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Brüsseler Nächte
Nacht 231
Anne und ich stiegen an der letzten Haltestelle aus dem Bus, wir waren schon ziemlich spät dran. Die anderen hatten sich bereits vor einer Stunde in der Bar eingefunden, um irgendwas zu feiern. Ich war nicht in allzu großer Feierlaune, hatte mich aber von Anne überzeugen lassen, mitzugehen, da dies immerhin spannender sei als nur im Studentenwohnheim zu sitzen. Und wie oft während unseres Austauschjahres in Brüssel gab ich ihr recht, dass ein, zwei Bierchen im Zentrum eigentlich immer drin seien. Wir waren erst seit einem Tag aus unserem Kurzurlaub auf Ibiza zurück und konnten nicht glauben wie kalt es in Brüssel war, Ende Mai. Unsere frische Bräune unter Jeans, Jacke und Halstuch versteckt liefen wir in Richtung Floris Bar, direkt gegenüber vom weltberühmten Delirium Café. Die Floris Bar gefällt mir besser, weniger Touristen und keine Karaoke im Keller. Der erste Bar-Raum ist hell erleuchtet und mit Restauranttischen versehen, der zweite, der gleichzeitig den Durchgang zum dritten eröffnet, liegt meist in etwas schummrigem Licht da und die Stühle und Tische sind niedrig und schmal. Im letzten Raum kann man sich unter anderem auf Bierfässer setzen und in der Ecke hinten links steht neben dem Kamin ein grinsender Skelettmann im Piratenkostüm. Anne und ich drückten uns durch die stehende und sitzende Kundschaft in den dritten Bar-Raum, wo die anderen neben dem Piraten in der Ecke um mehrere kleine, runde Tische saßen. Auf einem von ihnen stand in großes Glas mit mindestens 10 Strohhalmen. Irgendjemand hatte den legendären Jumbo-Mojito für 25 Euro plus 40 Euro Pfand für das Glas bestellt. Jetzt war es halb leer und alle bester Laune. Diejenigen, die den Minz-Geschmack nicht mochten, hielten sich an Bier und waren bei unserer Ankunft sicher schon bei ihrem vierten oder fünften angekommen. Anne und ich holten uns ebenfalls zwei Cocktails, irgendwas mit Rum drin, und tauschten nach der Hälfte unsere Gläser, so machten wir das immer. Irgendjemand trieb zwei Stühle für uns auf und wir setzen uns, wie es sich für Neuankömmlinge gehört, erst mal an den Rand.
Während Anne sich schon anfing zu unterhalten, beobachtete ich für eine kurze Weile über den Rand meines Glases hinweg den Gast in der Runde, Meldas Schwester Aylin. Anne hatte mir bereits vor unserem Ibiza Trip von ihrem Kommen erzählt. Das Ganze war eine Überraschung für Edoardo, deshalb sollten wir alle bloß den Mund halten. Edoardo war ein süßer Kerl, dunkelhaarig, recht klein und zierlich gebaut, Italiener. Ich interessierte mich schon seit einer Weile für ihn, nachdem er endlich ein wenig aufgetaut war. Am Anfang war ich davon überzeugt gewesen, dass er mich nicht mochte. Ich glaube ich hatte ihn eingeschüchtert, aber unabsichtlich. Ich bin selber schüchtern, was ich aber meistens vor anderen verbergen möchte, woraufhin es dann oft heißt, ich sei unnahbar. Wie man's macht... Edoardo war an diesem Abend jedoch nicht mit dabei, weil er für eine Klausur lernen musste. Ich war also froh mir wenigstens nicht Aylins und sein Geflirte anschauen zu müssen.
Wenn man die Augen schloss und sie nur reden hörte, konnte man Melda und Aylin nicht unterscheiden. Äußerlich ähnelten sie sich jedoch nur bedingt. Meldas Haar war lang, wellig und dunkelbraun, ihre Augen hatten dieselbe Farbe. Aylin hatte sich entschieden „deutscher“ aussehen zu wollen, ihre Haare waren blond gefärbt und kürzer als die von Melda, und aus ihren Augen strahlten unnatürlich blaue Kontaktlinsen. Beide Schwestern hatten jedoch eine ähnliche Figur, üppig, weiblich, „sinnlich“ (nicht mein Ausdruck). Jedenfalls ganz anders als ich.
Ich bin eher klein-kurvig. Und braun, aber braun sagt ja eigentlich niemand. Korrekterweise bezeichne ich mich also als halb schwarz und halb weiß. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater kommt aus dem Kongo. Meine Theorie ist, dass erstgeborene Mädchen sehr oft ihren Vätern viel ähnlicher sind als ihren Müttern. In meiner Familie jedenfalls stimmt das. Ich bin groß und schmal gebaut mit langen Fingern und Füßen, wie mein Vater…also wahrscheinlich nicht ganz so „sinnlich“. Wenn ich einkaufen gehe, schaue nach T-Shirts in Größe XS, alles andere sieht obenrum wie ein Sack an mir aus. Seit ein paar Monaten trug ich nun schon schwarze Rastazöpfe, die mir bis zu den Schulterblättern reichten. An diesem Abend hatte ich sie zu einem Dutt zusammengeknotet und mir ein schmales, seidenes schwarzes Tuch darumgebunden. Anders als die türkischen Mädels lege ich beim Ausgehen kaum Farbe auf, weil ich mir einbilde, dass meine Augen und Lippen dann doch nicht so unsinnlich sind. Tatsächlich hat mir mal jemand gesagt, dass meine Wimpern wie Seide wären. Ich muss eine Grimasse machen, wenn ich daran denke, da man sowas eigentlich nur in Groschenromanen liest. Aber schmeicheln tut es dennoch. Früher habe ich mich mit meinen Zügen oft unwohl gefühlt, weil viele Mitschüler sagten, dass ich „dicke Lippen“ hätte, aber heute bin ich mit ihnen zufrieden, vor allem, weil meine Oberlippe in der Mitte so eine kleine Vertiefung hat.
Während wir uns unterhielten, bahnte sich am Mojito-Tisch langsam so etwas wie eine Orgie an. Leute hingen übereinander und aufeinander drauf und tauschten nicht nur Körperflüssigkeiten aus. Zitronen- und Orangenscheiben wurden ebenfalls mit Hilfe von Zungen und viel Speichel von einer in die andere Mundhöhle befördert. Wenig später stand ein weiteres mit 5 Liter Mojito gefülltes Glas auf einem der runden Tische. Alle paar Minuten liefen einige der Mädchen aufs Klo und manchmal ging einer der Jungs mit, so einmal auch bei Aylin. Melda hatte wohl trotz allem nicht ihre Pflichten als große Schwester vergessen und lief ihr hinterher. Anne war schon ziemlich genervt von dem ganzen Spektakel, während ich nur dachte, dass es zwischen Aylin und Edoardo also doch nicht so ernst sein kann, was mich direkt etwas fröhlicher stimmte. Um Anne etwas zu besänftigen, sagte ich zu ihr, dass wir einfach noch nicht betrunken genug seien, und wir überlegten uns noch einen Cocktail zu holen, aber dann hieß es plötzlich, dass wir jetzt noch woanders hingehen würden. Auch davon war Anne wenig begeistert und ich war langsam etwas genervt von ihrer Lustlosigkeit. Normalerweise war sie nicht so, sie vertrug viel mehr Alkohol als ich und war eigentlich immer feierbereit. Den Abend hier beenden wollte sie schließlich doch noch nicht und so zogen wir mit der betrunkenen Meute weiter.
Tröpfchenweise landeten wir an der Bourse, einige waren schon zu McDonald’s vorgegangen, andere lachten sich noch weiter hinter uns über irgendetwas schief. Plötzlich hing sich Aylin an meinen Arm und sagte mir, wie hübsch ich wäre und fragte, wie es auf Ibiza gewesen war und war eigentlich wirklich sehr nett. Ich erzählte ihr kurz, dass es schön gewesen sei, viel Meer und Sonne und so, und versuchte dann, das Thema auf sie und Edoardo zu lenken. Ja, sie sei extra nur für ihn hergekommen...natürlich aber auch um Melda zu besuchen. Er sei zu Hause, lernen. Er dürfe nicht wissen, dass sie gerade so betrunken war, denn dann würde er sich Sorgen um sie machen, da sie ja jetzt quasi schutzlos und mit berauschtem Kopf in der Anwesenheit so vieler Männer durch die Stadt lief. Ich würde ihm doch nichts verraten, oder? Nein, nein, versicherte ich. Ich hatte eigentlich wirklich nichts gegen Aylin, sie schien nett und ich hatte mich wirklich über ihr Kompliment gefreut. Sie war quirlig und laut, das krasse Gegenteil zu Edoardo. Ich glaube, dass er und ich uns viel zu ähnlich waren, als dass jemals etwas hätte aus uns werden können. Wir waren beide einfach viel zu zurückhaltend, um den ersten Schritt zu machen, obwohl wir wussten, dass wir uns irgendwie schon sehr mochten. Aber Edoardo war an diesem Abend nicht da und ich wollte nun auch nicht weiter an ihn denken.
Nach einem betrunkenen Umweg, landeten wir schließlich im Mezzo, Meldas Lieblingsclub, meiner übrigens auch und eigentlich der jedermanns. Im Grunde ist das Mezzo eine Bar mit Tanzfläche, also recht klein und immer proppenvoll, sodass oft kaum Platz zum Tanzen bleibt. Aber das Bier ist günstig und die Musik, wenn auch nicht unserem privaten Geschmack entsprechend, meistens sehr tanzbar. Auch an diesem Abend war es brechend voll und wir kämpften uns einen Weg durch die sitzenden oder stehenden, biertrinkenden oder tanzenden Menschen. Einen Teil der Gruppe verlor ich schnell aus den Augen, ich war mir nicht mal sicher, ob sie mit reingekommen waren. Um mich herum sah ich aber Anne, Melda, Aylin und zwei oder drei der italienischen Jungs, die mitgekommen waren, da ihre Klausuren erst später anfingen. Eine Weile standen Anne und ich erst mal nur am Rand. Zum Tanzen gab es einfach keinen Platz und der verbliebene Rest unserer Gruppe drohte gerade sich noch weiter aufzulösen, weil alle schon wieder aufs Klo mussten. Ich stand also direkt am Übergang der Bar zur Tanzfläche und schaute ein wenig durch den Raum, um zu sehen, wer heute so alles da war. Plötzlich tauchte links von mir ein großer, schlanker Kerl mit einem auffälligen rot-schwarz-karierten Hemd auf, blieb stehen und ließ seinen Blick ebenfalls über die Menge fahren. Ich mag Männer in karierten Hemden, ich glaube die sind wieder ziemlich in. Ob dies allerdings auch diesem Typi (Annes Berliner Bezeichnung für ins Auge fallende Männer) klar war, bezweifelte ich. Er sah so aus als ob er es einfach trug, weil es ihn nicht scherte, was er trug. Im Halbdunkeln erkannte ich sein Gesicht nicht klar und es war auch eher die innehaltende Bewegung seines Kopfes und seiner Schultern, die mir klarmachte, dass er mich gerade ebenfalls bemerkt hatte. Er trat einen Schritt näher und drehte seinen Kopf nun absichtlich in meine Richtung. Sofort fühlte ich ein Magensausen und schaute weg; einen Augenblick später war er wieder verschwunden. Ich dachte mir, dass er wohl seine Freunde nicht gefunden hatte und jetzt woanders nach ihnen suchen würde. Das ganze hatte nur ein paar Sekunden gedauert und ich drehte mich wieder zu den anderen.
Anne guckte schon wieder ziemlich miesepetrig drein, aber ich hatte wirklich Lust noch zu bleiben und zu tanzen. Der Kurze Blickkontakt mit dem Karo-Hemd gerade hatte mich wieder etwas jagdfreudiger gemacht und ich entscheid, dass an diesem Abend noch etwas passieren würde. Andererseits wollte ich Anne aber auch nicht alleine in der Ecke stehen lassen und fragte sie schließlich direkt, was los sei. Sie zuckte mit den Schultern und antwortete, dass sie es selber nicht genau wisse, sie wäre heute einfach nicht in der Stimmung zum Tanzen. „Ich glaube ich gehe nach Hause“, sagte sie und sah mich erwartungsvoll an. Wahrscheinlich hoffte sie, dass auch ich den Abend für beendet erklärte und einen Augenblick erwog ich schon, mit ihr zu gehen, aber dann dachte ich, dass man auch für seine Freunde nicht immer auf etwas verzichten musste. Ich konnte ja nichts dafür, dass Anne nicht gut drauf war. Es tat mir leid für sie, aber ich wollte bleiben. Das sagte ich ihr auch und einen Augenblick lang sahen wir uns nur an. Dann murmelte sie mit einer Mischung aus Beleidigung und Resignation „okay“, verabschiedete sich von mir und den Umstehenden und ging. Zuerst bereute ich es ein wenig, nicht doch mit ihr gegangen zu sein, da inzwischen zwar fast alle wieder da waren, mir aber jetzt erst richtig klar wurde, dass ich viele von ihnen ja kaum kannte. Und plötzlich war mit Annes Abgang auch die Verbindung zwischen mir, Melda und in gewisser Weise auch Aylin verschwunden, und die beiden waren nun mal der Mittelpunkt der Gruppe. Melda und ich waren nicht wirklich befreundet und wir kannten uns auch nur durch Anne. Aylin war inzwischen sowieso damit beschäftigt, immer betrunkener zu werden. Am Ende rief sie dann noch Edoardo an, der allen Ernstes um zwei Uhr nachts auftauchte, um sie zu „retten“. Ich stand da und sah ungläubig zu, wie Edoardo sich durch die Menge zwängte, Aylin umarmte und sie dann ohne viele Worte an die anderen zu richten mit nach draußen nahm. Sie kamen nicht wieder herein. Jetzt war also auch noch Aylin weg. Ich tanzte ein wenig auf meiner kleinen, freien Stelle und konzentrierte mich einfach auf die Musik anstatt darauf, dass fast alle Menschen neben mir Unbekannte waren und sie sich auch nicht weiter um mich zu kümmern schienen. Melda tanzte irgendwo ein paar Meter neben mir mit einem Jungen, den ich ebenfalls nicht kannte. Ich entschloss also, um der Peinlichkeit zu entfliehen, auf die Toilette zu gehen und danach ebenfalls nach Hause zu fahren. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um mir vorab visuell einen Weg durch die tanzende Menge zu bahnen, als plötzlich ein schmaler, fester Oberkörper neben mir auftauchte und sich an mir vorbeizwängte.
Er nimmt wieder meine Hand und führt mich zurück zur Tanzfläche. Ich lasse ihn einfach machen und erwäge nur kurz, dass wir uns überhaupt nicht kennen. Dann entscheide ich, dass keine Gefahr von ihm ausgeht. Er bringt mich nicht dorthin zurück, wo wir uns zuvor gesehen haben, sondern bleibt auf der anderen Seite des Raumes stehen, ganz in der Nähe des DJ Pults. Dann lässt er meine Hand los und beginnt sofort, wie ein Irrer zu tanzen. Ich tanze selber sehr gerne und freue mich immer, wenn andere Leute ebenfalls ihre Begeisterung zeigen, aber ich habe noch nie einen Mann so tanzen sehen und muss lachen. Mit seiner Art schüchtert er mich alten Tanzhasen sogar ein, doch ich versuche mitzuhalten. Sein Tanzstil ist nicht wirklich passend zur Musik, aber er scheint Spaß zu haben und ich merke, dass ich mit meinen coolen Moves nicht weit komme, wenn ich mit ihm zusammen tanzen möchte. Die übervolle Tanzfläche presst uns aneinander und jetzt sehe ich sein Gesicht ganz nah, eigentlich zu sehr, um es wirklich klar zu erkennen. Ich lehne mich etwas zurück und mache braune, dichte Locken aus, die vorne ein wenig über seine Stirn hinausragen. An den Seiten seines Gesichts geht sein Haar in einen leichten, etwas stoppeligen Bart über. Er hat lachende Augen, eine lange, schmale Nase und seine Lippen sind weder dick noch dünn aber dafür ist sein Mund breiter als meiner. Er merkt, wie ich ihn mustere, da er wahrscheinlich dasselbe bei mir macht. Fast sofort küssen wir uns. Zuerst ist es kein besonderer Kuss, sondern einer dieser wir-sind-in-einem-Club-und-kennen-uns-nicht-aber-na-und? Sorte. Ich habe Lust darauf und genieße die Gleichgültigkeit. Trotz unserer lustigen Begegnung und seiner Showeinlage vor dem Klo, trotz seines bemerkenswerten Tanzstils und seines Karohemds bin ich immer noch Herrin der Lage.
Das nächste Lied wird gespielt, neben uns kommen und gehen Leute. Wir küssen und tanzen und drehen uns weiter. Irgendwann stehe ich mit dem Rücken zu ihm und lasse ein wenig meine Hüften kreisen, aber nicht zu sehr…schüchtern, wie gesagt. Da es sehr voll und warm ist und wir nicht aufhören zu tanzen, schwitze ich ein wenig. Ob er wohl etwas bemerkt? Ich hatte morgens geduscht und vor dem rausgehen nur Deo nachgesprüht, aber das war jetzt schon wieder Stunden her. Dann zieht er auch noch meinen rechten Arm in die Luft und ich rieche mich selber, eine Mischung aus dem Duft des Deos und Discoschweiß. „Na toll, warum hab ich mich ausgerechnet heute nicht erst direkt vor dem Ausgehen geduscht?“ fragt mein Ich für Selbstgespräche (IfS). Doch das Karo-Hemd sagt nur: „Tu sens bon“. Zuerst denke ich, dass er das nur ironisch meinen kann, aber dann dreht er mich wieder zu sich und küsst mich erneut und mein IfS sagt „merci.“ Plötzlich bewegt er sich nach unten, geht sogar ganz in die Hocke und zieht mich an meinen Armen mit, sodass ich, während wir uns weiter küssen, plötzlich mit meinem Oberkörper nach vorne und nach unten gebeugt dastehe, wobei mein Hintern total unelegant hinter mir in die Höhe ragt. Er hat seine Augen geschlossen und scheint die Situation zu genießen, aber ich stelle mich fast sofort wieder auf, da ich peinlich berührt denke, wie bescheuert ich in dieser Stellung aussehen muss. Aus den Augenwinkeln merke ich, wie die Leute direkt neben uns, zwei Frauen links, ein Mann rechts, uns anschauen, und ich bin froh, dass ich wieder gerade stehe.
Er folgt meiner Bewegung und ragt wieder über mich hinaus. Ein paar Sekunden schaue ich einfach auf seine Brust. Jetzt sehe ich auch die Details des Karo-Musters, die Streifen verlaufen von oben nach unten. Schließlich hebe ich meinen Kopf wieder in seine Richtung und er neigt seinen weiter nach unten. Dann nimmt er mein Gesicht in beide Hände, sodass ich es nicht mehr zur Seite bewegen kann, und schaut mich einfach an. Zum ersten Mal sehe ich wirklich sein Gesicht von einer guten Entfernung, die Scheinwerfer hinter mir strahlen es an und irgendwie haut es mich um, wie unglaublich fröhlich und glücklich der Typi in diesem Moment aussieht. Sein Grinsen zieht seine Lippen auseinander und ich sehe gerade, weiße Zähne. Seine Augen sprühen vor Fröhlichkeit und er sieht so aus, als ob er gerade unglaublich glücklich ist, mich getroffen zu haben. Ohne zu blinzeln, ohne sich zu bewegen schaut er mir direkt in meine Augen. Wie ich gucke weiß ich nicht, ich weiß nur, dass das zu viel für mich ist. Ich verstehe nicht, was dieser Blick bedeutet und will auf keinen Fall zu viel hineininterpretieren. Nach ein paar Sekunden schaue ich weg, links vorbei an seinem Kopf, an die Decke. Ich höre ihn lachen, während er weiter mein Gesicht festhält und seinen Kopf dann auffällig in die Richtung dreht, in die ich gerade geschaut habe, so als ob es dort irgendwas Besonderes zu sähen gäbe. Dasselbe macht er auch noch mal nach auf der rechten Seite. Er äfft mich nach, aber auf eine liebevolle Art, sodass ich über mich selbst lachen muss. In diesem Moment steht für mich fest, dass dieser Typi genau mein Fall ist.
Anne und die Anderen habe ich längst vergessen. Ich frage mich kurz, ob sie sich fragen, wo ich bin, aber dann ist es mir egal. Von rechts kommt plötzlich jemand auf uns zu und spricht ihn...ich kenne seinen Namen noch nicht...an. Die beiden reden kurz, ich verstehe nicht genau was, dann werde ich vorgestellt. Auch er kennt meinen Namen noch nicht, und so sag ich ihn laut und deutlich für beide, während ich dem Neuankömmling die Hand schüttele. Mir wird zu verstehen gegeben, dass die beiden alte Freunde sind und sich seit vier Jahren nicht mehr gesehen haben, und was es für ein Zufall es sei, dass sie ausgerechnet jetzt, ausgerechnet heute beide hier wären. Ich schaue in der Zwischenzeit auf die Uhr und merke, wie spät es inzwischen geworden ist. Wenn ich meinen letzten Bus noch kriegen will, muss ich jetzt gehen. Der Kumpel ist wieder in der Menge verschwunden und die Aufmerksamkeit wieder auf mich gerichtet. Er fragt mich noch mal wie ich heiße, daher wiederhole ich meinen Namen (frag aber warum auch immer nicht nach seinem) und gebe ihm auch meine Handynummer. Dann sage ich, dass ich leider gehen müsse, um den letzten Nachtbus zu erwischen. Ich will nicht wirklich gehen, aber andererseits hat die kurze Unterbrechung mich wieder ein wenig auf den Boden gebracht. Nach einer kurzen aber freundlichen Verabschiedung hole ich meine Tasche und meine Jacke und verlasse das Mezzo in Richtung Bushaltestelle La Bourse.
Am nächsten Tag, es war ein Samstag, erwachte ich um die Mittagszeit. Wie immer nach einer Feiernacht am Wochenende genoss ich es, so lange im Bett lümmeln zu dürfen, wie ich wollte. In meinem Radiowecker erzählte irgendein belgischer Comedian eine Geschichte über Merkel und Obama und versuchte dabei seinen besten ausländischen Akzent. Die Sonne schien durch einen Schlitz in den gezogenen, dunkelorangenen Vorhängen vor meinem Fenster, doch ich wusste, dass es nicht besonders warm sein würde. An diesem Tag jedoch war es mir egal, denn ich hatte mir für den Nachmittag etwas vorgenommen, was zum Glück drinnen stattfand. Anfang der Woche hatte ich auf Facebook gelesen, dass Stromae, der aktuell bekannteste Popsänger aus Belgien (und ganz nebenbei mein zukünftiger Ehemann, er wusste es nur noch nicht) um 15 Uhr eine Autrogrammstunde im Media Markt in der Rue Neuve veranstalten würde. Bevor ich nach Brüssel gekommen war, hatte ich recherchiert, dass Stromae immer noch in der Stadt seiner Kindheit lebte und ich wollte unbedingt versuchen, ihn irgendwie zu treffen, auch wenn es eine unrealistische Hoffnung war. Nach 8 Monaten in Brüssel sollte es nun tatsächlich soweit sein, wenn auch in einem Elektronikmarkt, im Beisein von 200 anderen Menschen. Aber ich würde ein Foto mit ihm schießen können und ein Autogramm auf meine CD gekritzelt bekommen, also besser als nichts. Da es schon 12.30 Uhr war, musste ich mich etwas beeilen, ich wollte noch duschen und essen und musste dann ja auch noch in die Stadt fahren. Ich schlug die Decke zurück, setzte mich auf die Bettkannte und nahm mein Handy vom Nachtisch rechts neben meinem Bett. « 1 message reçu » stand da, sobald ich die Tastensperre aufgehoben hatte. Ich fragte mich, ob sie vielleicht von Anne war, aber als ich sie öffnete, las ich in der Absenderzeile das Wort „sebastricht“. Zunächst konnte ich mir keinen Reim darauf machen und fragte mich, wer das war bzw. was das heißen sollte, doch nach den ersten paar Wörtern wurde mir klar, dass es eine Nachricht des Typi von gestern Nacht war. So schnell hatte ich gar nicht damit gerechnet und war ziemlich erstaunt.
Die Nachricht war am 28.05. um 07:02 und 37 Sekunden abgeschickt worden. Der Typi war wohl erst sehr spät ins Bett gekommen…
Ich las mir die Nachricht noch einmal durch und dann noch ein drittes Mal. Ich wusste nicht, ob ich sie aufdringlich oder einfach nett finden sollte. Dass er sich so schnell melden würde, hätte ich nicht gedacht und fühlte mich einerseits geschmeichelt. Vielleicht fand er mich tatsächlich so gut, interessant, hübsch oder was dieser Blick von gestern auch immer ausgedrückt haben mochte. Andererseits, wie immer, wenn jemand so direkt mit seinen Absichten mir gegenüber war, regte sich Skepsis in meinem Bauch. Nach diesem einen, kurzen Treffen, bei dem wir uns noch nicht einmal richtig unterhalten hatten, schreibt er mir um 7 Uhr morgens eine Nachricht und will mich also direkt heute schon gerne wiedersehen und besser kennenlernen? „Das kann eigentlich nur ‚ich würde dich gerne in meinem Bett wiedersehen‘ heißen“, ätzte mein IfS. Ich entschied also, dass mir das ganze so doch etwas zu schnell ging und schrieb zurück, dass ich heute leider schon etwas vorhabe und morgen wegen eines wichtigen Arzttermins nach Deutschland fahren würde (das stimmte auch). Ich würde mich wieder melden, sobald ich zurück in Brüssel sei. Kurz darauf antwortete er, dass er damit einverstanden war. Ich stand auf, duschte und zog mich an. Wenig später war ich auf dem Weg in die Stadt und mit den Gedanken ganz bei Stromae. Sebastian (so hieß er also) sollte erst mal Nebensache bleiben. Trotzdem freute ich mich darüber, in den nächsten Tagen sehr wahrscheinlich ein „Rendezvous“ zu haben, im Frühling, in Brüssel.