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- 16.12.2001
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Brüder
Die beiden Brüder wussten nicht, wie sie in jene kleine Kammer gekommen waren. Jetzt darf man sich unter dem Begriff Kammer keinen Raum mit zwei Betten mit einem Fenster und einer Türe, beide vergittert, der wie die typische Ausnüchterungszelle eines amerikanischen Hollywoodfilmes aussieht, auch wenn hier die Insassen ebenfalls manchmal nicht über ihr „Dorthinkommen“ Bescheid wissen. Vielmehr glich die Kammer mit ihren unregelmäßigen Wänden und dem unebenen Boden einer engen Höhle. Allerdings war der (Bau?) (Unterschlupf?) nicht aus massiven Fels herausgeschlagen, sondern die Höhle selbst schien etwas Lebendiges zu sein und die Mauern fühlten sich weich an, schwammig. Dunkles, blutrotes Licht sickerte aus den Wänden und verdunkelte die Finsternis eher, als dass sie diese aus der Höhle verbannt. In diesem Zwielicht erkannten die beiden Brüder, dass es dem Raum nicht nur an jeglichem Mobiliar fehlte, sondern dass es nichts in der Höhle gab. Auch fehlte es an einer Türe oder einem sonstigen erkennbaren Ausgang, um diesem Gefängnis zu entkommen, denn als eben solches sahen sie die Höhle an. Sie war so winzig, dass sie beinahe zusammenstießen, selbst wenn sie sich an gegenüberliegende Wände drängten. Trotzdem vermieden sie jeglichen Hautkontakt (tatsächlich, sie waren nackt) mit den Mauern, denn sie strahlten eine (gefährliche?) unbequeme Hitze aus, die ihre Haut verbrennen wollte. Manchmal kamen sie sich derart nahe, dass sie sich selbst an ihren intimsten Stellen berührten. Außerdem pochte die gesamte Höhle im unbekannten Rhythmus eines riesigen Herzens, zog sich zusammen, dehnte sich wieder auseinander. Den Brüdern war, als würde sie sich mit jedem Schlag etwas weniger ausdehnen, aber dies konnte schlicht eine einfache Reaktion auf ihre (ewig-) lange Gefangenschaft sein.
Sie hatten nicht nur keine Ahnung, wie sie in diese Lage gekommen waren, sondern sie wussten nicht einmal was davor war. Sie kannten kein vorher. Die Höhle schien ihre gesamte Existenz eingefangen zu halten, auf diese winzige Zelle zu komprimieren. Wenn es schon kein davor gab, so muss es wenigstens ein danach geben, das erkannten sie.
Im Augenblick ( und ein Augenblick konnte dort drinnen verdammt lange andauern ) war das alles völlig egal, sowohl ihre Vergangenheit wie ihre Zukunft. Einzig die Gegenwart hatte Bedeutung. Und ihre Gefühle. Was auch sonst, ohne jeglicher Erinnerungen an bereits Geschehenes? Sie hatten beide die gleichen Emotionen, oder hatten etwa die Emotionen sie? Und die Gefühle hießen Hass und Liebe, jenes ungleiche Paar, wo einer nicht gegensätzlicher sein kann zum anderen, und das doch nie getrennt war.
Und beide Brüder hatten eben diese Empfindungen. Die Liebe zu einer Frau und der Hass aufeinander. Und dies war ihr einziges Wissen, das sie hatten. Oder handelte es sich gar um angeborene Instinkte, die sie diese Gefühle spüren ließen? Auch das zählte nicht. Einzig, dass es sie gab.
Müde umkreisten sich die beiden Brüder, darauf achtend, nicht allzu oft an die Kerkerwände zu stoßen. In ihrer Ermattung hatten sie das Gefühl, nicht auf dem Boden zu gehen, sondern wie in Trance über diesem zu schweben, so als würden sie in einer zähen Flüssigkeit schwimmen. Doch keiner der beiden wollte der erste sein, der sich zum Schlaf niederlegt, keiner wollte dem anderen den Rücken zukehren oder auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen. Und so drehten sie sich im Kreis, herum und wieder herum, zwei Tänzern gleich, die sich zum Rhythmus des Schlagens bewegten.
Und doch war es irgendwann so weit, und einer der beiden sank vor Erschöpfung an die Wand.. Der andere, ganz vertieft in den ( doch nicht ) endlosen Reigen, wäre beinahe über ihn gestolpert, hatte Mühe, seinen Sturz mit den Händen abzufangen. Und da fühlte er unter seinen Fingern etwas Langes, Dünnes unter der schwammigen Schichte am Boden. Entschieden schloss er seinen Griff um den Gegenstand und hob ihn hoch, erkannte, dass er ein (Seil?) in Händen hielt, das das gleiche rote Licht aussendet wie die gesamte Höhle, nur irgendwie fließender. Die Schnur festhaltend stellte er sich über seinen Bruder und senkte seine Arme zu dessen Hals. Dieser schien die Gefahr zu erkennen, und versuchte, trotz der überwältigenden Müdigkeit ein letztes Mal, sich hochzustemmen, krallte seine Finger in die Wände und riss diese weit auf, sodass das rote Licht hereinfloss. Doch die Schlinge lag bereits zu eng um seine Gurgel und er blieb endgültig liegen.
Und der Boden öffnete sich unter den beiden Brüdern und grelles, weißes Licht durchbrach die Düsternis. Der Gewinner des Kampfes ließ sich durch das Loch fallen.
Zu Beginn hat alles nach einer reibungslosen Zwillingsgeburt ausgesehen, als das erste Kind geboren wurde, selbst hier heraußen in der kanadischen Wildnis, ohne Ärzte oder Hebammen. Doch das zweite Baby nahm eine denkbar ungünstige Lage in der Gebärmutter ein. Nicht nur, dass es sich dabei offensichtlich selbst mit der Nabelschnur erdrosselte, erlitt meine Frau derart schwere innere Verletzungen, sodass sie nur wenig später an den Folgen der Geburt starb.
Ich liebe meinen Sohn. Ich liebe auch meine Frau, obwohl sie bereits seit mehreren Jahren begraben liegt unter der Birkengruppe dort drüben. Liebe und Hass. Hass und Liebe. Das eine nicht ohne dem anderen.
Ich hasse mich selbst.