Bosnische Realität
Kurz vor Sonnenaufgang überquerte der Bus die gerade neu errichtete Brücke über den Fluss Sava, Grenze zwischen Kroatien und dem jetzt serbisch besetzten Teil Bosniens. Stundenlang hatte ich schon nach den Narben des Krieges Ausschau gehalten, richtete meine Augen aufmerksam in das undurchdringbare Dunkel der Nacht, in der Hoffnung, jene Bilder der Kriegsberichterstattung selbst zu sehen, die jahrelang über österreichische Bildschirme geflimmert waren. Aber außer einer tristen Ebene, die meine Reise stundenlang begleitete, war nichts zu erkennen.
Der Himmel zeigte im Osten einen leichte Grauschimmer, als der Bus kurz nach der serbischen Grenze hielt und die beiden Chauffeure, zwei streng gläubige Moslems, ausstiegen, um ihr Gebet zu verrichten. Und während ich ungeduldig auf die Weiterfahrt wartete, wusste ich gar nicht, wie nötig auch ich so ein Gebet gehabt hätte, um auszuhalten, was sich wenig später vor meinen Augen auftat.
Saftig grün erstreckte sich in leichten Hügeln, stets stark bewaldet in erstaunlicher Üppigkeit das bosnische Land entlang der Straße, die sich wie der einzig richte, da einzig sichere Weg durch die von den Serben hinterlassene Zerstörung zog. Wie aufgerissene Wunden kamen mir die Ruinen ehemals bewohnter Häuser vor, die in nicht mehr enden wollender Regelmäßigkeit die Route säumten. Leere Fensterhöhlen starrten mir entgegen, mit einer dermaßen eisigen Kälte, dass es mir einen fürchterlichen Schauer über den Rücken jagte. Oder war es die zu stark aufgedrehte Klimaanlage im Bus, die mich erzittern ließ? Wohl kaum, denn noch nie zuvor hatte mein an Idylle und Harmonie gewöhntes Auge so viel Verwüstung wahrgenommen, nie zuvor war ich so hautnah an der herzzerreißenden Leidensgeschichte eines Volkes. Mahnenden Fingern gleich reckten sich die zerfetzten Überreste hölzerner Dachbalken gegen den Himmel, wohl um mir die einzig mögliche Fluchtrichtung für die verzweifelten Menschen zu zeigen: den Himmel selbst.
Es war nicht schwer, diese von abgrundtiefem Zynismus geprägte Stimmung aufkommen zu lassen, denn gemeinsam mit jenen Geschichten der serbischen Brutalität und Grausamkeit ergaben diese Bilder ein Kino im Kopf, wobei hier ein Film lief, der mir an die Substanz ging. Bröckelndes Mauerwerk, von Maschinengewehrsalven durchlöchert, aufgerissene Dachstühle, einige lose Dachziegel, die sich wie durch ein Wunder an den hölzernen Balken gehalten hatten mitten in der makellosen Pracht dieses Landstrichs, dessen Natur es ihren bosnischen Bewohnern vormachte und mit ihrer grünen Herrlichkeit gegen die serbische Besatzung Widerstand leistete. Als wäre nie etwas geschehen, bildete die unbeschädigte Landschaft hier die Kulisse für das grausamste und längste Gemetzel in Europa seit dem zweiten Weltkrieg. Und wie zum Spott erhob sich ausgerechnet zwischen den am wüstesten zerstörten Häusern, die als solche gar nicht mehr zu bezeichnen waren, eine neue wunderschön gestaltete serbisch-orthodoxe Kirche.
Angesichts dieser so selbstredenden Momentaufnahme blieb mir sogar der entsetzte Aufschrei im Hals stecken. Doch hatte ich nicht die Zeit, lange über den himmelschreienden Hohn der serbischen Besatzer nachzudenken, denn schon lenkte ein anderes Bild die Aufmerksamkeit auf sich. Ein einstmals recht kleiner Dorffriedhof wucherte in nicht mehr überschaubarem Ausmaß und okkupierte mit seinen dicht an dicht stehenden Gräbern einen ganzen Wald. Ich musste nicht genau hinsehen, um zu erkennen, dass all die Grabsteine neu waren und an die zahllosen Opfer des Bruderkrieges hier am Balkan erinnerten. Einige Meter weiter erzählten von Einschusslöchern in erschreckender Regelmäßigkeit durchsiebte Häuserfronten das letzte Kapitel dieser Geschichte.
Jene Bauten waren inzwischen wieder bewohnt, rundherum hatte man Gärten angelegt, auf den Balkonen hing Wäsche und Satellitenschüsseln thronten auf Mauervorsprüngen. So gut es ging hatte man die Spuren des Krieges verwischt, führte vordergründig wieder ein ganz normales Leben. Doch etwas blieb zurück – und es mag sein, dass es auch die Absicht der Menschen war, diese Mahnmale der Brutalität zu lassen, wo die Serben sie gesetzt hatten, um harmonieverwöhnte Leute wie mich daran zu erinnern, womit dieser Krieg begonnen hatte: nämlich mit Kugeln aus einem serbischen Gewehrlauf.