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Bordsteinschwalbe
Bordsteinschwalbe
Die ersten Sonnenstrahlen wecken mich. Wecken mich aus einer Mischung zwischen Schlaf und Ohnmacht.
Ich blinzle vorsichtig. Wo bin ich eigentlich? In irgendeiner Gasse, in irgendeiner Straße, in irgendeiner Stadt. Keine Ahnung wie ich hierher gekommen bin. Vielleicht war ich zu betrunken, so dass ich gar nichts mehr bemerkt habe.
Am liebsten würde ich liegen bleiben und einfach sterben! Aber leider ist mir dieses Glück nicht vergönnt. Ich darf nicht sterben - auch wenn mein Tod wahrscheinlich nicht mehr lange auf sich warten lässt.
Jetzt ist es erst einmal wichtiger herauszufinden wo ich, verdammt noch mal, eigentlich bin! Ich versuche meine Orientierung wiederzugewinnen oder mich zumindest an irgendetwas von letzter Nacht zu erinnern.
Nichts. Kein Wortfetzen aus irgendeinem Gespräch, kein Gesicht, keine Handbewegung, rein gar nichts.
Nach einem Straßenschild suchend fluche ich still vor mich hin. Erst nach einigen Minuten finde ich heraus wie diese verteufelte Stadt heißt – und wie weit sie von dem Ort weg ist an dem ich jetzt eigentlich sein sollte.
Irgendwie muss ich nach hause kommen. Geld? Ich habe nichts bei mir gefunden als ich aufgestanden bin. Warum auch? Wer sollte mich bezahlen,wenn ich sowieso zugedröhnt bin und nichts mehr merke?
Auch wenn es mir nicht passt- ich werde wohl laufen müssen. 10 km! Na ja die werde ich auch überwinden- vielleicht finde ich irgendwo Kundschaft- obwohl das bei helllichtem Tage sehr unwahrscheinlich ist.
Oh ja! Ich kenne euch alle! Tagsüber die braven Bürger, eine perfekte Familie mit einer perfekten Frau und zwei perfekten Kindern! Hübsche Häuser und gepflegte Vorgärten. Tiere und ein Swimmingpool. Nichts darf eure Fassade von der glücklichen Familie beschmutzen. Vor allem nicht jemand wie ich! Zu mir kommt ihr nachts, wenn ihr glaubt, dass Keiner euch sieht. Mit mir lebt ihr eure perversen Fantasien aus, die sich während eures Schauspiels ansammeln. Eine sehr schöne, sehr brüchige Fassade! Ha, wenn eure Lieben nur wüssten... .
Ich komme an einigen dieser Musterhäuser vorbei, werde angestarrt wie eine Außerirdische. Ich weiß, dass sie flüstern, aber es stört mich nicht. Ja, seht mich an! Der Abschaum dieser Welt! Eurer Welt. Eine Welt die ich nie kennenlernte.
Meine Welt bestand immer aus Diebstahl, Hurerei... und Mord. Mord an vielen die mir nahe standen. An meiner Mutter... .
Ich muss schlucken. Selbst so hartgesottene Menschen wie ich können nicht Alles ertragen. Ich habe nur noch sie- nur noch Sophie. Meine Schwester. Meine kleine Schwester. Sie ist der einzige Grund warum ich mein Leben nicht beende- auch wenn es so einfacher wäre.
Ich muss lächeln wenn ich an sie denke. Sie ist so klein, unschuldig- noch nicht verdorben von dieser Welt. So gern würde ich ihr ein besseres Leben ermöglichen. Ich träume oft davon, dass wir zusammen von hier wegkommen. In eine bessere Welt. Eine Welt in der ich einen richtigen Beruf habe, sie in eine richtige Schule gehen kann, wir richtige Freunde finden...
Aber was ist eigentlich richtig und was falsch? Viele Leute würden sagen, dass es falsch ist was ich mache. Nur die Leute die mich oder meine Situation kennen würden sagen es sei richtig. Kommt es also auf die Perspektive an? Oder gibt es doch die ultimative Formel für Alles Richtige oder Falsche?
Gedanken wie dieser reißen mich meist aus meinen wunderschönen Tagträumen und die grausame Realität stürzt wieder auf mich ein. Die Realität in der ich froh bin, wenn wir Essen haben, wenn wir die Miete bezahlen können. Nur ein Gedanke ist noch schmerzlicher als der von meiner aussichtslosen Lage: meine Zukunft. Ich weiß nicht wie lange ich noch für meine Schwester da sein kann.
Ich habe es von meiner Mutter geerbt. Sie hat es wahrscheinlich von einem Freier. Da mein Vater kurz nachdem er die Nachricht von der Schwangerschaft meiner Mutter bekommen hatte abgehauen ist, habe ich ihn nie kennen gelernt. Und ich will ihn auch nicht kennen lernen. Was eigentlich nur allzu verständlich ist, oder?
Alles was ich will ist diese verdammte Krankheit loszuwerden. Doch da es keine Gegenmittel gibt, vor allem nicht für jemanden wie mich. Ich sieche dahin, ich verrotte innerlich und es gibt nichts was ich dagegen tun kann! Nichts....
Es ist ein scheußliches Gefühl zu wissen, dass man sterben muss aber nicht wann es passiert. Schulden, den Tod vor Augen, Angst – nur meine kleine Schwester hält mich aufrecht. Sie weiß noch nichts von meinem Schicksal, das sie zum Glück nicht teilt. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie ebenfalls so leiden muss.
Den Rest des Weges lege ich zurück ohne mir Gedanken über irgendwas zu machen. Es fällt mir zwar nicht leicht, aber irgendwann muss auch ich mir etwas Ruhe gönnen. Stumme Tränen rinnen meine Wangen hinunter. Sonst verbiete ich sie mir doch jetzt kann mich niemand sehen – vor allem nicht Sophie. Wenn ich wieder zu hause bin muss ich lächeln, stark sein so lange ich noch kann – für meine Schwester....
The End