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Braeriach
Braeriach
Steine, nichts als Steine. Seit zwei Stunden kein anderes Bild vor Augen. Der Nebel zwang den Blick auf den Bereich unmittelbar vor den Wanderstiefeln. Ein unbedachter Schritt, und der Fuß blieb in einer Spalte stecken. Nach dem Schotterfeld, den Janine und Laurel noch schwatzend hinter sich brachten, folgte dieser Abschnitt aus riesigen Felsblöcken, der jede Kontur des Berges aufhob. Nach einer Stunde konnte keiner der beiden mehr sagen, ob sie aufstiegen oder dem Verlauf der Schulter des Berges folgten. Durch das eisenhaltige Gestein versagte der Kompass. Laurel war schon zwei Mal gestürzt und verzog bei jedem Schritt das Gesicht. Sein Knie schwoll bedenklich unter der Softshellhose an. Janine, die ihn sonst gerne bemutterte, war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihrem Freund mehr als nötig Aufmerksamkeit zu schenken.
Auf flache Quader folgten spitz aufragende Platten, um die sie sich umständlich herumhangelten. Die Rucksäcke blieben an engen Stellen stecken. Janine hatte ihren Trinkbecher verloren, als sie durch einen kaminartigen Aufstieg kletterten.
»Immerhin ist es windstill!«, bemerkte Laurel mit schiefem Grinsen.
»Ganz toll! Das bedeutet, dass der Nebel noch länger hocken bleibt. Wir sollten uns eine ebene Stelle suchen und warten, bis der Nebel etwas nachlässt. Wenn es in einer Stunde noch nicht besser ist, gehen wir zurück!«
»Hast du noch mehr so blöde Vorschläge? Wir werden uns den Arsch abfrieren! Ich bin doch nicht zum Rumsitzen hier hochgestiegen. Nee, nee, weiter geht´s! Es ist noch früh am Tage. Der Typ im Hostel sagte, dass auf dem Braeriach immer jemand rumrennt. Wir müssen höher. Auf dem Kamm gibt es einen Pfad. Wir sind nur viel zu weit nach links abgekommen!«
Seufzend blieb Janine stehen und bog das Kreuz durch. Sie war die Erfahrenere von ihnen und wusste, dass sie bei diesem Nebel eher Gefahr liefen, sich in einem der vielen Seitentäler zu verlaufen. Der Kamm wurde von kleinen Steinmännchen, sogenannten Cairns markiert. Den einzigen Cairn passierten sie in der Nähe des Cairn Toul - der letzte Gipfel, auf dem sie das GPS führte. Danach streikte leider die Batterie und Janine musste sich auf ihre Instinkte verlassen. Laurel hielt es als Kind des einundzwanzigsten Jahrhundert schlicht für überflüssig, eine Karte mitzuschleppen. Sein Smartphone bekam in diesem Nebel erst gar kein Signal. Die Strecke wurde von den anderen Wanderern im Hostel als lang aber nicht besonders schwierig angepriesen. Der Teil mit dem »nicht schwierig«, wurmte Laurel etwas. Laurel, der immerhin schon auf den Ben Nevis, dem höchsten Berg Großbritanniens gewandert war, hielt sich seitdem für einen mindestens halbwegs erfahrenen Kletterer.
Die Wanderstöcke hatten sie längst an den Rucksäcken verstaut, um die Hände zum Klettern und Abstützen frei zu behalten. Nach einer kleinen Pause, in der sich sämtliche überlasteten Muskeln schmerzhaft bemerkbar machten, kraxelte Janine über eine Rinne, die zu einem dunklen Schemen im Nebel führte.
»Der Klotz da vorne!«, rief sie Laurel zu. »Immer einen Punkt anvisieren und von da aus weiterorientieren!«
»Ja, ja, Frau Bergführerin!«, kam es dumpf aus dem Nebel zurück. Drei Schritte weiter sah Janine nichts mehr von ihrem Freund.
»Laurel!«, schrie sie ins weiße Nichts. Keine Antwort.
Erschöpft hielt sie inne, stützte sich auf ihrem Oberschenkel ab. Sie musterte das bunte Muster aus Flechten, die sich ihre eigene kleine Welt auf die Felsen malten. Janine liebte die schottischen Berge, ganz besonders die Cairngorms. Aber an Tagen wie diesen spürte sie mehr denn je, dass Menschen nicht in diese Welt gehörten. Flechten, Schneehühner und Raben, ja. Menschen, nein.
Flügel müsste man haben, dachte sie.
Sie wäre heute lieber um den Loch Morlich gewandert und hätte das für morgen vorhergesagte bessere Wetter für den Braeriach genutzt. Laurel zuliebe hatte sie nachgegeben. Er war das erste Mal in Schottland und wollte jede Minute nutzen. Zuhause in Berlin hatte er über die »kleinen Huckel« gelästert, die geradezu lächerlich im Vergleich zu den bayerischen und österreichischen Bergen anmuteten, wo er sonst Ski fuhr.
»Laurel!«, schrie sie noch einmal. Durch die schalldichte Watte drang kein Laut an ihr Ohr. Nur Nebel und Steine. Felsen und Watte. Kein Himmel, keine Sonne, kein Cairn, kein Laurel.
Die Stille dröhnte in ihrem Kopf. Der Nebel drang ihr durch die Ohren, die Augen, den Mund. Sie wollte noch einmal seinen Namen schreien, doch Angst steckte als Kloß in ihrem Hals.
»Laurel«, flüsterte sie.
Sie versuchte, die Stelle wiederzufinden, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Das war ebenso hoffnungslos, wie den Klotz im Nebel zu finden, den sie anpeilen wollte.
Eine Stimme in ihr flüsterte: bleib einfach sitzen. Du hast Verpflegung und einen Rest Wasser dabei. Zieh deinen Pulli über und wickel dich in deinen Schlafsack. Der Nebel wird irgendwann verschwinden und dann suchst du Laurel. Er wird in der Zwischenzeit sicher auch nach dir forschen.
Für einen Moment schien es Janine, als ob der Himmel heller würde. Ein Aufleuchten hinter den Wolken. Neue Kraft strömte durch ihre Glieder. Sie zog den Rucksack fester auf ihre Hüftknochen und starrte in die undurchsichtige Suppe. Sah sie dort einen Schatten? Bewegte sich da nicht ein Mensch?
»Laurel!«, flüsterte sie, und lauter: »ich bin hier! Laurel! Hierher!«
Der Schatten kam näher. Janine verharrte auf ihrem Felsen, der ihr Halt gab. Jetzt nur nicht wieder aneinander vorbeilaufen.
Die Umrisse des Schemens sahen nicht nach Mensch aus, stellte Janine fest. Der Gedanke beunruhigte sie. Was gab es denn hier auf dem Berg größeres als einen Menschen?
Ganz gegen ihre Instinkte begann Janine, dem Schatten entgegenzuklettern. Die Müdigkeit wich aus ihrem Körper. Ihr Blut pulste frisch durch die Adern. Ihr Hirn klärte sich von allen Sorgen. Laurel ging es sicher gut. Wenn sie dem Schatten folgte, würde sie den Kamm und die Cairns finden. Beruhigt von diesem Gedanken sprang sie förmlich von Fels zu Fels. Den Rucksack spürte sie kaum.
Sie fühlte sich eins mit dem Berg. Die Steinwüste, die sie eben noch als feindlich erlebt hatte, empfing sie nun wie einen lang vermissten Freund. Janine breitete die Arme aus. »Warte!«, rief sie dem Schatten zu. Tatsächlich schien er sie zu hören. Er verharrte vor ihr. Janine spürte seine erhabene Freundlichkeit. Bei ihm würde sie geborgen sein.
Wenig später erreichte sie den Gipfel des Braeriach. Ein Steinhaufen neben einem Schutzwall aus Steinen. Errichtet von tausenden von Wanderern. Der Nebel sackte soweit ab, dass die Hochebene der Cairngorms aus einem schier unendlichen Wolkenmeer ragte. Über den Gipfeln spannte sich ein strahlend blauer Himmel. Die Sonne stand tief im Osten und vergoldete die Felsen.
Janines Gestalt warf einen Schatten auf das Nebelmeer. Die Sonne spendierte dazu einen strahlenden Kranz um ihren Schattenkopf. Brocken Spectre. Janine erinnerte sich dumpf daran, von diesem Phänomen gelesen zu haben.
Lange Zeit stand sie nur da und trank das Gefühl des Triumphs. Unbeschreiblich. Sie wünschte sich, andere Menschen könnten spüren, was sie jetzt spürte. Dieses Gefühl durchdrang ihre Haut, ihr Fleisch, ihre Seele. Janine bedauerte jene Menschen, die dazu nicht fähig waren. Sehnsüchtig betrachtete sie die anderen Gipfel. Cairngorm, Devils Peak, Carn Toul und all die anderen Geschwister aus Urzeiten. Die Sonne sank unter die Wolken.
Es wurde Zeit, umzukehren. Janine warf dem Rucksack neben dem Gipfelcairn einen bedauernden Blick zu.
Dann breitete sie die Flügel aus und flog davon.