Schule gewesen waren und einen besseren Abschluss hatten. Bildung war eine Sache, für die man sich zu schämen hatte, eine Sache für Brillenträger und verweichlichte Tunten, als Mann hatte man zu schaffen, zu schwitzen, zu rackern.

(Das ist aber eh eine Aufzählungsmonsterpassage, bemerke ich gerade)

Mir scheint es, als hätten alle Wohnungen die Balkons nach vorne, zur Straßenseite raus. Dieses Bild ist mir noch nicht ganz klar, da ich den Vergleich zu unserer Wohnsiedlung von früher im Kopf habe, wo alle Balkons nach unten rausgingen.
Muss nicht bedeuten, dass das nun im Text unbedingt erklärt werden sollte.
Aber zeigt auch, dass man in seinen Erinnerungen kramt und versucht, Vergleiche anzustellen. Von daher schon mal gut.

Ja, da bin ich komplett von dem ausgegangen, was ich kenne. Hier gab es zwei Balkons, sowohl vorne als auch hinten.

Bei mir und meinem Bruder war der stolze Moment, wenn unser Vater nach der Schicht mit dem Fahrrad am Spielplatz vorbeikam. Da sind wir Jungs ihm schon entgegengelaufen und haben uns gestritten, seine Arbeitstasche tragen zu dürfen :-)

Ein tolles Bild! Klingt fast nach einer Geschichte, die geschrieben werden will ;)

Da muss ich ehrlich sagen, dass es dies m.E. gar nicht gebraucht hätte.
Hört sich wie ein Fazit, eine Konsequenz, die Meinung des Autors an.
Ich finde, der Text funktioniert auch gut ohne dieser plakativen Aussage.

Guter Hinweis, und ja, mit etwas Abstand lese ich das genauso wie du. Habe es deshalb jetzt auch gestrichen, danke dir.

Und danke für den gesamten Kommentar, habe mich sehr über deinen Besuch gefreut!

Bas

 

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