Was ist neu

Borderland

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02.11.2001
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Borderland

Keine Tränen mehr. Nichts, um den Schmerz in ihr zu dämpfen, diesen unerträglichen Schmerz, der ihr den Hals zuschnürte, bis sie glaubte, ersticken zu müssen. Quälende Gedanken, die ihr fast den Kopf sprengten, sich aufblähten, bis sie kaum noch unterscheiden konnte zwischen Realität und Wahnvorstellung. Wie besessen lief sie in der Wohnung auf und ab, schlug mit Armen und Beinen gegen Türrahmen und Tischkanten. Blaue Flecken, morgen. Blinde, nackte Panik, die sie in immer tiefere Abgründe schleuderte. Kalt und hart ihr Herz, ein kleiner Klumpen aus Eis, der wie ein Fremdkörper gegen ihre Rippen hämmerte, Blut, das so laut durch ihre Adern rauschte, daß es in den Ohren schmerzte.
Ein Gedanke schlich sich in den schmerzenden Kopf, ein Gedanke, der süße Taubheit versprach und mit der Hoffnung auf Gefühllosigkeit lockte. Zögerlich griff sie nach ihm, ihn ängstlich und gierig betrachtend, wie ein Verdurstender ein Wasserloch voller Krokodile, drehte, wendete ihn vorsichtig, begrüßte die Vertrautheit, fürchtete die kranke Logik und die eisige Rationalität. Ein Schwächegefühl zwang sie in die Knie und sie krümmte sich auf dem schmutzigen Boden zusammen.
Selbsthaß formte sich zu einem Schrei in ihrem Bauch, quetschte sich durch den Brustkorb, zwängte sich den Hals empor und brach schließlich schmerzhaft aus ihr heraus. Laut und schrill schrie sie, brüllte, bis sie alle Luft aus ihren Lungen gepresst hatte und ihr Hals brannte. Sie wollte aufstehen, aber ihre Beine gaben nach, ein weiterer Schwindelanfall überkam sie, zwang sie, sich hinzulegen. Wie konnte ihr Herz nur weiterschlagen? Wie war es möglich, diesen Schmerz zu überleben, nicht an der Qual zu sterben?
Der Gedanke, verboten schillernd und Erleichterung versprechend, schwebte noch immer über ihr. Sie wußte, was danach kommen würde: Scham und Schuldgefühle und die Notwendigkeit, im Juli lange Ärmel zu tragen. Doch die Versuchung war zu groß, zu schwach ihr kleiner Wille.
Mühsam stemmte sie sich auf die Knie und kroch auf allen Vieren ins Badezimmer. Am Waschbecken zog sie sich hoch, ignorierte den Schwindel, der alles schwarz färbte und kleine bunte Pünktchen vor ihren Augen tanzen ließ. Es ging vorüber, ohne daß sie ohnmächtig wurde und sie öffnete die Schublade des kleinen Spiegelschränkchens. Der kleine Plastikbehälter, die Schere, eine Mullbinde und eine Rolle Toilettenpapier. Zitternde Hände, so schwach, daß sie die Sachen kaum halten konnten.
Im Wohnzimmer setzte sie auf den Boden und breitete die Gegenstände sorgfältig vor sich aus. Sie rollte ein langes Stück des Toilettenpapiers ab, drapierte es auf dem Boden, stemmte mit der Schere eine der Wechselklingen aus dem Plastikbehälter und nestelte die beiden schmalen Metallstreifen aus der Plastikummantelung. Einen legte sie behutsam auf das Toilettenpapier, den anderen nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Der Gefühlssturm in ihrem Kopf wütete wie ein Orkan, als sie die Rasierklinge auf ihrem Unterarm aufsetzte. Mit wenig Druck ließ sie sie über die Haut gleiten und beobachtete die feinen Blutstropfen, die sich entlang des kleinen Schnittes bildeten. Mit dem Blut kam erlösende Taubheit. Während sie immer wieder langsam in ihren Arm schnitt, wichen Qual und Schmerz in ihrem Inneren allmählich dem Nichts, machten Platz für Leere. Warmes Blut tropfte auf das Toilettenpapier, wo es bizarr-schöne Blütenmuster bildete. Der Schmerz, nun pochend an ihrem Arm, gab ihr das Gefühl wieder, zu leben und war um so vieles leichter zu ertragen als der, der sie von innen auffraß. Als die erste Klinge stumpf wurde, schnitt sie mit der anderen weiter.
Ihr Unterarm, völlig blutverschmiert, war nun übersät von kurzen und langen, tiefen und oberflächlichen Schnitten. Tiefe Erschöpfung legte sich über sie wie ein dicker Mantel. Sie legte die Rasierklinge weg und fing langsam an, die Mullbinde um ihren Arm zu wickeln, wohl wissend, daß die Wunden morgen völlig mit ihr verklebt sein würden, doch müde war sie, so müde und wollte das Sofa nicht mit ihrem Blut beschmutzen. Auf allen Vieren kroch sie hin, zog sich mühsam hoch und ließ sich erschöpft auf die Polster fallen.
Dann schloß sie die Augen, mit dem angenehm bodenlosen Gefühl, Karussell zu fahren und lauschte tief in sich hinein, doch da war nichts mehr, nur Scham und das gleichmäßige, laute Pochen ihres Herzens.

 

Liebe Sav!

Du verstehst es einmalig, in wirklich kurzen Geschichten sehr viel zu erzählen - mit allem drin & dran, was dazugehört!

* :thumbsup: * :thumbsup: * :thumbsup: * :thumbsup: * :thumbsup:

Alles liebe
Susi

 

Hi,

ganz gut geschrieben, auch wenn ich die Geschichte nicht nachvollziehen kann. Ich hätte mir vielleicht noch eine Erklärung gewünscht warum sie sich schneidet. Letztenendes sehr nett, aber für meinen Geschmack ist das Thema etwas zu abgedroschen.

Gruß Nighty

 

Hallo Sav,

habe ja richtig Herzklopfen beim lesen bekommen.
Ich kenne einen Menschen der in seinen Angstzuständen genau
so handelt wie Du es beschrieben hast.
@ Nightboat,
wie kannst Du eine Geschichte abgedroschen finden, wenn Du sie nicht nachvollziehen kannst?
:eek:

Gruß,
Carmen

 

Hallo Kleines,

was soll ich sagen? Hervorragend geschrieben.
Klasse, wie du die Verzweiflung der Protagonistin dargestellt hast.

Das Thema find ich überhaupt nicht abgedroschen. Kann mich nicht entsinnen, jemals eine Geschichte zu dem Thema gelesen zu haben.
Es ist so traurig, dass es viele Menschen gibt, die so mit ihren Problemen umgehen. Indem sie sich selbstzerstückeln.
Das hast du auch ganz gut rübergebracht.
Ich denke nur, dass jemand, der davon noch nie was gehört hat, kann damit nicht viel anfangen, weil das Warum nicht deutlich genug durchkommt.
Aber ansonsten hast du alles sehr eindrücklich beschrieben. Ich hab echt eine Gänsehaut bekommen.
Super Geschichte, super Umsetzung, super Thema.

So, das reicht, sonst hebste noch ab :D

Gruß, Pan

 

Jo, Raven.
Kann mich nur anschließen. Super Erzählstil. :thumbsup:
Das Thema kommt mir auch nicht so bekannt vor. Selbstmord-Stories werden langsam abgegriffen, aber sowelche nicht. Obwohl glaube ich,
sowas auch schon mal gelesen zu haben. Eigentlich kann man gar nicht sagen, was wirklich neu ist, und was nicht. Alles kommt einem irgendwie bekannt vor. (Geht mir jedenfalls so.)

Als die erste Klinge stumpf wurde, schnitt sie mit der anderen weiter.

Kann von sowas einer Rasierklinge stumpf werden? ´

 

@Uffi Das hab ich mich auch gefragt, allerdings, kenne ich niemanden, der Vergleichbares praktiziert hat und ich selbst habe nicht das Bedürfnis es auszuprobieren. ;)

Nun zu dir Sav

Ich kann mich eigentlich nur den positiven Kritiken anschließen. Ich frage mich, wie man diese Geschichte abgedroschen finden kann. Am Anfang habe ich nicht ganz verstanden, warum sie sich denn nun den ganzen Arm aufschneidet (ich tippte zunächst auf einen Selbstmordversuch, daher: geschickt getäuscht :thumbsup: ). Ich hab überlegt ob das nicht vielleicht deutlicher werden müsste, nun, ich glaube es ist nicht umbedingt notwendig.

Tja und dann wollte ich noch die vielzähligen Metaphern erwähnen "lob, lob*. Der Leser kriegt die verzweifelte Situation der Protagonistin bildhaft mitgeteilt, so dass ihre Lage einfacher vorzustellen und auch nachzufühlen ist.

Mach weiter so

Gin

 

Hallo!

Auch mir hat die Geschichte sehr gut gefallen, aber vielleicht auf andere Art und Weise. Ich verstehe die Protagonistin einfach, ich habe so etwas zwar noch nicht erlebt, aber da ist irgendetwas in mir drin, dass sich dem verbunden fühlt. Ach, ich weiß auch nicht, auf alle Fälle bin ich nach dem Lesen nicht glücklciher, vielleicht hörst du das gerne...

Und mal kurz zu dem Titel: Von der Borderline-Krankheit habe ich noch nie gehört (zumindest nicht diesen Namen), von daher dachte ich erst an die deutsche Übersetzung. DAs trifft es, wenn sich mir dann auch sofort die Frage aufgedrängt hätte, warum hier schon wieder in Englisch gesprochen wird...
Vielleicht ist auch dies ein passender Titel:

Blaue Flecken, morgen

Natürlich rein sinnbildlich.

Gruß,
kc

 

Hallo,

der Titel ist ein Wortspiel, es geht tatsächlich um das Borderline-Syndrom und "Grenzland" trifft m.E. ins Schwarze.

Ich selbst habe noch keine Geschichte über dieses Thema gelesen. Tatsächlich ist selbstverletzendes Verhalten in dieser Art aber gar nicht so selten, wie man denken (und hoffen) könnte. Die Betroffenen können es im allgemeinen nur gut kaschieren und die Umwelt kann sich so etwas meistens einfach nicht vorstellen glaubt nur zu gern irgendwelchen Ausreden.
Ich denke, es ist mir nicht wirklich gelungen begreiflich zu machen, wie und warum es dazu kommt und welche (scheinbare) Erleichterung es für Menschen in so einer Ausnahmesituation bedeutet. Schade, vielleicht sollte ich die Geschichte nochmal überarbeiten, denn genau das war eigentlich mein Anliegen.

Danke Euch allen für die Kritiken, hab mich sehr gefreut. :)

Küßchen,

Sav

 

Hallo!

Ich glaube Menschen, die so etwas tun, sind psychisch krank. (Das Borderline-Syndrom ist, soweit ich weiß, eine krankhafte Persönlichkeitsstörung.)

Falsch! Ich glaube, der Typ Mensch, der in "Borderland" beschrieben wird, ist, tja, überaus menschlich, soll heißen: Gefühle wie Selbsthass, Panik und die Verlockung einer schnellen, kurzweiligen Linderung stecken in sehr, sehr vielen Menschen, das kann auch schon aus Langeweile entstehen, gerade in der Pubertät. Das ist ja das, was mich an der Geschichte so erschreckt hat. Es ist alltäglich und irgendwie ganz nah, und es wird mit einer Krankheit umschrieben.
Ob die Geschichte zur Nachahmung anregt, ist eine berechtigte Frage, wie man da pädagogisch gesehen rangeht, ist sehr schwer. Man kann ja nicht immer alle verteufeln, das erweckt kein Vertrauen oder Verständnis und so denke ich, dass diese Art von Erzählung sehr wichtig ist. Es ist besser, auf sein Problem angesprochen zu werden, als sich selbst als Täter betrachtet zu erleben, findet ihr nicht?

Gruß,
kc

 

Krass, jetzt haben auch schon Krankheiten ihre eigenen Homepages...

So in etwa meinte ich das auch. Und der Griff zur Klinge o.ä. liegt nahe, oder? Das ist kein großer Schritt, möchte ich behaupten.

kc

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich denke, man darf das nicht verwechseln: Wenn Jugendliche !in der Gruppe! sich aus was für Gründen auch immer verletzen, um mutig dazustehen, ist das was anderes, nicht das Borderline-Syndrom.

Aber in allen anderen Fällen ist es nicht aus Fadheit oder ähnlichem. Wie vieles, geht auch das auf die Kindheit zurück.

Betroffene, die sich damit bereits therapeutisch auseinandersetzen, haben in einem Forum berichtet:

Sie hatten alle eine nicht-so-schlimme oder sogar "wohlbehütete" Kindheit. Insgesamt wurden sie praktisch nie geschlagen.
Trotzdem verlief die Kindheit nicht so rosig, denn sie waren Psychischen Erniedrigungen usw. ausgesetzt gewesen.

Diese haben nie körperlich weh getan und irgendwie soll das dann helfen, den seelischen Schmerz besser zu ertragen bzw. ihn überhaupt erst als Schmerz annehmen zu können - mit dem körperlichen Schmerz.
Eine von ihnen hat mir einmal geschrieben - das ist glaub ich ganz aufschlußreich - daß sie richtig eifersüchtig ist auf die körperlichen Qualen, die ich "erleben durfte", weil ich damit viel mehr anfangen kann.....

Alles liebe
Susi

 

Halllo!

Ich meinte auch keinesfalls das "Gruppenverhalten", schlichtweg aus Langeweile. Aber wenn Teenager nicht ausgelastet sind, d.h. wenn sie sich in irgendeiner Form unterfordert fühlen, können sie sich auch zu viele Gedanken machen, was auch zu solch selbstzerstörerischen Handlungen führen kann, wenn sie sich selbst für ihre Lage verantwortlich machen.

aber es stimmt schon, dass Faktoren wie Kindheit u.ä. eine wesentliche Rolle spielen.

Gruß,
kc

 

Ich hab mich ein klein wenig geärgert, daß Ihr euch hier so auf dem Borderline-Syndrom festgebissen habt.
Ja, es gibt durchaus Leute, die sich aus anderen Gründen verletzen, soll heißen: Selbstverstümmelung ist kein untrügliches Indiz für eine Borderline-Störung. Umgekehrt schneidet sich auch nicht jeder Borderliner oder rennt mit dem Kopf gegen die Wand. Die extremen Gefühlszustände und die innere Leere werden aber, wie ich annehme, so ziemlich alle "Bordies" nachvollziehen können.

Ich muß Kris recht geben, (oh nein! :D ) das Borderline-Syndrom ist eine schwerwiegende psychische Erkrankung, auch wenn man sich als "gesunder" Mensch vielleicht teilweise in die beschriebene Situation hineinversetzen kann. Gelegentliche depressive Phasen lassen sich ja auch nicht mit einer schweren chronischen Depression vergleichen.

@Gerard
Ich halte es durchaus für möglich, daß eine Nachahmungsgefahr besteht, ebenso wie bspw. bei einer Geschichte über Bulimie. Ich habe mir beim Schreiben tatsächlich keinerlei Gedanken darüber gemacht, aber Dein Kommentar hat mich nachdenklich gemacht. Dennoch denke ich, daß es wichtig ist, auch solche Dinge den Menschen nahezubringen. Schließlich geht es ja nicht nur um das Schneiden an sich, sondern vor allem um die psychische Extremsituation, die dahinter steht.

Danke allen fürs Lesen und Kommentieren.

Liebe Grüße, Sav

 

Zur Geschichte: Ich finde, Dir ist es sehr, sehr gut gelungen, das Borderline-Syndrom aufzuzeigen. Ich habe eine Freundin, die daran leidet (inzwischen hat sie den größten Teil wohl hinter sich) und habe in Deiner Geschichte vieles von dem, was sie erzählt hat, wiedergefunden. Vor allem die Tatsache, dass der Schmerz dazu dient, sich selbst spüren zu können, ist ein existenzieller Bestandteil dieser Störung und kommt meiner Meinung nach in Deiner Geschichte gut rüber.

Ich denke nicht, dass diese Geschichte zur Nachahmung anregt - trotz heftiger Pubertätskrisen schüttelt es mich bei dem Gedanken daran, mich selber bis aufs Blut zu verletzen!

Wie auch immer: Deine Geschichte halte ich für sehr gut be- und geschrieben!

Lieben Gruß

chaosqueen :queen:

 

hi raven!

tja, was heißt "mir gefällt deine geschichte".
leider mußte ich so eine situation schon eimal miterleben. es ist nicht einfach, wenn man plötzlich einer sehr guten freundin dabei zusieht.
ja, sie hat es in aller öffentlichkeit getan und ich konnte es damals nicht nachvollziehen, hatte angst davor, hab mich davor verschlossen.
erst nach einiger zeit konnte ich sie darauf ansprechen.
nach mehreren langen gesprächen mit ihr versuchte ich zu verstehen, was ich gesehen hatte.
ich glaube, es ist mir nur ansatzweise gelungen.
ich weiß nicht, ob es nur einsamkeit ist, vielleicht auch das nicht verstanden werden, keine anerkennung von anderen, der drang, sich selbst etwas zu beweisen und dadurch sich befriedigung zu verschaffen.

tut mir leid, mehr kann und will ich dazu nicht sagen.

gruß, scarlett

 

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