Borderland
Keine Tränen mehr. Nichts, um den Schmerz in ihr zu dämpfen, diesen unerträglichen Schmerz, der ihr den Hals zuschnürte, bis sie glaubte, ersticken zu müssen. Quälende Gedanken, die ihr fast den Kopf sprengten, sich aufblähten, bis sie kaum noch unterscheiden konnte zwischen Realität und Wahnvorstellung. Wie besessen lief sie in der Wohnung auf und ab, schlug mit Armen und Beinen gegen Türrahmen und Tischkanten. Blaue Flecken, morgen. Blinde, nackte Panik, die sie in immer tiefere Abgründe schleuderte. Kalt und hart ihr Herz, ein kleiner Klumpen aus Eis, der wie ein Fremdkörper gegen ihre Rippen hämmerte, Blut, das so laut durch ihre Adern rauschte, daß es in den Ohren schmerzte.
Ein Gedanke schlich sich in den schmerzenden Kopf, ein Gedanke, der süße Taubheit versprach und mit der Hoffnung auf Gefühllosigkeit lockte. Zögerlich griff sie nach ihm, ihn ängstlich und gierig betrachtend, wie ein Verdurstender ein Wasserloch voller Krokodile, drehte, wendete ihn vorsichtig, begrüßte die Vertrautheit, fürchtete die kranke Logik und die eisige Rationalität. Ein Schwächegefühl zwang sie in die Knie und sie krümmte sich auf dem schmutzigen Boden zusammen.
Selbsthaß formte sich zu einem Schrei in ihrem Bauch, quetschte sich durch den Brustkorb, zwängte sich den Hals empor und brach schließlich schmerzhaft aus ihr heraus. Laut und schrill schrie sie, brüllte, bis sie alle Luft aus ihren Lungen gepresst hatte und ihr Hals brannte. Sie wollte aufstehen, aber ihre Beine gaben nach, ein weiterer Schwindelanfall überkam sie, zwang sie, sich hinzulegen. Wie konnte ihr Herz nur weiterschlagen? Wie war es möglich, diesen Schmerz zu überleben, nicht an der Qual zu sterben?
Der Gedanke, verboten schillernd und Erleichterung versprechend, schwebte noch immer über ihr. Sie wußte, was danach kommen würde: Scham und Schuldgefühle und die Notwendigkeit, im Juli lange Ärmel zu tragen. Doch die Versuchung war zu groß, zu schwach ihr kleiner Wille.
Mühsam stemmte sie sich auf die Knie und kroch auf allen Vieren ins Badezimmer. Am Waschbecken zog sie sich hoch, ignorierte den Schwindel, der alles schwarz färbte und kleine bunte Pünktchen vor ihren Augen tanzen ließ. Es ging vorüber, ohne daß sie ohnmächtig wurde und sie öffnete die Schublade des kleinen Spiegelschränkchens. Der kleine Plastikbehälter, die Schere, eine Mullbinde und eine Rolle Toilettenpapier. Zitternde Hände, so schwach, daß sie die Sachen kaum halten konnten.
Im Wohnzimmer setzte sie auf den Boden und breitete die Gegenstände sorgfältig vor sich aus. Sie rollte ein langes Stück des Toilettenpapiers ab, drapierte es auf dem Boden, stemmte mit der Schere eine der Wechselklingen aus dem Plastikbehälter und nestelte die beiden schmalen Metallstreifen aus der Plastikummantelung. Einen legte sie behutsam auf das Toilettenpapier, den anderen nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Der Gefühlssturm in ihrem Kopf wütete wie ein Orkan, als sie die Rasierklinge auf ihrem Unterarm aufsetzte. Mit wenig Druck ließ sie sie über die Haut gleiten und beobachtete die feinen Blutstropfen, die sich entlang des kleinen Schnittes bildeten. Mit dem Blut kam erlösende Taubheit. Während sie immer wieder langsam in ihren Arm schnitt, wichen Qual und Schmerz in ihrem Inneren allmählich dem Nichts, machten Platz für Leere. Warmes Blut tropfte auf das Toilettenpapier, wo es bizarr-schöne Blütenmuster bildete. Der Schmerz, nun pochend an ihrem Arm, gab ihr das Gefühl wieder, zu leben und war um so vieles leichter zu ertragen als der, der sie von innen auffraß. Als die erste Klinge stumpf wurde, schnitt sie mit der anderen weiter.
Ihr Unterarm, völlig blutverschmiert, war nun übersät von kurzen und langen, tiefen und oberflächlichen Schnitten. Tiefe Erschöpfung legte sich über sie wie ein dicker Mantel. Sie legte die Rasierklinge weg und fing langsam an, die Mullbinde um ihren Arm zu wickeln, wohl wissend, daß die Wunden morgen völlig mit ihr verklebt sein würden, doch müde war sie, so müde und wollte das Sofa nicht mit ihrem Blut beschmutzen. Auf allen Vieren kroch sie hin, zog sich mühsam hoch und ließ sich erschöpft auf die Polster fallen.
Dann schloß sie die Augen, mit dem angenehm bodenlosen Gefühl, Karussell zu fahren und lauschte tief in sich hinein, doch da war nichts mehr, nur Scham und das gleichmäßige, laute Pochen ihres Herzens.